Exkludiert werden
Ein Empathiegefälle in der Kinderliteratur?
BIPoC-Kinder und ihre Gesellschaften werden systematisch als lächerlich, komisch, barbarisch, naiv oder unmoralisch dargestellt, der Natur näher als der Kultur, als Wesen, die auf weißes Wissen und weißes Wohlwollen angewiesen sind, schreibt Maisha M. Auma.
Von Maisha M. Auma
„Geschichten haben Bedeutung. Vielfältige Geschichten sind bedeutend. Geschichten wurden instrumentalisiert, um Menschen zu enteignen oder zu verleumden, aber Geschichten können auch eingesetzt werden, um zu ermächtigen und um unsere Humanität wechselseitig anzuerkennen.“
Chimamanda Ngozi Adichie in „Die Gefahr einer singulären Geschichte“, 2009
Wenn Kinder beginnen literarische Welten zu erkunden, werden sie mit einer Realität tiefsitzender Ungleichheiten konfrontiert. Indem ich über das Fehlen vielschichtiger intersektionaler Realitäten, die Erfahrung ‚nicht handelnd vorzukommen‘, die fehlende Repräsentation hyperdiverser Realitäten in Kinderbüchern schreibe, liegt mein Blick zunächst auf Kinderliteratur im deutschsprachigen Raum. Es gilt aber auch, den Blick auf den weiteren europäischen Kontext zu öffnen – auf unterrepräsentierte geopolitische Kontexte, wie zum Beispiel die heutigen Gesellschaften Afrikas, Asiens und Südamerikas oder die First Nations (indigene Gesellschaften), samt ihrer Weltauslegungen, sozialen Wirklichkeiten und Territorien. Diese werden systematisch in den Narrativen der sozialen Welt nahezu ausgeblendet und somit erneut marginalisiert. Zuletzt schaue ich auf den nordamerikanischen Kontext – ein Ort, von dem aus dominante Narrative forciert werden, aber zeitgleich ein Ort, welcher zu mehr Diversität, Inklusion, sozialer Gerechtigkeit und Rassismuskritik in Kindermedien aufruft.
Die feministische nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie warnt vor ‚singulären Geschichten‘ durch weiß- und westzentrische Narrative. Ihre Kritik richtet sich gegen Erzählungen, die Erfahrungen derjenigen verallgemeinert, die weiß, männlich, nicht-behindert, ‚weiß-christlich‘, heterosexuell und männlich identifiziert sind oder der Mittelschicht zugeordnet werden. Dies geschieht auf Kosten derjenigen, die rassistisch marginalisiert werden, die sich als islamisch oder jüdisch identifizieren (oder identifiziert werden), die keine Religion ausüben, die behindert oder anders begabt sind, die aus Arbeiter*innenzusammenhängen kommen oder zu den erwerbstätigen Armen gezählt werden, die sich weiblich identifizieren oder LSBTI* sind.
„Kinder-of-Color kommen in der untersuchten Literatur seltener in Hauptrollen vor als Tierfiguren. Es scheint unproblematisch, Tiere, Fantasywesen und unbelebte Gestalten zu zeigen, aber es scheint großen Widerstand zu geben, Kinder-of-Color und ihre sozialen Realitäten darzustellen.“
Das Normalisieren der Vernichtung von Multiperspektivität und die Vermittlung ‚singulärer Geschichten‘ in Kinderbüchern ist problematisch. In der Studie von Kinder- und Jugendliteratur Gender in Twentieth-Century Children’s Books: Patterns of Disparity in Titles and Central Characters, durchgeführt von Geschlechtersoziolog*innen an der Florida State University, wurden 6.000 Bücher analysiert, die zwischen 1900 und 2000 erschienen (McCabe/Fairchild/Grauerholz/Pescosolido/Tope, 2011). Männliche Erwachsene und männliche Tiere, in einer Repräsentationskategorie zusammenfasst, trugen in 100 Prozent der 6.000 analysierten Kinderbücher eine Hauptrolle. Weibliche Erwachsene und Tiere kamen