Klimawissenschaften im Norden Kanadas
Wichtige Hinweise zur Zukunft eines sich erwärmenden Planeten
Im Winter 2010 erlebten die 1.200 Einwohner*innen des größtenteils von Inuit bewohnten Dorfes Nain im äußersten Nordosten Kanadas eine Naturkatastrophe, die vom Rest der Welt unbemerkt blieb. Von Januar bis März – normalerweise herrscht dann in der Region tiefer Frost – lagen die Durchschnittstemperaturen weit über dem Normalen, häufig sogar über dem Gefrierpunkt. Das Eis auf dem Meer war dünn, brüchig und von offenen Stellen durchzogen. Die Jagd war riskant, die Nahrung ging zur Neige und mindestens ein Mensch ertrank, als ein Schneemobil im dünnen Eis einbrach.
Von Matthew Halliday
Das Fortbewegen auf dem Eis war noch nie ohne Risiko. Seit Jahrhunderten haben sich die Inuit auf bewährte Mittel zur Risikominderung verlassen – indem sie auf die Farbe, die Textur oder auf den Widerstand des Eises achteten, den dieser bei einem kräftigen Stoß mit der Harpune bot. Aber 2010 war es anders: „Es war ein fürchterliches Gefühl von Verlust und Angst davor, was dies für die Zukunft bedeuten würde“, meint Robert Way, ein Klimatologe mit Inuit-Wurzeln von der kanadischen Queens University.
Forschung nach lokalen Prioritäten neu ausrichten
2010 war aber auch das Jahr, in dem der fünfte Geburtstag von Nunatsiavut gefeiert wurde, einem riesigen Inuit-Territorium in Selbstverwaltung, dessen Verwaltungssitz Nain ist.Die junge Regierung hatte nur wenige Ressourcen, um die existenzielle Klimabedrohung zu bewältigen, aber sie hatte viele Forschende, die von außerhalb kamen und durch ihren weitläufigen „Hinterhof“ streiften. In der Vergangenheit erwies sich die Arbeit dieser Forschenden als kaum relevant für die Einheimischen. „Forschende kommen hierher, erledigen ihre Arbeit, sagen keinem hier, was sie eigentlich machen und verschwinden dann wieder“, resümiert Carla Pamak vom Inuit-Forschungsbeirat der Regierung in Nunatsiavut, die in Nain lebt.
Im Juni dieses Jahres veranstaltete die Regierung das Tukisinnik Community Research Forum, das Einheimische mit ausgewählten Wissenschaftler*innen in Kontakt brachte. Man hoffte, damit die Forschung nach lokalen Prioritäten neu auszurichten. Das Meereis stand dabei ganz oben, besonders nach diesem desaströsen Winter. „Dabei entstand ein neues Verständnis: Dass Forschung etwas ist, was die Gemeinschaft zu ihrem eigenen Vorteil kontrollieren kann“, so Trevor Bell, ein Teilnehmer des Forums und Geografieprofessor an der Memorial University in St. Johns, Neufundland und Labrador.
Eine Karte über Reise-Risiken auf dem Eis
Am bekanntesten wurde Bell vielleicht für sein Projekt SmartICE, das in Zusammenarbeit mit der Regierung von Nunatsiavut entstand. SmartICE verbindet traditionelles Eiswissen mit Echtzeitdaten aus Sensoren, die im Meereis eingebettet sind und darüber gezogen werden. Seit 2012 wird es von Nain aus gesteuert und zielt darauf ab, eine Karte über Reise-Risiken zu erstellen, die über Desktop oder Smartphone verfügbar ist, um das traditionelle Wissen zu ergänzen.Das Projekt ist nicht das einzige. Im letzten Jahrzehnt haben die vier großen Inuit-Regionen Kanadas von der Grenze zu Alaska bis zum Atlantik in ihren Gemeinden die Forschung stärker kontrolliert.
Die Konsequenzen könnten die Wissenschaft in einem Teil der Welt verändern, der wichtige Hinweise für die Zukunft eines sich erwärmenden Planeten enthält. Doch das Erbe der Wissenschaft ist noch wie gewohnt von jahrhundertelanger Ausbeutung verdunkelt.
Viele Indigene Gemeinschaften weltweit haben ein angespanntes Verhältnis zu Wissenschaftler*innen – Inuit bilden dabei keine Ausnahme. Im 19. Jahrhundert wurden Inuit als menschliche Kuriositäten bei Wanderausstellungen zur Schau gestellt. In den 1970er-Jahren verwendeten kanadische Forschende sie angeblich als Testpersonen, um Hauttransplantationen durchzuführen und Schmerzreaktionen zu messen.
