Stadtkonturen Mannheim
Quadratisch, praktisch, gut
Für viele ist Mannheim nur ein lästiger ICE-Zwischenhalt, der den Weg von Frankfurt nach Stuttgart unnötig verlängert. Zugegeben: Die Stadt an Rhein und Neckar präsentiert sich beim Blick aus dem Zug nicht von ihrer schönsten Seite. Doch unser Autor Jan Zipperer ist überzeugt, dass Mannheim einiges zu bieten hat.
Von Jan Zipperer
Ist das eine Adresse oder ein Geheimcode?
Wer braucht schon Straßennamen in einer Quadratestadt: Adressschilder in Mannheim. | Foto (Detail): © Adobe Schon seit über 400 Jahren ist die Mannheimer Innenstadt in Quadrate aufgeteilt. 144 dieser Blöcke erstrecken sich zwischen Schloss, Wasserturm, Neckar und Kurt-Schumacher-Brücke. Zurück geht die Idee auf Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz, der Anfang des 17. Jahrhunderts den Entwurf der Planstadt beauftragte: Militärisch praktikabel sollte sie sein und ästhetisch den Idealen der Renaissance entsprechend. So entstand eine Stadt mit Schachbrett-Anmutung. Zur Adressierung wurden die Vierecke später – ebenfalls sehr praktikabel – schlicht durchnummeriert. Das ist einzigartig in Deutschland und sorgt bei Besucher*innen immer wieder für Verwirrung. So lautet die korrekte Adresse des größten Kinos der Stadt: N7, 17. Das Polizeipräsidium liegt in L6, 1, das Finanzamt hingegen in L3, 10. Das Rathaus füllt einen eigenen Block und hat deshalb die einfache Adresse E5. Die Anordnung der Quadrate folgt einer ganz eigenen Logik, die sich am Mannheimer Schloss ausrichtet und ein paar Tage Eingewöhnung erfordert. Aber auch für Zugezogene ist es nach kurzer Zeit schon absolut logisch, warum das A-Quadrat direkt gegenüber des L-Quadrats liegt, aber K von L kilometerweit entfernt ist. Fun Fact: der Telekomladen findet sich unter der Adresse, die zufälligerweise genauso lautet, wie der Name des größten Konkurrenten: O2 – Mannheim can do.
Aber bitte mit Sahne!
Vanilleeis aus der Spätzlepresse: Dario Fontanellas Eiskreation, das Spaghetti-Eis, hat ganze Generationen geprägt. | Foto (Detail): © picture alliance/Uwe Anspach/dpa Gar nicht weit vom Telekomladen, im Quadrat P5, wurde 1969 eine ganz besondere Eiskreation erfunden: das Spaghetti-Eis. Dem italienischen Eiskreateur Dario Fontanella, so will es die Legende, soll beim Pürieren von Maroni die Idee gekommen sein, auch mal eine Portion Vanilleeis durch die verwendete Spätzlepresse zu jagen. Klingt nach einer großen Sauerei, sieht aber aus wie die hausgemachten Spaghetti von Mama. Statt Tomatensoße noch etwas Erdbeertopping hinzu, Sahne untergehoben und als Käseersatz weiße Schokoladenraspel – fertig ist das süße Schlemmergericht. Das Spaghetti-Eis ist seitdem republikweit aus keiner Eisdiele mehr wegzudenken. Eine Kindheit in den 1980er-Jahren ohne diese Erfindung? Kaum vorstellbar. Dass in Mannheim auch das Auto, das Fahrrad und der Traktor erfunden wurden – geschenkt.
Ein Bürgermeister für die Nacht
Der Mannheimer Nachtbürgermeister (rechts) besucht auch die Bars und Clubs im Ausgehviertel Jungbusch. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Uli Deck Mannheim ist seit 2019 die erste deutsche Stadt mit einem eigenen Nachtbürgermeister. Seine Aufgabe ist in erster Linie die eines Vermittlers: Vermittler zwischen Bars, Clubs, Publikum und Anwohner*innen. Kein leichtes Unterfangen bei über 120 Kneipen und Diskotheken in der Quadratstadt. So hat der Nachtbürgermeister bisher neben einer Kampagne gegen sexuelle Belästigung und öffentlichen Pfandkisten unter anderem die „Nette Toilette“ eingeführt: Wer in Mannheim nachts ein stilles Örtchen aufsuchen möchte, kann dafür heute getrost in eine Bar, ein Restaurant oder ein Café spazieren, auch ohne dort konsumiert zu haben. Nett, oder? Wer einmal in das Nachtleben ein- und abtauchen möchte, dem sei übrigens das Szeneviertel Jungbusch empfohlen. Vegane Restaurants, hippe Gin-Bars und trendige Craft-Beer-Läden reihen sich hier nebeneinander. Geheimtipp: Wer dem Kater am nächsten Morgen vorbeugen will, sollte sich zum Abschluss eine fettige Käsebrezel an der kultigen Aral-Tankstelle kaufen – ihre Käsemischung soll wirksamer sein als Ibuprofen, heißt es. Die Tanke war schon ein wichtiger Anlaufpunkt, als der Jungbusch noch ein heruntergekommenes Hafenviertel war. Mittlerweile gibt es direkt an der Lieblingstanke sogar ein eigenes Käsebrezel-Festival: mit Live-Konzerten und Open-Air-Bühne.
