Das Gebäude der Gesellschaft
Das Gebäude der Gesellschaft
Freiheit kann auf viele Arten und in einer Vielzahl von Kontexten interpretiert werden. In ihrer einfachsten Definition ist Freiheit die Abwesenheit von Repression. Diese kann physisch, kollektiv, psychologisch usw. sein. Ich möchte mich darauf konzentrieren, wie ich Freiheit und ihre Abwesenheit als Bürgerin Mazedoniens wahrnehme.
Für mich ist Freiheit innerhalb einer Gesellschaft eine kollektive Alltagserfahrung. Wir ermöglichen oder verunmöglichen einander die Freiheit. Die einzige Grenze der Freiheit in jeder Gesellschaft ist die Beschränkung durch den Grundsatz, niemandem Schaden zuzufügen. Freiheit, kollektive Freiheit zu haben und frei zu sein, bedeutet für mich die Verfügbarkeit von Raum und Möglichkeiten, um die eigenen Wünsche zu erfüllen, und dass wir alle das Gefühl haben, frei zu sein, Menschen zu sein. Was meine ich damit? Um frei zu sein, um ein Mensch zu sein, ist es wichtig, dass jeder Einzelne, jede Bürgerin und jeder Bürger sich sicher fühlen kann, dass ihm/ihr die Freiheit nicht willkürlich weggenommen wird (hier spielt die Justiz eine wichtige Rolle), dass alle gleiche Chancen haben (hier spielt die Politik eine wichtige Rolle), dass alle die Freiheit haben, sich ohne Angst auszudrücken (ich meine nicht nur den Kontext der Redefreiheit, sondern, im weitesten Sinne, des Lebensstils; hier spielen wir alle eine wichtige Rolle). Um Freiheit zu haben, müssen alle diese Komponenten im Gleichklang sein.
In den letzten Jahren haben sich in Mazedonien durch die sozialen Bewegungen wichtige Veränderungen vollzogen, die den Bürgern eine neue Stimme verliehen. Die sozialen Bewegungen, die Proteste und die Plenarsitzungen brachten neue Methoden der Auseinandersetzung und der öffentlichen Äußerung politischer Überzeugungen mit sich. Wenn man die Beweggründe der sozialen Bewegungen betrachtet, spielen die drei Säulen der Freiheit, die ich oben erwähnt habe, eine wichtige Rolle. Es war die Abwesenheit von Freiheit oder ihre Dysfunktionalität, die viele Bürgerinnen und Bürger zur Revolte führte. Das Gefühl der Sicherheit war bedroht, weil das Justizwesen faktisch von der Partei durchdrungen war, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit willkürlicher Handlungen erhöhte. Das Gefühl der Chancengleichheit war verloren, weil die Chancen nicht von Verdienst, harter Arbeit, Motivation oder Ehrgeiz, sondern von Parteizugehörigkeit und anderen unsachgemäßen Faktoren abhingen. Schließlich war das Gefühl der Ausdrucksfreiheit auf diejenigen Meinungen beschränkt, die den Machthabern genehm waren. In einer Kolumne hatte ich Skopje die Stadt des Flüsterns genannt, gerade weil die Meinungen, die nicht erwünscht waren, zum Verstummen gebracht wurden. Äußerungen von Hass und Freiheitsbegrenzung hingegen wurden ermutigt und bestehen noch immer... In diesem gesellschaftlichen Klima zeigten die sozialen Bewegungen mit ihren kräftigen Farben, kühnen Aussagen und mutigen Methoden eine Alternative für die Entwicklung der mazedonischen Gesellschaft auf. Sie erhoben ihre Stimme, leisteten Widerstand gegen Missbräuche im Justizsystem und brachten Ausdrucksformen hervor, die Mazedonien zuvor nicht gesehen hatte. Die Vision, die sie darstellten, war jedoch nicht vollständig. Obwohl die sozialen Bewegungen und verschiedenen Proteste in ganz Mazedonien wichtig waren für die Schaffung positiver Narrative, für den Aufbau einer kritischen und aktiven Masse, für eine Veränderung der Streitkultur, kamen sie auch an ihre Grenzen, und die werden jetzt sichtbar. Die Proteste zeigten neue Facetten einer multiethnischen und gleichberechtigten Gesellschaft, aber um die interethnischen Beziehungen zu ändern, reicht der gemeinsame Widerstand nicht aus: es muss auch Veränderungen geben, insbesondere was die drei Säulen der Freiheit betrifft. Um Veränderungen zu erreichen, ist eine gemeinsame Debatte notwendig, die sich auf die Punkte konzentriert, an denen Missverständnisse auftreten. Ich beginne meine Analyse der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in Mazedonien mit den Protesten und sozialen Bewegungen, weil sie einen Schritt in Richtung Erweiterung der Rechte und Freiheiten darstellten. Dass sie ihre Ziele jedoch nur teilweise erreichen konnten, zeigt sich in den jüngsten Debatten und lässt auf gravierende Lücken im Verständnis von Recht, Gleichberechtigung und Ausdrucksfreiheit schließen.