als Hauptfiguren dagegen in nur 33 Prozent der 6.000 Bücher vor. Die Marginalisierung durch rassistische Markierung zeigt eine ähnliche Ungleichheit: Basierend auf deskriptiven Statistiken (Diversity Gap Studies), die seit 1985 vom Cooperative Children’s Book Center CCBC in Madison, Wisconsin gesammelt werden, ermittelten David Huyck und Sarah Park Dahlen enorme Unterschiede zwischen der Darstellung von BIPoC-Kindern – BIPoC steht für „Black, Indigenous, People-of-Color“ (Schwarze Menschen, Indigene, People-of-Color) – in Kinderbüchern und Tiergestalten/weißen Figuren (Stechyson, 2019). In 73,3 Prozent der etwa 3.000 neuen Kinderbuchveröffentlichungen im Jahr 2015 waren die Hauptfiguren weiße Kinder, 12,5 Prozent waren Tiere (inklusive Fantasy-Gestalten und -Objekte), sodass für rassistisch marginalisierte Gruppen zusammen nur noch 14,2 Prozent der Hauptfiguren übrig waren. Im Jahr 2018 waren 50 Prozent aller Hauptrollen weiß, 27 Prozent waren Tiere (inklusive Fantasygestalten) und 23 Prozent repräsentierten rassistisch marginalisierte Gruppen. Kinder-of-Color kommen in der untersuchten Literatur seltener in Hauptrollen vor als Tierfiguren. Es scheint unproblematisch, Tiere, Fantasywesen und unbelebte Gestalten zu zeigen, aber es scheint großen Widerstand zu geben, Kinder-of-Color und ihre sozialen Realitäten darzustellen.
Schädliche Fiktionen
Die in der Kinderliteratur dargestellten sozialen Welten sind zum größten Teil fiktional. Dennoch basieren sie in der Regel auf systematischer Exklusion. Wo BIPoC-Kinder inkludiert sind, werden sie und ihre geopolitischen Lebenswelten meist stereotyp, stigmatisierend oder entmenschlichend dargestellt. Eine ganze Reihe von deutschen Bilder- und Kinderbüchern normalisiert den ‚weißen Abenteurer‘. In den Comicheften der populären deutschen Schuhmarke Salamander spielt ihr Maskottchen, ein männlicher Feuersalamander namens Lurchi, die Hauptrolle. In der 4. Auflage von Lurchi bei den Wilden (Neuere Fassungen: Lurchi in Afrika (2019)) malt sich Lurchi schwarz an. In dem Heft wird erzählt, dass aus Lurchi nun ein kleines N****lein geworden ist. Durch sein Blackfacing will er verhindern, lebendig gekocht und anschließend gegessen zu werden (Bochmann/Staufer, 2013, S. 7). Der geopolitische Kontext dieses ‚Abenteuers‘ ist eine BIPoC-Gesellschaft. Andere deutsche beziehungsweise europäische Beispiele für die rassistisch-imperialistisch geprägte Figur des weißen Abenteurers sind unter anderem Die kleine Hexe und Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land. BIPoC-Kinder und ihre Gesellschaften werden systematisch als lächerlich, komisch, barbarisch, naiv oder unmoralisch dargestellt, der Natur näher als der Kultur, als Wesen, die auf weißes Wissen und weißes Wohlwollen angewiesen sind (Auma, 2018). Solche Darstellungen sind nicht nur fiktional, sondern auch schädlich! Sie hindern sehr junge BIPoC-Leser*innen am positiven Selbst- und Weltbezug. Zudem zwingen sie rassistisch marginalisierte Leser*innen, sich an die Normalisierung ihrer Entwertung, an ihr Übersehen-werden und ihre Dehumanisierung zu gewöhnen. Sie sollen lernen „zwischen oder trotz den rassistischen/schädlichen Inhalten zu lesen“ (Masad, 2016). Die Muster der Abwertung sind keine Miss-Repräsentationen, sondern toxisch, da sie dem Selbstwertgefühl rassistisch marginalisierter Kinder schaden. Darüber hinaus handelt es sich bei der Regelmäßigkeit der stigmatisierenden und entwertenden Darstellungen um eine Form kultureller Gewalt.