Immer schön im Fluss bleiben
Rivalität unter Nachbar*innen: Geht es nach den Mannheimer*innen, kann man sich den Weg über die Brücke nach Ludwigshafen getrost sparen. | Foto (Detail): © Adobe Das Leben an zwei Flüssen – dem Rhein und dem Neckar – bringt Mannheim nicht nur den größten Binnenhafen Deutschlands, sondern auch viele Wiesen und Flächen, auf denen die Mannheimer*innen ihre Freizeit genießen können. Ob entspannt chillen nach der Uni an den Rheinterrassen oder mit den Freund*innen an der Neckarwiese, ob grillen am Strandbad oder joggen am Neckar: die beiden Flüsse machen Mannheim lebens- und liebenswert. Bei all der schönen Natur und dem Leben am Wasser sollte aber eine wichtige Regel unbedingt beachtet werden: Fahrt nicht über die Brücke nach Ludwigshafen! Warum? Man fährt einfach nicht nach Ludwigshafen. Nicht nur, weil das undurchsichtige Straßengewirr den Rückweg nahezu unauffindbar macht, sondern vor allem, weil die Nachbarstadt auf der anderen Rheinseite einfach sehr wenig zu bieten hat. So sehen das zumindest viele Mannheimer*innen – die deshalb auch meist nicht viel mehr von Ludwigshafen kennen, als die Brücke dorthin.
Töchter und Söhne Mannheims
Wen die musikalische Muse küsst, der kann in der Popakademie alles studieren, was es zum hauptberuflichen Musiker*innen-Dasein braucht: Ein Student spielt auf den Fluren der Popakademie Gitarre. | Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Uwe Anspach Das Wichtigste vorweg: Xavier Naidoo wohnt schon seit vielen Jahren gar nicht mehr in Mannheim. Der berühmteste und mittlerweile auch berüchtigtste Sohn der Stadt – der Sänger und Mitbegründer der Band Söhne Mannheims steht wegen seiner verschwörungsmythischen, homophoben oder rassistischen Texte immer wieder in der Kritik – ist schon vor langer Zeit nach Heidelberg gezogen. Sollen die sich drum kümmern. Mannheim darf sich stattdessen nun über den Titel „UNESCO City of Music“ freuen – was zwar streng genommen gar nichts bringt, aber wenigstens schön klingt. Mit der Ansiedlung der Popakademie vor 18 Jahren, an der Studiengänge wie Popmusik und Musikwirtschaft gelehrt werden, und einem ausgeklügelten Förderkonzept für Start-Ups aus der Musikindustrie ist es der Stadt gelungen, viele Talente und Nachwuchsmusiker*innen anzulocken. Max Giesinger, Alice Merton, Joris oder Apache 207 – wenn sie nicht selbst hier studiert haben, dann haben sie an der Popakademie ihre Band, Produzent*innen, Musiker*innen oder Manager*innen abgegriffen. Würde es Berlin, Köln und Hamburg nicht geben, dann würde die aktuelle deutsche Popmusikszene um Mannheim nicht herumkommen.
Festival-Feeling mit den Stars von morgen
Es sind nicht die ganz großen Bands von heute, die hier vorbeikommen, sondern die ganz großen Bands von morgen: Das Maifeld Derby macht aus dem Maimarkt-Gelände drei Tage lang ein Musik-Entdecker*innen-Mekka. | Foto (Detail): © Florian Trykowski Seit knapp zehn Jahren hat Mannheim auch ein eigenes Musikfestival: das Maifeld Derby. Auf dem Maimarkt-Gelände wird aus dem Reitstadion drei Tage lang ein Musik-Entdecker*innen-Mekka. Es sind nicht die ganz großen Bands von heute, die hier vorbeikommen, sondern die ganz großen Bands von morgen. Zahlreiche Newcomer*innen haben hier ihre ersten Festival-Erfahrungen in Deutschland gesammelt und im Anschluss eine tolle Karriere eingefahren. Hozier zum Beispiel, dessen Hit Take me to church nach seinem ersten Festival-Auftritt in Deutschland für mehrere Jahre mehrmals täglich im Radio lief, oder Parcels, die seit ihrem Maifeld-Gig ununterbrochen auf Tour sind. Viel besser als alle Bands und Bühnen ist aber das aufgeschlossene Publikum. Pöbeleien, Schlägereien, Diebstahl – so etwas gibt es auf dem Maifeld für gewöhnlich nicht. Wenn die gesetzlich vorgeschriebenen Sanitäter*innen hier mal etwas zu tun haben, dann höchstens, weil sich jemand beim Tanzen zu sehr verausgabt hat.
Ist das Mannheimer Dreck oder kann das weg?
