Kastensystem und verlockende Landschaften
Das Mexikanische in Mexikos Kunst
Die bei mexikanischen Museen besonders beliebten Casta-Gemälde und Genrebilder konstruieren eine mexikanische Identität, die Rassismus und Kolonialismus zwar spiegelt, aber nicht thematisiert. Über „das Mexikanische“ in öffentlichen und privaten Sammlungen in Mexiko.
Von Veka Duncan
Unter allen Genres der mexikanischen Kunst befinden sich zwei, die unter Sammler*innen und Museen besonders beliebt sind. Es handelt sich um Casta-Gemälde und um Genrebilder. In der Praxis wird von Kurator*innen und Museen oft darauf hingewiesen, dass ihre Präsenz in den Ausstellungsräumen dem Interesse geschuldet ist, eine mexikanische Identität zu konstruieren. Sowohl die Casta-Gemälde als auch die Genrebilder waren Bemühungen, die ethnische und kulturelle Vielfalt Mexikos zu klassifizieren. Erstere aus einer eigenen mexikanischen Sicht und letztere aus der ausländischen Perspektive. Diese Suche nach dem Verständnis, wer wir sind, spielt eine wichtige Rolle bei unserer Annäherung an diese Art kultureller Produktion. Doch ihre Präsenz in den Privatsammlungen wirft Fragen auf: Wir könnten hinterfragen, ob der Wunsch, diese Werke zu kaufen und auszustellen, nicht einem vom Vizekönigreich Neuspanien ererbten Criollismo entspringt. Oder einer Identifikation der mexikanischen Elite mit dem Blick des Reisenden, der „das Mexikanische“ von außen beobachtete.
In beiden Fällen kommt es häufig vor, dass wir in diesen Museen auf Diskurse stoßen, die die ethnische Befrachtung dieser künstlerischen Genres abschwächen. Das rassistische Narrativ wird im kuratorischen Diskurs geglättet. Wenn wir uns mit Casta-Gemälden auseinandersetzen, in Ausstellungen oder in Lehrveranstaltungen über die mexikanische Kunstgeschichte, wird uns erklärt, dass das Kastensystem nicht wirklich so starr war, wie diese Werke es zur Schau stellen. Dass die soziale Mobilität in den verschiedenen ethnischen Gruppen des Vizekönigreiches häufig war, dass es sich eher um eine Übung handelte, durch die die Bevölkerung Neu-Spaniens ihre Vielfalt erkannte. Auch wenn in all diesen Erklärungen eine Wahrheit steckt, ist es doch unleugbar, dass die Gemälde ebenfalls einer sehr diskriminierenden Sicht entsprechen, die sehr wohl im Vizekönigreich existierte und immer noch tief in der gegenwärtigen mexikanischen Gesellschaft verwurzelt ist.
„Ehrlose Abstammung“ und „schlechte Rasse“
Nicht zufällig entstanden die Casta-Gemälde im 18. Jahrhundert. Denn zur gleichen Zeit, zu der sich der Criollismo ausbreitete, erhielten die Nachweise für die „Reinheit des Blutes“ eine stärker ethnische Konnotation. Diese Praxis war in der Zeit des Vizekönigreiches gang und gäbe, um die Abstammung derjenigen nachzuweisen, die in bestimmte Schulen, Zünfte oder religiöse Orden eintreten wollten. Gab es Zweifel an der Herkunft der betroffenen Person, wurde ihr der Zugang zu diesen Einrichtungen verwehrt. Anfangs bezog sich diese „Reinheit“ auf religiöse Fragen. So musste die Person nachweisen, von Altchristen abzustammen, und nicht von bekehrten Muslimen oder Juden. Doch im 18. Jahrhundert erlangte die afrikanische oder indigene Abstammung zunehmende Bedeutung. Afrikanischer oder mulattischer Nachkomme zu sein, bedeutete eine „befleckte“ oder „ehrlose Abstammung“, da damit auch das Sklavendasein verbunden wurde. Immer häufiger tauchten Konzepte wie „schlechte Rasse“ auf, die physische Erscheinung wurde in Verbindung mit der Blutreinheit gebracht (siehe Norma Angélica Castillo Palma „El peso de la sangre. Limpios, mestizos y nobles en el mundo hispánico“ in: Ciudad de México: El Colegio de México, 2011, S. 219–248).Da sich die Vorstellung von der schlechten Abstammung der mulattischen Bevölkerung verfestigte, wurde diese diskriminiert. Sie wurde aus Bildungs-, Kirchen- und Berufseinrichtungen ausgeschlossen. In den Dokumenten, die mit den erwähnten Nachweisen während des 18. Jahrhunderts in Zusammenhang stehen, wird das Konzept der „Rasse“ nicht nur zunehmend der Hautfarbe zugeschrieben, sondern auch der handwerklichen Berufsausübung. Die Casta-Gemälde verstärken dieses Bild, indem sie die Familien verschiedener Ethnien bei handwerklichen Tätigkeiten zeigen.
