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Das „Böse“ in der Gesellschaft
Auf der Wutwelle

Ein Demonstrant auf einer Versammlung in Bratislave am 3. März 2023
Ein Demonstrant auf einer Versammlung in Bratislave am 3. März 2023 | Foto: © SME | Marko Erd

Bei gewalttätigen Demonstrationen entlädt sich oft Wut in der Gesellschaft, deren Vorboten und Anzeichen deutlich sichtbar waren, jedoch von uns ignoriert wurden.

Von Andrej Bán

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Dieser Text erschien zuerst in JÁDU, dem deutsch-tschechisch-slowakisch-ukrainischen Onlinemagazin des Goethe-Instituts.

Derzeit ist ein interessantes, viel diskutiertes aber wenig erforschtes Phänomen zu beobachten: Eine stetig wachsende Wut, die durch solche Politiker*innen, die die Grundlagen des Gesellschaftsvertrags bedrohen, genährt und in gewissem Maße auch provoziert wird. Freie Wahlen, ein grundlegendes Merkmal der liberalen Demokratie, haben in letzter Zeit selbst in Europa und den Vereinigten Staaten Personen mit einem sehr starken Mandat an die Macht gebracht, die gleichzeitig sowohl den Willen als auch die Fähigkeit haben, die Demokratie zu untergraben. Man kann sagen, dass diese Politiker*innen geschickt „auf der Welle der Wut surfen“.

Wo liegen die Ursachen für das Anwachsen dieser destruktiven Wut, selbst in wohlhabenden Gesellschaften, die zudem seit Generationen keinen Krieg mehr erlebt haben? Ein Großteil der Verantwortung ist dem „Dschungel“ des Internets und insbesondere der sozialen Netzwerke zuzuschreiben.

Am Anfang stand der Angriff auf das Kapitol

Die Gewalt aus den zweidimensionalen sozialen Netzwerken schwappt zunehmend auch in die dreidimensionale Welt über. Ein eindrucksvolles Beispiel für ein solches Ereignis war der Angriff auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 durch einen rasenden Mob. Es war die bisher bedeutendste Manifestation dieses Phänomens, bei dem das Facebook- und Twitter-„Volk“, in Gestalt von bis dahin scheinbar nur virtuell existierenden fanatischen Anhänger*innen von Präsident Donald Trump im realen Heiligtum des verhassten Feindes auftauchte.

Die Demonstrant*innen stürmten das Kapitol in der Überzeugung, „Gutes zu tun“, als würden sie eine Art mythisches Mordor, den Sitz des dunklen Herrschers Sauron, besetzen. Verleitet wurden sie dazu durch unzählige, einander immer wieder bestätigende und sich gegenseitig verstärkende Überzeugungen in geschlossenen Meinungsblasen, deren Manifestation von den Algorithmen der sozialen Netzwerke unterstützt wird.

Das Orwellsche Ministerium für Liebe, dessen Aufgabe es war, Menschen für den Frieden in den Krieg zu schicken, wird in der Welt der sozialen Netzwerke nicht mehr gebraucht.

Der Angriff auf das Kapitol war eindeutig ein Symptom für die wachsende Wut in der hochentwickelten Welt. Der Soziologe Zygmunt Bauman, einer der wichtigsten Denker der jüngeren Zeit, sah dies vor seinem Tod im Jahr 2017 voraus und nun wird es vollends offenbar. Liquid evil, das flüssige Böse, wie Baumann es nannte, kann seiner Ansicht nach vortäuschen, ein hilfreicher Freund und kein Feind zu sein. Es muss also als eine „weiche Macht“ betrachtet werden, die im Gegensatz zu den „harten“ Mächten nicht Unterdrückung, sondern Verführung als ihre grundlegende Strategie ansieht.

Das flüssige Böse steht auch in engem Zusammenhang mit Technologien, die hilfreich für uns, also „freundlich“ sein sollen, oft erfahren wir jedoch durch diese Plattformen Unterdrückung oder zumindest unangemessene Kontrolle. Das Orwellsche Ministerium für Liebe, dessen Aufgabe es war, Menschen für den Frieden in den Krieg zu schicken, ihnen die Liebe zum Big Brother aufzuzwingen und scheinbare freundschaftliche Hilfe anzubieten, wird in der Welt des Internets und der sozialen Netzwerke nicht mehr gebraucht. Die unterschiedlichen Überwachungsmethoden über unsere Smartphones, Kreditkarten, E-Mails und Google-Suchen haben Kapazitäten, die sich Geheimdienste (und Big Brother) bis dato nie hätten vorstellen können.

