Stadtkonturen Schwäbisch Hall
Die vermutlich kleinste Metropole der Welt
Wer denkt, eine kleine Stadt müsse verschlafen sein, der irrt. Auf Schwäbisch Hall trifft das jedenfalls nicht zu: Weltkunst, Weltmarktführer, Welttheater – hier findet man alles. Und das auch noch fußläufig.
Von Tatjana Kruse
Das pulsierende Herz der Stadt – Marktplatz und Augenschmaus in einem
Rathaus auf dem Marktplatz von Schwäbisch Hall. | Foto (Detail): © picture alliance / Markus Lange / imageBROKER Schwäbisch Hall wird von den Einheimischen nur Hall genannt, weil die Stadt zwar 1802 von den Württembergern annektiert wurde, aber die hier ansässigen Hohenloher keine Schwaben sind. Fragt man die Einwohner*innen, besitzt Hall den wohl schönsten Marktplatz Deutschlands. Er wird seit über 800 Jahren von der evangelischen Stadtkirche St. Michael dominiert, an der im 16. Jahrhundert der berühmte Reformator Johannes Brenz wirkte. Auf dem Marktplatz treffen Mittelalter und Barock aufeinander, buchstäblich Wand an Wand – denn genau hier endete der große Stadtbrand von 1728. Was nicht mittelalterlich erhalten blieb, wurde barock neu aufgebaut. Im Zweiten Weltkrieg blieben die prachtvollen Gebäude von Zerstörung verschont. Die Michaelskirche mit ihren 53 Stufen (oder sind es doch 54? – am besten, man zählt selbst nach) und dem knapp 47 Meter hohen Turm ist das Wahrzeichen der Stadt, gleich nach den vier Ziegeln im Logo der Bausparkasse Schwäbisch Hall. Wer sich auf dem Marktplatz gegen die Rathausmauer lehnt und abwartet, wird hier jede*n Haller*in irgendwann einmal sehen: beim Gemüsekauf auf dem samstäglichen Wochenmarkt, beim Glühweintrinken auf dem pittoresken Weihnachtsmarkt, beim Zieleinlauf anlässlich des Stadtlaufs – dem Dreikönigslauf –, beim großen Kuchen- und Brunnenfest zu Pfingsten, zu den Aufführungen der Freilichtspiele im Sommer oder zum multikulturellen Freundschaftstag im Herbst. Der Marktplatz ist das pulsierende Herz der Stadt.
Stufen, die für Hall die Welt bedeuten
Auf den Stufen der Michaelskirche finden jährlich von Juni bis August die Freilichtspiele Schwäbisch Hall statt. Das Schauspiel „Brenz 1548“ von Andreas Gäßler wurde hier 2017 uraufgeführt. | Foto (Detail): © picture alliance /Christoph Schmidt/dpa Apropos Marktplatz: Auf den Stufen der Michaelskirche – die neben der Skyline der Stadt zu den beliebtesten Instagram-Motiven bei Tourist*innen gehören – finden jährlich von Juni bis August die Freilichtspiele Schwäbisch Hall statt. Der historische Marktplatz bietet die Theaterkulisse für eine bunte Mischung aus Klassikern der Weltliteratur, Musiktheater und Avantgarde. Seit fast einhundert Jahren ist Hall schon Festspielstadt. Namhafte und aufstrebende Schauspieler*innen und oft auch einheimische Statist*innen beleben die lauen Sommernächte mit ihrer Schauspielkunst. Begonnen hat alles 1925 mit Hugo von Hofmannsthals Stück Jedermann, das bis heute alle paar Jahre wieder in den Spielplan aufgenommen wird. Auf den Premieren lautet das Motto: Sehen und gesehen werden. In der Probenzeit lohnt es sich, tagsüber auf dem Marktplatz vorbeizuschauen, um dort hautnah mitzuerleben, wie Theatermagie entsteht. Die Theatersaison endet nicht mit dem Wintereinbruch: In der kalten Jahreszeit geht es im Neuen Globe Theater auf einer Insel im Fluss Kocher munter weiter.