„Sorry, aber jetzt geht es um uns.“
Eine Welle des politischen Aktivismus von Seiten der Inuit war jedoch während der letzten Jahre der Auslöser für einen ernst zu nehmenden Strukturwandel in der kanadischen Politiklandschaft. Die wissenschaftliche Landschaft könnte die nächste sein. Im Jahr 2018 initiierte die Inuit Tapiriit Kanatami (ITK), die Organisation, die auf Bundesebene die Interessen der Inuit in Kanada vertritt, die nationale Inuit-Forschungsstrategie (NISR), um die Selbstbestimmung der Inuit innerhalb ihres Territoriums zu fördern.„Die akademische Welt hält sich oft für aufgeklärt oder sehr fortschrittlich", stellt der ursprünglich aus Nain stammende ITK-Präsident Natan Obed fest. „Und wir als Inuit betreten diesen Raum voller Menschen, die keine Inuit sind, und sagen: ‚Sorry, aber jetzt geht es um uns.‘“
Eine der Hauptbeschwerden der ITK-Organisation betrifft die Finanzierung der Forschung. Da Inuit in Regierungs- oder Universitätsgremien bei der Vergabe von Mitteln nur selten repräsentiert sind, liegt der Fokus der Finanzierung in den Bereichen Biologie und Physik und nicht auf den Sozialwissenschaften, was häufig Bedenken von Inuit weckt.
Sich mit solchen Bedenken zu befassen, ist eines der Hauptziele des Nunatsiavut Forschungszentrums, einer der lediglich drei sich im Besitz von Inuit befindlichen Forschungseinrichtungen in Kanada. Das Zentrum ist in einem einfachen, zweigeschossigen Bürogebäude neben dem einzigen Hotel und Restaurant in Nain untergebracht. Es besteht aus zwei kleinen Laboren, eine Küchenzeile und einem Gemeinschaftsbereich, Büros und Übernachtungsmöglichkeiten. Sein Erfolg ging Hand in Hand mit der politischen Autonomie von Nunatsiavut.
Carla Pamak findet, dass viele Ziele des NISR in Nunatsiavut bereits erreicht sind. „Und viel von dem, was hier geschehen ist, hat die nationale Strategie ausgelöst“, so Pamak.
Was die vom Eis eingeschlossene Welt für Inuit bedeutet
SmartICE verdankt dem Forschungszentrum viel von seinem Erfolg und es ist damit nicht allein. Bruno Tremblay, außerordentlicher Professor an der McGill University, der Meereismechanik studiert, reist regelmäßig nach Nain, um die Auswirkungen von Gezeiten und Wind auf landfestes Eis zu untersuchen, das an der Küste oder am Meeresboden verankert ist.Seine Forschung beinhaltet den Einsatz von Bojen, um genauere Vorhersagemodelle für die Meereisdecke zu entwickeln. Er teilt die Daten frei mit Mitgliedern der Gemeinde und berät mit der Gemeinde darüber, wo Bojen platziert werden sollen, um berechtigte Bedenken für beide Seiten auszuräumen. „Es wird immer interessante wissenschaftliche Fragen geben, egal wo wir die Bojen einsetzen", sagte Tremblay, "also versuchen wir, uns an ihre Prioritäten zu halten.“ Tremblay arbeitet regelmäßig mit Joey Angnatok zusammen, einem Fischer, Handwerker und Teilzeit-Sozialwissenschaftler. Angnatok hilft Auswärtigen dabei, herauszubekommen, was eine von Eis eingeschlossene Welt für Inuit bedeutet, er erzählt Historisches und Familiengeschichten, die mit bestimmten Inseln, Buchten und Orten in Verbindung stehen.
Als freiwilliger Such- und Rettungshelfer kennt Angnatok auch ganz genau die Gefahren, die mit dem Fortbewegen auf dem Eis verbunden sind. Er wirkte bei der Pilotphase von SmartICE mit, half Forschern aus dem Süden das Land zu erkunden, setzte Bojen ein und kontrollierte sie.
„Ich war schon immer eine Art Wissenschafts-Geek“, meint Angnatok. „Ich habe mit den Ältesten gesprochen und sie sagten ‚Oh, ich habe noch nie ein Loch im Eis gesehen, was passiert da bloß? 'Dann höre ich von Forschenden, die etwas über den Salzgehalt des Wassers und andere Beobachtungen berichten. Und dann fängt man an zu sehen, wie es zusammengehört.“