Die Studentenproteste, die "Ich protestiere"-Bewegung, die Bunte Revolution und auch die kleineren Proteste im ganzen Land beinhalteten vielerlei Elemente. Sie brachten unterschiedliche Menschen in ihrem Ausdruck der Unzufriedenheit zusammen, in ihrer Artikulation der Notwendigkeit, neue Erwartungen an den Staat zu formulieren, unter denen Gerechtigkeit, Gleichheit und Verantwortlichkeit entscheidend waren. Es gelang ihnen auch, verschiedene Gruppen zu mobilisieren, über alle ethnisch, ideologisch oder sexuell definierten Vorzeichen hinweg. So klar das Ziel war, die Regierung und ihr System zu stürzen, so wenig Klarheit herrschte über alles weitere. Ich denke, obwohl wir begonnen hatten, kritischer über Gerechtigkeit, Gleichheit und Ausdrucksfreiheit nachzudenken, wurden diese Begriffe nie klar definiert. Nehmen wir zum Beispiel das Konzept der gleichen Rechte für alle. Wer sind "alle"? Die Antwort ist nicht so eindeutig wie wir denken mögen. In den meisten Protesten wurde der Begriff "alle" in den Kontext der Machtposition gesetzt, in dem Sinne, dass ein Politiker und ein gewöhnlicher Bürger vor dem Gesetz gleich sein sollten. Für einige hingegen war der ethnische Kontext ebenso wichtig: Gleichheit vor dem Gesetz sollte für alle Bürger Mazedoniens gelten, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Auch das Geschlecht ist ein wichtiger Aspekt, der aber oft vergessen wird, wenn es um gleiche Rechte geht. Während die meisten Protestierenden die Ansicht über die Machtposition teilten, hatten nicht alle den weiteren Kontext im Blick. Warum?
Um diesen Unterschied erklären zu können, muss man die Komplexität der Aussage "wir sind alle gleich" verstehen. Angesichts unserer vielfältigen Gesellschaft ist die ethnische Komponente der Gleichheit ein wichtiger Aspekt, anhand dessen wir die Aussage analysieren können. Das Konzept der Gleichheit in einer heterogenen Gesellschaft erfordert Überprüfung und Analyse, und wir müssen es kritisch betrachten. Was meinen wir wirklich mit "wir sind alle gleich"? Obwohl viele Bewegungen diesen Slogan benutzt haben – und es war ein vorwiegend positiver Slogan –, kann er auch Risiken in sich tragen. Das Hauptrisiko, das dieser Slogan in einer gespaltenen heterogenen Gesellschaft birgt, ist, von Aktivisten als Regenschirmbegriff benutzt zu werden. Wenn wir sagen, wir seien alle gleich, obwohl wir in Wirklichkeit nicht alle gleichberechtigt sind, laufen wir Gefahr nicht anzuerkennen, dass bestimmte Gruppen marginalisiert werden, und deshalb nicht auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Indem wir nicht anerkennen, dass wir nicht alle gleichberechtigt sind, obwohl wir es sein sollten, riskieren wir die zusätzliche Marginalisierung bestimmter Gemeinschaften, gerade weil wir ihre Ungleichbehandlung innerhalb eines gegebenen Systems nicht anerkennen. Während ich die Idee, dass wir alle gleich sein sollten, voll und ganz unterstütze, rufe ich dazu auf anzuerkennen, dass in einer heterogenen gespaltenen Gesellschaften nicht alle gleich sind, sondern unterschiedliche Bedürfnisse haben. Nur so können wir die entsprechenden Instrumente entwickeln, die es ermöglichen, eine gerechte Gesellschaft zu errichten.
Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Stellen sie sich vor: Aleksandar und Arta. Aleksandar befindet sich zuoberst im Gebäude der Gesellschaft, Arta hingegen irgendwo in einem der mittleren Stockwerke. Nun stellen Sie sich vor, dass sich sowohl Aleksandar als auch Arta gegen das System des Gebäudes der Gesellschaft und seine Regeln auflehnen, weil es ein exklusives Stockwerk gibt, zu dem weder Aleksandar noch Arta Zugang haben, wo sich nur sehr wenige privilegierte Personen aufhalten dürfen. Beide sind der Meinung, dass der Zugang zu dem exklusiven Stockwerk für alle offen und das System gerecht sein sollte. Sie sind sich einig, dass alle gleich sind und somit gleichberechtigt sein müssen. Als die Zeit gekommen ist, konkrete Vorschläge zu machen, schlagen Aleksandar und die anderen Menschen im obersten Stockwerk vor, einen Fahrstuhl einzubauen, der das oberste Stockwerk mit dem exklusiven Stockwerk verbindet, um den Zugang zu erleichtern. Wo aber bleibt Arta? Sie muss immer noch die Treppe benutzen, weil die Menschen im obersten Stockwerk nicht an einen Fahrstuhl gedacht hatten, der im Erdgeschoss beginnt. Arta aber hatte gedacht, "wir sind alle gleich" bedeute, dass alle gleichberechtigt offenen Zugang zum exklusiven Stockwerk erhalten müssen (das jetzt „Bürgerstockwerk“ heißt), und dass alle die gleichen Möglichkeit bekommen würden, in diesem Fall einen Fahrstuhl. Aleksandar jedoch, der sich bereits im obersten Stockwerk befand und Artas Bitte nicht hören kann, oder sich Artas Lage innerhalb des Gebäudes der Gesellschaft nicht bewusst ist, oder sich ihrer bewusst ist, aber glaubt, dass die Menschen in den unteren Stockwerken sich dort befinden, weil sie es verdienen, und dass sie nur Zugang bekommen werden, wenn sie es ins oberste Stockwerk schaffen, Aleksandar also denkt, dass "Gleichheit für alle" sich auf die Menschen im obersten und im exklusiven Stockwerk bezieht. Denn ein weiteres Problem mit dem Begriff der Gleichheit ist, dass er mit dem Gleichsein verschmilzt, das die Vielfalt und die Bedürfnisse, die sich daraus ergeben, zu beseitigen droht. So ist am Ende der Zugang für eine ausgewählte Gruppe von Menschen erleichtert, nicht aber für alle anderen, und die Ungleichheit bleibt bestehen. Der einzige Unterschied ist, dass jetzt theoretisch alle Zugang zum „Bürgerstockwerk“ haben könnten, für die einen ist dies aber viel leichter ist als für die anderen.