Kultur satt
Besucher betrachten das Kunstwerk „Ikarus“ von Stephan Balkenhol in der Ausstellung „Wasser, Wolken, Wind. Elementar- und Wetterphänomene in Werken der Sammlung Würth“. | Foto (Detail): © picture alliance/Jan-Philipp Strobel/dpa Der Schraubenhersteller Reinhold Würth, dessen Hauptsitz im knapp 30 Kilometer entfernten Ort Künzelsau ist, macht seit vielen Jahrzehnten als Kunstmäzen auf sich aufmerksam. Der Name Würth ist daher nicht nur Heimwerker*innen, sondern auch Kunstliebhaber*innen ein Begriff. Die Kunsthalle Würth hat der dänische Architekt Henning Larsen nahtlos ins alte Stadtbild eingefügt. In wechselnden Ausstellungen finden dort Werke aus der Sammlung Würth sowie Leihgaben berühmter Museen und Sammler*innen den Weg nach Schwäbisch Hall. Auch die nur wenige Meter entfernte, ehemalige Johanniterkirche ist eine Dependance des Museums Würth. Dort kann man inmitten sakraler und weltlicher Mittelalterkunst die berühmte Schutzmantelmadonna von Hans Holbein dem Jüngeren bewundern. Zudem hat man auf dem Dach des Sudhauses, ein Restaurant direkt an der Kunsthalle, den besten Ausblick auf die Stadt und den mäandernden Kocher.
Hidden Champions
In Schwäbisch-Hall und Umgebung haben viele Firmen ihren Sitz, die in ihrer jeweiligen Branche renommiert sind, beispielsweise in der Ventilatorentechnik, im Saunabau, bei Flugzeugsitzen oder im Abfüll- und Verpackungswesen. | Foto (Detail): © Stadt Schwäbisch Hall Bei Schwäbisch Hall denken viele an die gleichnamige, hier ansässige Bausparkasse. In der Stadt und Region wimmelt es vor Firmen, die in ihrer Branche weltweit die Nase vorn haben. Beispielsweise in der Ventilatorentechnik, im Saunabau, bei Flugzeugsitzen oder im Abfüll- und Verpackungswesen. Das spricht sich herum. Jedes Jahr im Januar oder Februar findet das sogenannte Gipfeltreffen der Weltkmarktführer in Schwäbisch Hall statt. Gegründet wurde es vom ehemaligen Wirtschaftsminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Walter Döring. Manager*innen und Unternehmer*innen reisen aus aller Welt an, um von ortsansässigen Firmen zu lernen – den mittelständischen und oft familiengeführten „Hidden Champions“ Schwäbisch Halls.
Ein Acker, der kein Acker ist
Ein „Acker“ mit ziemlich viel Stil: Springbrunnen und Wasserachse im Haller Stadtpark. | Foto (Detail): © Adobe Den Stadtpark, die grüne Lunge von Schwäbisch Hall, bezeichnen die Einheimischen als „Ackeranlagen“, denn dort wurden nach dem Krieg die für die Stadtbewohner*innen überlebenswichtigen Kartoffeln angebaut. Ein Glücksfall für die Grünanlage war die Landesgartenschau von 1982, für die das Gelände völlig neu gestaltet wurde. Seitdem bilden die Ackeranlagen einen über zehn Hektar großen, zusammenhängenden Park. Bis heute tummeln sich im Sommer Tourist*innen und Einheimische auf den Rasenflächen, picknicken und liegen im Gras, toben sich beim Capoeira zwischen den Bäumen aus oder führen ihre Hunde Gassi. Beim großen Sommernachtsfest im August verwandeln sich die Ackeranlagen in ein Meer aus tausenden Lichterbechern und Lampions.