Der Aufschwung der Casta-Gemälde ist auch damit erklärt worden, dass die Ideen der Aufklärung sich in Neuspanien verbreiteten. Im Zuge der Aufklärung, drehte sich die Perspektive: Nun waren es die europäischen Entdeckungsreisenden, die „das Mexikanische“ beobachteten. Sie kehrten mit ihren Reiseeindrücken in ihre Heimatländer zurück, um sie ihren Zeitgenoss*innen zum Studium zu unterbreiten. Parallel zu den schriftlichen Chroniken entstand ein neues Genre: Genährt aus den Bleistiftskizzen in Notizbüchern und den Experimenten mit neuartigen Methoden wie der Fotografie, die die Dinge festhielten, tauchten die Genrebilder auf. Die für diese Sammlungen geschaffenen Bilder heben die ethnischen Züge der porträtierten Subjekte hervor, genauso ihre Kleidung, ihr Handwerk und ihre Umgebung. Das Augenmerk liegt auf den „Volkstypen“, denjenigen Figuren, die den unteren Bevölkerungsschichten zugeordnet werden. Dort wird die mexikanische Gesellschaft durch die Alltagsbeschäftigungen ihrer Mitglieder dargestellt.
Landschaftsalben: natürliche Ressourcen für die Ausbeutung?
Für den europäischen Konsum gestaltet, ist in diesen Sammlungen der Blick der Reisenden wahrnehmbar, die das Andere zu fassen versuchen. Für die Entdecker*innen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach Mexiko kamen, bedeutete diese neue Nation eine Welt, die sich erstmals öffnete. Als spanische Kolonie war sie ihnen drei Jahrhunderte lang verschlossen geblieben. Ihre Reisen fielen zusammen mit der Geburt der Anthropologie, der Ethnografie und der Archäologie. Die Darstellungen verfolgten unter anderem das Ziel, pittoreske Aspekte der besuchten Orte und ihrer Bevölkerung bekannt zu machen. Darin liegt ein unleugbar vom Exotizismus geprägter Blick, der sehr wohl mit dem in der damaligen Epoche so modernen Orientalismus vergleichbar ist. Zur selben Zeit, in der die Genrebilder in Europa zirkulierten, wurden auch Landschaftsalben produziert. Während sie einerseits einem romantischen Geist einer Annäherung an die Natur Rechnung trugen, präsentierten sie andererseits die natürlichen Ressourcen, die für die Ausbeutung verfügbar waren. Hinter diesen Sammlungen lugt eine zweite Welle des europäischen Kolonialismus hervor. Vielleicht nicht im Sinne einer militärischen, aber doch einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Intervention.„Während Landschaftsalben einerseits einem romantischen Geist einer Annäherung an die Natur Rechnung trugen, präsentierten sie andererseits die natürlichen Ressourcen, die für die Ausbeutung verfügbar waren. Hinter diesen Sammlungen lugt eine zweite Welle des europäischen Kolonialismus hervor.”