Sieht aus wie Lebkuchen, ist aber Mannheimer Dreck – und ganz bestimmt hergestellt nach Originalrezept von anno dazumal. | Foto (Detail): © Wikipedia Gemeinfrei Klar, die riesigen Müllberge, die im Stadtteil Jungbusch an den Abenden vor der Sperrmüll-Abholung entstehen, sind legendär. Aber Mannheimer Dreck ist tatsächlich etwas gänzlich anderes. Eine lebkuchenartige, ziemlich krümelige Spezialität vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Damals reagierten die örtlichen Bäckereien auf eine neue Müllverordnung, die es den Bürgern verbot, Kot aus dem Haus auf die Straße zu kehren, und damit für reichhaltige Diskussionen sorgte, mit einer Art „essbarem Dreck“. Heute wird der Honig-Nuss-Gewürz-Teig auf Oblaten gebacken und mit Schokolade überzogen. Mannheimer Konditoreien rühmen sich damit, ihn jeweils nach ihrem eigenen, original überlieferten Rezept zuzubereiten. Nach dem vielleicht ältesten schriftlich überlieferten Rezept aus dem Jahr 1862 steht „Mannemer Dreck“ seit über 150 Jahren auf der Karte des Café Herrdegen im Quadrat E2.
Rock’n’Roller-Derby
Großer Spaß und eine Zeitreise in die Achtziger: Die Mannheimer Roller-Derby-Frauenmannschaft „Rhein Neckar Derby Quads“. | Foto (Detail): © Jürgen Ziegler Aus sportlicher Sicht verdient Mannheim vor allem für seine legendäre Roller-Derby-Mannschaft – Verzeihung – Frauschaft viel mehr Beachtung. Die Rhein Neckar Delta Quads haben seit ihrer Gründung im Jahr 2013 eine bahnbrechende Karriere aufs Parkett gelegt und sind bis in die 2. Bundesliga aufgestiegen. Roller Derby ist ein aus den Vereinigten Staaten stammender Vollkontaktsport mit Rollschuhen, der hauptsächlich von Frauen ausgeübt wird – sagt zumindest Wikipedia. Bei dem Rennen auf einer ovalen Bahn versuchen beide Mannschaften, ihre Gegenspielerinnen auszubremsen. Außerdem ist Roller-Derby aber auch ein großer Spaß, eine optische Zeitreise in die 1980er-Jahre und dabei noch ziemlich Punkrock. Wo sonst tragen die Spielerinnen so coole Namen wie Princess Bulldozer, Rhonda Housekick oder Carrie Headshot? Im Eishockey sind die Mannheimer Adler übrigens deutscher Rekordmeister, im Handball spielen die Rhein Neckar Löwen regelmäßig um den Meistertitel der ersten Liga und sogar im Fußball wurde wenigstens die 3. Liga wieder erreicht. Aber Princess Bulldozer – wie cool ist das denn bitte?
Jazz ist anders
Die libanesische Indie-Rock-Band Mashrou’ Leila beim Enjoy Jazz 2018: Seit über 21 Jahren bringt das Festival internationale Künstler*innen nach Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen. | Foto (Detail): © Arpan Joost Seit über 21 Jahren wird in Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen das Enjoy Jazz Festival veranstaltet. Über einen Zeitraum von sechs Wochen gehen in den drei Städten in wechselnden Veranstaltungshäusern zahlreiche Konzerte über und ziemlich legendäre Künstler*innen auf die Bühne. Darunter so bekannte Namen wie Herbie Hancock, Nils Landgren, Til Brönner oder McCoy Tyner. Das 2005 auf dem Enjoy Jazz aufgezeichnete Konzert von Ornette Coleman erhielt sogar einen Grammy und den Pulitzer Preis für Musik. Und dabei kommt nicht nur konventionelle Jazz-Musik in die Region – auch Künstler*innen aus dem Hip-Hop und der elektronischen Musik sind gern gesehene Gäste auf den zahlreichen Festivalbühnen.
Smells like chocolate
Ein Aroma von feinster Schokolade liegt über der Mannheimer Innenstadt – dank der Schokinag-Fabrik für Industrieschokolade am Neckarufer. | Foto (Detail): © Adobe Wer jetzt immer noch einen Grund braucht, den Quadraten mal einen Besuch abzustatten, dem hilft vielleicht dieses kleine Detail: Kurz bevor der Neckar in den Rhein mündet, befindet sich eine Schokoladenfabrik. Dort wird zwar „nur“ Industrieschokolade hergestellt, die an anderer Stelle weiterverarbeitet wird. Dennoch entsteht bei diesem Prozess ein intensiver Geruch, der mit seiner süßlichen Note dem gesamten Innenstadtbereich ein Schokoladenaroma verleiht, dem man sich nur schwer entziehen kann. Be there, or be square.
Stadtkonturen
Schrebergärten in Berlin oder Nacktbaden in München: Wir erkunden mit Euch deutsche Städte – auch gegen den Strich. Wir skizzieren klassische Orte, Gruppen und Events, die nicht aus dem Stadtbild wegzudenken sind – und ziehen neue Konturen, indem wir das ein oder andere Klischee ins Wanken bringen.
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