Der Gigant im Häusermeer
Im ehemaligen Lagerhaus Zehntscheuer, das im Stadtbild kaum zu übersehen ist, heute ein Veranstaltungsort. | Foto (Detail): © picture alliance /Helmut Meyer zur Capellen/imageBROKER Die Zehntscheuer, das Lagerhaus der ehemaligen freien Reichsstadt, erbaut im 16. Jahrhundert, ist unübersehbar. Die imposante Größe des früheren Getreidespeichers lässt ahnen, wie wohlhabend Hall durch das hier gewonnene Salz und den Handel damit wurde. Schon lange lagert dort jedoch kein Weizen mehr. Heute drücken sich im Neubausaal, wie das Gebäude jetzt heißt, Künstler*innen unterschiedlichster Couleur die Klinke in die Hand: Hier treten Kabarettist*innen, klassische Orchester, Ballettensembles und sogar Shaolin-Mönche auf.
Feste feiern, wie sie fallen
Anderswo feiert man Karneval oder Fasching, in Hall ziehen die Bewohner zur Hallia Venezia in prächtigen Kostümen durch die Straßen. | Foto (Detail): © Adobe Auch wenn es ums Feiern geht, zeigt die Stadt Vielseitigkeit. Besonders ausgelassen feiert man in Hall die eigene Geschichte beim Kuchen- und Brunnenfest der Salzsieder*innen, den Nachfahr*innen der ehemaligen Salinenarbeiter, die für den Reichtum der Stadt verantwortlich waren. Doch nicht nur das: Im Februar könnte man für einen Moment denken, versehentlich falsch abgebogen und in Venedig gelandet zu sein, wenn fantasievolle Maskenträger*innen bei Hallia Venezia, dem Haller Karneval, die mittelalterlichen Gassen bevölkern. Im März jazzen in der säkularisierten Hospitalkirche Improvisationskünstler*innen beim JazzArtFestival. Im Herbst gibt es Pulverdampf und Wildwestromantik beim Internationalen Vorderladerschießen vor den Toren der Stadt und die Reihe Literatur live des Kulturbüros bringt über das Jahr verteilt Autor*innen aus ganz Deutschland in Schwäbisch Hall auf die Bühne.
Einhörner, es gibt sie doch!
Die Einhörner des American Football: Die Schwäbisch Hall Unicorns laufen auf das Spielfeld ein. | Foto (Detail): © picture alliance / Annegret Hilse / dpaDie Schwäbisch Hall Unicorns gehören zu den Pionieren des deutschen Footballsports: Bereits mehrmals konnte der 1983 gegründete Verein die Deutsche Meisterschaft gewinnen. Die Einhörner engagieren sich außerdem in der Jugendarbeit. Die Vorliebe für die typisch amerikanische Sportart rührt vielleicht daher, dass Schwäbisch Hall früher eine US-amerikanische Garnisonsstadt war. Mittlerweile haben sich die Haller*innen den Football gänzlich zu eigen gemacht – und sind damit sehr erfolgreich.
Hoch die Tassen
Wohlfühlstadt Schwäbisch Hall: Hall prägt eine lässige Lebensart und Lebenslust.
| Foto (Detail): © Stadt Schwäbisch Hall
Hall prägt eine lässige Lebensart und Lebenslust. Wann immer das Wetter es zulässt, sitzt man im Freien vor einem der vielen Cafés und Kneipen und frönt entspannt dem Joie de vivre. Unzählige Kaffeehäuser, Pubs, Teestuben, Imbissbuden und sogar Sterne-Restaurants laden zum Verweilen ein. Zum Abnehmen sollte man derweil nicht nach Hall kommen: Viele süße Spezialitäten führen in Versuchung – vom Schmandkuchen bis zum Comburg-Möndchen, einem Makronengebäck mit Schokoladencreme.
Aufgrund seiner kulturellen Vielfalt und Wirtschaftskraft könnte man Schwäbisch Hall wohl als die kleinste Metropole der Welt bezeichnen. Doch darüber hinaus ist Hall mit seiner eigenen Lässigkeit auch eine Wohlfühlstadt.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.
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