Kostenloser Nahverkehr in Tallinn
Eine gerechtere Mobilität
Luftverschmutzung durch Kraftfahrzeuge gehört zu den Hauptursachen des Klimawandels. Weltweit kämpfen Großstädte gegen das anhaltende Problem des übermäßigen Autoverkehrs. Tallinn in Estland übernimmt eine Vorreiterrolle.
Meine Heimatstadt Tallinn, in der etwa eine halbe Million Menschen leben, hat ihren Einwohner*innen als erste europäische Hauptstadt einen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zum Nulltarif zur Verfügung gestellt. Die Maßnahme wurde im Jahre 2013 auf Initiative der Regierungspartei eingeführt und stieß insbesondere bei der Opposition auf Kritik. Nachdem der Beschluss nun fast zehn Jahre zurückliegt, bietet es sich an, Bilanz zu ziehen. Hat der kostenfreie ÖPNV zu einem Rückgang des Individualverkehrs und damit zu einer saubereren Umwelt und zum Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit beigetragen? Um dies herauszufinden, traf ich einen Fachmann, den Verkehrsanalysten und -berater Hannes Luts. Auf meinem Weg zu unserem Termin fuhr ich zuerst mit der Straßenbahn und anschließend mit dem Bus. Beide Fahrzeuge waren schick, neu und sauber. Allerdings benötigte ich 45 Minuten für die Strecke, was für eine recht kleine Stadt wie Tallinn ziemlich viel ist, zumal ich mit dem Auto in 15 Minuten hätte dort sein können. Ich bin nicht zufrieden, und nach Angaben von Luts bin ich nicht die Einzige.
Starke Konkurrenz durch Car-Sharing
„Wenn wir uns die Statistiken für Tallinn anschauen, hat der Autoverkehr seit 2013 weiter zugenommen, und der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs ist gesunken. Natürlich belebt der kostenfreie ÖPNV die Nachfrage, doch er hat keine Auswirkungen auf den Verkehrsmix“, so Hannes Luts. Tatsächlich sind die Autos in vielen Städten noch immer schneller als der ÖPNV. Ihr Anteil am CO2-Ausstoß ist allerdings auch dreimal so hoch. „Um einen wirklichen Wandel herbeizuführen, müssen wir den ÖPNV attraktiver gestalten. Die Fahrgäste wollen überall in erster Linie so schnell wie möglich von A nach B kommen. Für mehr Geschwindigkeit müssen wir eigene Fahrbahnen für den ÖPNV einrichten. Solche Maßnahmen sind sehr kostspielig, und ohne Einnahmen aus dem ÖPNV fehlen der Stadt dafür die nötigen Mittel.“Was die Statistiken anbelangt, hat Luts Recht. In Tallinn nimmt die Zahl der Kraftfahrzeuge jährlich um fünf Prozent zu. Allerdings entscheidet sich in Tallinn noch immer eine etwas größere Zahl von Einwohner*innen für den ÖPNV anstatt für das Auto. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass der ÖPNV mit den Jahren eine starke Konkurrenz durch leicht zu nutzende und relativ günstige Ride- und Car-Sharing-Angebote sowie E-Scooter und E-Bikes erhalten hat. Doch nach Meinung von Luts können diese neuen Verkehrsmittel den ÖPNV auch ergänzen. „Eine der Möglichkeiten, den ÖPNV attraktiver zu gestalten, sind multimodale Angebote. Wenn beispielsweise Verkehrsteilnehmer*innen mit dem Rad oder dem E-Scooter zur Bushaltestelle fahren. Die Stadtverwaltungen sollten sich darum bemühen, die Anbindungen so gut und komfortabel wie möglich zu gestalten.“ Für eine bequeme Nutzung multimodaler Verkehrssysteme schlägt er den Einsatz einer App vor: „Mit einer App kann auch über das Handy bezahlt werden. Wenn der Preis angemessen ist, wäre eine kleine Gebühr für die Kund*innen sicherlich akzeptabel.“
Mobilität unabhängig vom Einkommen
Die Reduzierung des Autoverkehrs ist allerdings nur ein Aspekt der ÖPNV-Strategie. Darüber hinaus geht es auch um soziale Gerechtigkeit und das Versprechen, dafür zu sorgen, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Einkommen mobil sein können.Vor 2013 hat sich zum Beispiel eine befreundete Studentin von mir, wenn sie finanziell etwas knapp war, alle möglichen Tricks ausgedacht, um Geld für ein Busticket zu sparen. Einer dieser Tricks bestand darin, den Fahrschein erst dann zu entwerten, wenn Kontrolleur*innen das Fahrzeug betraten. Das muss sehr nervenaufreibend gewesen sein. In finanziell schwierigen Situationen verzichtet man beim ÖPNV gern auf Geschwindigkeit, wenn er dafür nichts kostet. „Ja, es stimmt, dass vor Einführung des kostenfreien ÖPNV die Fahrpreise für viele Fahrgäste ein Problem waren“, sagt Tauri Tuvikene, Stadtgeograf an der Universität Tallinn, der zurzeit an einem Projekt mit dem Titel „Public Transport as Public Space in European Cities: narrating, experiencing, contesting“ (Öffentlicher Nahverkehr als öffentlicher Raum in europäischen Städten: Geschichte, Erfahrungen, kritische Auseinandersetzung) arbeitet.
Reicht ein kostenloser ÖPNV allein aus?
„Weltweit wird der kostenfreie ÖPNV auch als Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit und zur Bewegungsfreiheit für alle gewertet. Gegen diese Motive ist nichts einzuwenden. Persönlich ziehe ich jedoch ein günstiges und erschwingliches Ticket vor, damit die Menschen auf kürzeren Strecken doch lieber laufen oder das Rad benutzen“, so Tuvikene.Er betont, dass der kostenfreie ÖPNV unter Corona-Bedingungen, als die Fahrgastzahlen in den Keller gingen, das widerstandsfähigere Modell war. „Das öffentliche Personennahverkehrssystem in London wurde beispielsweise sehr hart getroffen, weil nahezu 100 % der Einnahmen dort aus dem Fahrkartenverkauf stammen. Inzwischen musste es mit umfangreichen Fördermitteln vor dem Zusammenbruch bewahrt werden.“
Derzeit ist der ÖPNV zum Nulltarif in Tallinn noch immer ein Experiment, ob sich ein kostenfreies Angebot effizient gestalten lässt. Es könnte als Nachweis dafür dienen, dass ein kostenfreier ÖPNV allein nicht ausreicht. Damit er wirklich von den Menschen genutzt wird und eine Politik der Nachhaltigkeit unterstützt, müssen parallel dazu auch die Mobilitätssysteme in den Städten ausgebaut werden. Der erste Schritt ist getan, nun müssen weitere folgen – in Tallinn und in aller Welt.
Wie lässt sich die „Auto-Obsession“ einhegen?
Wir leben im Zeitalter der motorisierten Mobilität. Ob Flugzeug, Schiff oder Auto, in allen Bereichen ist ein rasanter Boom zu verzeichnen. Schätzungen zufolge könnte es bis Mitte des Jahrhunderts zwei bis sogar drei Milliarden Autos auf der Erde geben. Mit dem zunehmenden Autoverkehr gehen aber auch zunehmende Belastungen für Klima, Umwelt und menschliche Gesundheit einher. Das Autonomieversprechen individueller Mobilität stößt an seine Grenzen. In den Reportagen zum Thema „Auto-Obsession“ schauen verschiedene Autor*innen sich zwei Lösungsansätze an und fragen, wie eine nachhaltigere Mobilität möglich werden kann.