Wie alle Flüssigkeiten besitzt das flüssige Böse die erstaunliche Fähigkeit, sämtliche Hindernisse zu umgehen. Es fließt um sie herum, sickert in sie hinein, stört sie und löst sie auf. Das daraus resultierende „Gemisch“ nimmt das flüssige Böse in sein Wesen auf und stärkt sich somit selbst. Das flüssige Böse ist nicht offensichtlich. Jahrhundertelang war es der Teufel, der sowohl das Symbol als auch die Personifizierung des Bösen darstellte, sei es in Form von Mephistopheles in der Faust-Sage oder in der Figur des Woland in Bulgakows Roman Meister und Margarita. Dieser Teufel verkörperte das feste Böse, das durch seine symbolische Logik die Seelen der Menschen gewann.

Das feste Böse – im Gegensatz zum heutigen flüssigen Bösen – war eine Art amoralisch begangenes und aktiv betriebenes Böses, welchem das ernsthafte Versprechen innewohnte, dass mit dem Ende unseres Weltzeitalters auch die soziale Ordnung und Gleichheit wiederhergestellt werden würden. Satan war der Protagonist der Rebellion und Revolution. Im Gegensatz dazu versuchen die Helden des flüssigen Bösen, die Menschheit ihrer Träume, alternativen Projekte und Widerstandskräfte zu berauben. Dadurch werden sie zu Protagonisten des Gehorsams und der Unterwerfung. Der Held des flüssigen Bösen ist der Verführer, der Leere, Desillusionierung oder den Tod hinterlässt.

Wo ist der „gute alte“ Teufel?

Ende des 19. Jahrhunderts schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Gott ist tot, und ihr habt ihn getötet, ihr habt ihn in eure Tempel geführt.“ Der Autor von Der Antichrist bestätigte damit die Polarität der bisher bekannten und grausamen Welt. Gott konnte nur deshalb tot sein, weil es ihn vorher gegeben hatte. Heute, mehr als ein Jahrhundert später, gibt es nicht einmal mehr den „guten alten“ Teufel.

Aus den Löchern des Privaten, aus ihren Monitoren und Smartphones, sind die Vertreter*innen des flüssigen Bösen für einen Moment medialen Ruhms herausgeklettert und haben sich in die Kräfte des festen Bösen verwandelt.

Beim Sturm auf das Kapitol in den USA, später aber auch in europäischen Ländern bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen oder gegen die Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine, explodierte die Wut, deren Vorboten und Anzeichen deutlich sichtbar waren, die wir aber einfach ignoriert haben. Es handelt sich um einen Konflikt der Welten: Aus den Löchern des Privaten, aus ihren Monitoren und Smartphones, sind die Vertreter*innen des flüssigen Bösen, wie Bauman schreibt, für einen Moment medialen Ruhms herausgeklettert und haben sich in die Kräfte des festen Bösen verwandelt.

Eine Metapher für das uralte Dilemma, was zuerst da war, die Henne oder das Ei, könnte die Frage sein, was zuerst da ist, die Wut der Bürger*innen, die ihren Messias finden, oder ob diese*r falsche Prophet*in die Gemeinschaft seiner fanatischen – und wütenden – Anhänger*innen erst schaffen wird. Beides ist richtig. Frustrierte Menschen „kanalisieren“ ihre Emotionen durch Wahlen, bei denen sie eine*n Anführer*in suchen, und gleichzeitig appellieren die sich zur Wahl stellenden Kandidat*innen an die niedersten Instinkte und Emotionen der Wählerschaft. In einer solchen Politik gelten Regeln, die denen einer religiösen Sekte ähneln.

Das Tragische ist, dass in der Politik, aber auch in verschiedenen anderen Führungspositionen oft erfolgreiche Personen mit Persönlichkeitsstörungen vertreten sind, nicht selten handelt es sich um Narzissten. Wenn jemand konsequent gegen soziale Normen verstößt und nicht krank oder drogenabhängig ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person psychopathisch veranlagt ist. Und wenn er oder sie zurechnungsfähig ist, ist er oder sie für seine Handlungen verantwortlich.

Expert*innen benennen als die drei Pfeiler einer psychopathischen Persönlichkeit den Verlust von Hemmungen in Verbindung mit schlechter Impulskontrolle, Perfidie und emotionale Kälte. Die primären psychopathischen Züge sind gekennzeichnet durch Furchtlosigkeit, ein hohes Maß an sozialer Dominanz, Impulsivität und eine hohe Selbsteinschätzung.

Der Schlüsselbegriff ist die Macht. Sie offenbart, was in jemandem steckt. Und das Wichtigste ist, dass das Gefühl von Macht Menschen verändert. Im Jahr 1887 schrieb der englische Historiker John Dalberg-Acton einen Satz, der unter politischen Analyst*innen fast überall bekannt wurde: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.“ Daher muss es in der Gesellschaft ein System zur Kontrolle und zum Ausgleich geben, das verhindert, dass Macht außer Kontrolle gerät. Wenn dieses System versagt, wird die Wut die Gesellschaft zersetzen.

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