Protestbewegungen
Mehr als Empörung
Demokratie lebt von der Debatte und Protest ist ein wichtiges Mittel öffentlicher Partizipation. Wie aber entsteht Protest und wann erwächst aus dem Widerspruch Einzelner eine Massenmobilisierung?
Von Elias Steinhilper und Moritz Sommer
Protest hat Konjunktur. Fridays for Future, Black Lives Matter und die Querdenken-Proteste brachten in jüngster Zeit bisweilen zehntausende Menschen auf die Straßen der Republik. Ob dabei nun gesellschaftlicher Wandel oder aber die Beibehaltung des Status quo gefordert wird – Demokratien leben vom Widerstreit unterschiedlicher Positionen, und nicht umsonst ist das Recht auf Demonstration in Artikel 8 des Grundgesetzes verbrieft.
Protest wird hierzulande als gängiges, überwiegend legitimes Mittel der Artikulation von Interessen angesehen. Er gilt als Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Beteiligung – eine Form direkter Meinungsäußerung jenseits von Wahlen oder der Mitarbeit in Parteigremien. Neben eher vereinzelten Massendemonstrationen wird in Deutschland nahezu täglich zu irgendeinem Thema demonstriert. Dabei verfolgt Protest keineswegs immer progressive Ziele, wie das Beispiel Querdenken verdeutlicht, sondern richtet sich bisweilen sogar gegen die liberal-demokratische Grundordnung. Aber wann entsteht überhaupt Protest? Und welche Bedingungen führen dazu, dass aus der Empörung und dem Widerspruch Einzelner Massenmobilisierungen erwachsen?
Aufbegehren gegen menschengemachte Probleme
Insbesondere Großprotesten liegt aufwendige Organisations- und Mobilisierungsarbeit zugrunde: Mögliche Teilnehmende müssen informiert und davon überzeugt werden, ihre Zeit und Energie zu investieren. In der Forschung haben sich mindestens vier Erklärungsfaktoren für die Entstehung von Protest und dessen Anwachsen zu Massenveranstaltungen oder gar sozialen Bewegungen herauskristallisiert.
Erstens ist der Ausgangspunkt von Protest immer eine subjektiv empfundene Problemlage, die jedoch zumeist teilweise eine objektive Grundlage hat. Wird dieses Problemempfinden von vielen Menschen geteilt und haben sie das Gefühl, dass daran etwas geändert werden kann und muss, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass daraus ein Protest oder eine Protestbewegung entsteht. Die Themen sind dabei so vielfältig wie die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft: Die jüngsten Großproteste in Deutschland forderten einen Politikwechsel angesichts der sich zuspitzende Klimakrise (Fridays for Future), richteten sich gegen rassistische Gewalt und Diskriminierung (Black Lives Matter), oder gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie (Querdenken). Trotz aller Unterschiede ist diesen Protesten gemein, dass die Initiator*innen davon ausgingen, mit ihrer Problemwahrnehmung nicht alleine zu sein und dass die zugrundeliegenden Probleme nicht schicksalshaft, sondern menschengemacht sind.
„Where there’s people, there’s power“: Menschen versammeln sich nach dem Gerichtsurteil zum Tod von George Floyd auf dem George Floyd Square in Minneapolis, Minnesota, USA.
| Foto (Detail): © picture alliance/Captital Pictures/ IS/MPI/Chris Tuite
Ob aus der geteilten Wahrnehmung einer Problemlage eine Massenmobilisierung wird, hängt zweitens davon ab, welche Ressourcen den Organisator*innen zur Verfügung stehen. Neben Zeit sind materielle Ressourcen für die Bewerbung von Protestveranstaltungen mit Flyern, Plakaten, Social Media und Webseiten, sowie für Tontechnik, Bühnen und andere logistische Details erforderlich. Aber auch soziale Netzwerke und symbolisches Kapital, wie die Beteiligung prominenter Personen, beeinflussen, wie viele potenzielle Teilnehmende erreicht werden können.
Was es sonst noch braucht: Kommunikation und Gelegenheit
Darüber hinaus spielt die Deutung und Interpretation der Problemlage eine Rolle, mit der der Protest begründet und zur Teilnahme aufgerufen wird („framing“), sowie dessen strategische Kommunikation. Ein Beispiel für resonanzfähiges Framing ist die Deutung des Klimawandels als „Generationenproblem“, mit dem es Fridays for Future gelungen ist, viele junge Menschen auf der ganzen Welt anzusprechen.
Schließlich sind Proteste immer in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebettet, die Gelegenheiten für Protesthandeln bieten. Konkrete politische Entscheidungen oder wichtige Ereignisse, wie zum Beispiel das Treffen der G20-Staaten, sind oft günstige Anlässe, um Sichtbarkeit für ein Anliegen zu erzeugen. Zu diesen „politischen Gelegenheiten“ kommen „diskursive Gelegenheiten“ hinzu. Das sind Momente, in denen die von Protestakteuren vertretenen Positionen besonders anschlussfähig sind – etwa, weil sie gerade in gesellschaftlichen oder medialen Debatten besonders präsent sind –, sie also in Teilen der Bevölkerung bereits auf Zustimmung stoßen und damit ein öffentlicher Resonanzraum für ihre Anliegen besteht.
Bildung und Wohlstand fördern Protestbereitschaft
Zusammengefasst: Themen, die viele Menschen bewegen, ermöglichen größere Mobilisierung. Organisator*innen, die auf die Unterstützung unterschiedlicher Initiativen bauen und bestehende Netzwerke mobilisieren können sowie Erfahrung in strategischer Kommunikation mitbringen, haben höhere Chancen, Massenproteste zu initiieren.
Hinzu kommt, dass auch die individuelle Situation der Teilnehmenden Einfluss darauf hat, wie wahrscheinlich sie sich Protestbewegungen anschließen. Aktuelle Umfragen unter anderem bei Fridays for Future und Querdenken legen nahe, dass es heutzutage zumeist die gut gebildeten und wirtschaftlich besser gestellten Teile der Bevölkerung sind, die überproportional an Großprotesten teilnehmen.