Lasst uns diese Logik nun auf die Gleichheit vor dem Gesetz anwenden. Ich glaube, dass diejenigen, die die Gleichheit vom Standpunkt der Machtposition aus betrachten, den weiteren Kontext nicht wahrnehmen, weil sie nicht wissen, dass auch eine andere Art der Diskriminierung besethet, die das Leben eines Menschen beeinflussen kann, zum Beispiel die ethnische oder Geschlechtszugehörigkeit betreffend. Die Gründe für dieses Unwissen können verschieden sein. Die Teilung der Medien und der Kommunikationsräume etc. spielt hier eine Rolle. Mit den Protesten und sozialen Bewegungen öffnete sich ein Fenster zum Verständnis des anderen, war ein Blick in die anderen Stockwerke des Gebäudes der Gesellschaft möglich, bot sich eine Gelegenheit zur Zusammenarbeit. Dieses Fenster wurde jedoch nicht angemessen genutzt, und einige Schlüsselfragen wurden nicht behandelt. Dies zeigte sich insbesondere während der jüngsten Debatte über das Sprachengesetz in Mazedonien im offenen Widerstand gegen die Idee von mehr Rechten für eine ethnische Minderheit. Die Tatsache, dass diejenigen, die gegen das Gesetz waren, den Aspekt der Ausweitung von Gleichheit und Freiheit nicht berücksichtigten, ist sehr besorgniserregend, weil sie zeigt, dass wichtige Akteure in der mazedonischen Gesellschaft, einschließlich Akademikerinnen, Intellektuelle, Politikerinnen und Aktivisten, diese Konzepte nicht verstehen. Die Debatte hat bewiesen, dass die Bedeutung des Gleichklangs der drei Säulen, die ich oben erwähnt habe (Sicherheit – Justiz; Chancengleichheit – Politik; Ausdrucksfreiheit – Gesellschaft), für die Erlangung von Freiheit in einer Gesellschaft nicht erkannt wird. Diese Säulen müssen für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten, sonst wird ihre Legitimität untergraben, ebenso wie die Freiheit. Wenn politische Entscheidungsträger, Akademikerinnen, Intellektuelle, Aktivistinnen und gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger dies nicht begreifen, können wir nicht davon ausgehen, dass sie sich wirklich für Gleichberechtigung und Freiheit einsetzen.
Mit den sozialen Bewegungen zeigte sich, wie der Raum der Freiheit in Mazedonien erweitert werden kann. Aus der Geschichte der sozialen Bewegungen geht hervor, dass jede Erweiterung eine nächste ermöglicht: logisch, denn mit dem Betreten eines jeden Stockwerks, das ein offeneres und freieres Leben bietet, wird das nächste Stockwerk sichtbar. Die Geschichte hat auch gezeigt, dass es keine Erweiterung der Freiheit gibt, die sich nicht den Privilegierten oder denjenigen, welche die Freiheit bereits erlangt haben, widersetzt. Aber die Geschichte hat ebenso gezeigt, dass eine Gesellschaft als Ganzes befreit werden kann, wenn diejenigen, die bereits gewisse Freiheiten haben, denjenigen helfen, die Zugang und Raum benötigen. Deshalb ist es wichtig, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger diesen Prinzipien verpflichtet fühlen und erkennen, dass es manchmal notwendig ist, zusätzliche Räume und Rechte für ausgegrenzte Gruppen zu schaffen, um Gleichheit für alle zu erreichen. Das bedeutet, dass der Fahrstuhl bis ins Erdgeschoss fahren und bei Bedarf zusätzliche Hilfen bieten muss (Beschriftungen in mehreren Sprache, Platz für Kinder, Unterstützung für Personen mit besonderen Bedürfnissen usw.), damit jeder das gleiche Ziel, das „Bürgerstockwerk“, erreichen kann: anders aber gleich. Dies alles gehört zum Begriff der Freiheit, weil sie ein kollektiver Prozess ist, der gerade von seiner Kollektivität lebt, ohne die es keinen Handlungsraum gäbe. Freiheit wird innerhalb einer Gesellschaft möglich, wenn wir sie einander ermöglichen. Im kollektiven Prozess müssen wir verstehen: die Freiheit des Anderen ist meine Freiheit.
Lura Polozhani