Powervolle Lesende
Der Artikel schließt mit ein paar Überlegungen zu aktuellen Initiativen, die sich der Förderung von mehr Gleichstellung, rassismus- und normenkritischer Intersektionalität und sozialer, ökonomischer und politischer Inklusion in Kindermedien widmen. Ihr Ziel ist es, die Produktion vielfältiger Welten in Kinderbüchern und -medien zu fördern, die sich an plurale, hyperdiverse Gesellschaften und ihre Teil-Öffentlichkeiten wenden. Ein gemeinsames Ziel zweier europäischer Initiativen – DRIN (Diversität, Repräsentation, Inklusion und Normkritik) und Powervolle Lesende – ist die Vernetzung von Schlüsselakteur*innen im Bereich der Produktion, Zirkulation und des Konsums von Kinderbüchern, um Stimmen marginalisierter gesellschaftliche Gruppen ins Zentrum zu stellen. Vier nordamerikanische Initiativen – WNDB #WeNeedDiverseBooks, Disability in Kid Lit, Young, Black and Lit und I am Here, I am Queer, What the Hell Do I Read – sind inspirierende intersektionale Gerechtigkeitsansätze für die erforderliche Reflexionsarbeit, um junge Leser*innen mit BIPoC- und/oder mehrfachmarginalisiertem Hintergrund (Schwarze und indigene Kinder, Kids-of-Color, Sinti- und Romani-Kinder) zu ermächtigen. Die Initiativen stützen sich auf Rudine Sims Bishops Aufruf, „Fenster und Spiegel“ für hyperdiverse Kinder zu schaffen und zu normalisieren, um die eigenen hyperdiversen diasporischen Realitäten als normale Bestandteile alltäglicher Narrative zu sehen. ‚Fenster‘ schließen die ‚Empathie-Lücke‘ mehrfachmarginalisierten Gruppen gegenüber, indem ihr eigener Umgang mit durch Exklusion erzeugten Barrieren in den Mittelpunkt gestellt wird. Sie bieten wesentliche Einsichten in die Erfahrungs- und Handlungsräume unserer ‚mehrfachmarginalisierten Nachbarn*innen‘, welche in Kindermedien selten abgebildet sind. Solche Ansätze erweitern nach Chimamanda Adichies das Spektrum des Vorstellbaren und Erfahrbaren in den Geschichten, die wir schreiben, erzählen und lesen. Sie stärken uns alle in unserem täglichen Streben, uns unsere geteilte Menschlichkeit wechselseitig zu bestätigen.
Quellen:
Adichie, Chimamanda Ngozi (2009). The Danger of A Single Story (TED-Talk).
Auma, Maureen Maisha (2018). Kulturelle Bildung in pluralen Gesellschaften: Diversität von Anfang an! Diskriminierungskritik von Anfang an! In: KULTURELLE BILDUNG.
Bishop, Rudine Sims (1990). Mirrors, Windows and Sliding Doors. Perspectives: Choosing and Using Books for the Classroom, 6(3).
Bochmann, Corinna/Staufer, Walter (2013). „Vom „N*-könig“ zum „Südseekönig“ zum...? Politische Korrektheit in Kinderbüchern. Das Spannungsfeld zwischen diskriminierungsfreier Sprache und Werktreue und die Bedeutung des Jugendschutzes“. In: BPJM-Aktuell (Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) (2/2013).
Decke-Cornill, Helene (2007). „Literaturdidaktik in einer „Pädagogik der Anerkennung“: Gender and other suspects”. In: Hallet, Wolfgang/Nünning, Ansgar (Hrsg.), Neue Ansätze und Konzepte der Literatur- und Kulturdidaktik (S. 239–258). Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier.
Masad, Ilana (2016). Read Between the Racism: The Serious Lack of Diversity in Book Publishing.
McCabe, Janice/Fairchild, Emily/Grauerholz, Liz/Pescosolido, Bernice A./Tope, Daniel (2011). „Gender in Twentieth-Century Children’s Books: Patterns of Disparity in Titles and Central Characters“. Gender & Society 25(2): 197–226.
Sociologists for Women in Society (2011). Gender bias uncovered in children’s books with male characters, including male animals, leading the fictional pack. Science Daily, 4. Mai 2011.