Interview 5 plus 1
Der Reiz des Abwesenden

Judith Schalansky ist die neunte Autorin der Future Library. Am 21. Mai übergab die deutsche Schriftstellerin und Buchgestalterin am Rande Oslos in Nordmarka ihr Manuskript, das bis zum Jahre 2114 unveröffentlicht bleiben wird. Ein Gespräch über Geheimnisse, ihr Verhältnis zum Wald und die Magie neuer Rituale.
 

Was bedeutet es dir, Mitglied der Future Library zu sein?

Ich habe die Einladung, Teil dieser Gemeinschaft von Zeitkapsel-Autor*innen und Geheimnishüter*innen zu sein, mit Freude und Demut angenommen. Was die Künstlerin Katie Paterson mit der Gründung der Future Library geschaffen hat, ist nichts weniger als ein magisches Ritual – eine erfundene Tradition, die uns durch ihre jährliche Feier vor Augen führt, dass wir leben, aber zugleich Vorfahren sind.

Vor dir sind bereits Kolleg*innen wie Margaret Atwood, Karl Ove Knausgård und David Mitchell zum Waldstück der Nordmarka spaziert, in dem seit 2014 rund 1000 neu gepflanzte Fichten wachsen. Aus dem Holz werden Anfang des 22. Jahrhunderts die bis dahin geheimen Manuskripte gedruckt. Wie hast du die Übergabezeremonie erlebt?

  • Katie Paterson, Judith Schalansky, Kronprinzessin Mette-Marit und Ocean Vuong bei der Übergabezeremonie © Kristin von Hirsch
  • Judith Schalansky übergibt ihr Manuskript an Katie Paterson © Kristin von Hirsch
  • Publikum bei der Übergabezeremonie der Future Library © Kristin von Hirsch

Bei einem Moment, den man mehrfach antizipiert hat, ist es eine große Aufgabe, gegenwärtig zu sein. Ich war wahnsinnig aufgeregt und habe mich vorher gefragt, wie das Wetter wird und was ich anziehen soll. Zeremonien haben ja etwas Weihevolles und durch die Teilnahme von Kronprinzessin Mette-Marit kam noch ein gewisser Glamour-Effekt hinzu.
Es war bei all der Bedeutung eine nicht nur erhabene, sondern sogar sonnig-fröhliche Feier. Mein Kollege Ocean Vuong, der wegen einer Corona-Erkrankung erst in diesem Jahr sein Manuskript abliefern konnte, lud buddhistische Mönche ein, die den Ort segneten. Und auf meinen Wunsch hin sang Sinikka Langeland zwei Lieder nach Gedichten von Edith Södergran zu ihrer Kantele, einer finnischen Laute und später trug meine Frau Bettina Hoppe a capella „Forever Young“ von Alphaville vor. Es war eine wilde, aber absolut wunderbare Mischung.

Wie bedeutend war es für dich, dass deine Familie dabei war?

Das war mir schon sehr wichtig. Ich habe meine Mutter gefragt, ob sie kommen mag und sie hat sofort einen Flug gebucht. Gemeinsam mit meiner Tochter saß sie im Publikum.
Anne Beate Hovind vom Future Library Trust bezeichnet uns Autor*innen als eine Art alternative Familie. Man wird aufgenommen, man gehört zu denen, die ihre Texte überreichen. Und zugleich ist die Zeremonie schon jetzt eine Tradition, die von den teilnehmenden Familien und Freundesgruppen zum Teil ihrer eigenen Riten und Gewohnheiten gemacht wird. Das ist glaube ich einer der vielen Aspekte, was die Leute so an der Future Library anspricht. Das Projekt erinnert uns aber auch daran, dass es Wahlverwandtschaften gibt. Schließlich gehen wir beim Lesen und Schreiben noch andere, alternative Verwandtschaftsverhältnisse ein und finden Zugehörigkeiten oder sogar Heimat in der Literatur.

Die für das Projekt gepflanzten Fichten bilden ebenfalls eine Art Familie und haben längst Wurzeln geschlagen. Wie ist dein Verhältnis zum Wald?

Mein Waldbild ist wenig überraschend stark von den Märchensammlungen der Gebrüder Grimm geprägt, die bezeichnenderweise zu einer Zeit niedergeschrieben und veröffentlicht wurden, als die Urwälder bereits durch Bergbau, Kriege und vorindustrielle Landwirtschaft abgeholzt waren. In den Märchen ist der Wald ein gespenstischer, aber auch magischer Ort, ein Ort der Prüfung, der Begegnung mit höheren Mächten, der Transformation. Niemand verlässt ihn unverändert.
Es findet eine Wandlung statt, und ich würde gerne glauben, dass Wälder – nicht zuletzt der Fichtenwald der Future Library – in der Lage sind, Menschen zu verändern.
Während der Feier erklärte der Forstverwalter, dass wir uns jetzt überlegen müssen, wie wir dieses Waldstück ›managen‹. Und erinnerte daran, dass die heutigen Wälder Kulturlandschaften sind, um die wir uns fortwährend kümmern und nicht zuletzt immer wieder entscheiden müssen, wie groß unser Einfluss eigentlich sein soll.

Der Silent Room in der Deichman Bibliothek Bjørvika. © Alva Gehrmann Die Manuskripte von deinen Kolleg*innen und dir liegen nun zum Greifen nah im holzverkleideten Silent Room der Bibliothek Deichman Bjørvika. Der Raum wurde aus jenen Bäumen erschaffen, die man für die Future Library in Nordmarka gefällt hat. Befürchtest du, dass du irgendwann den Inhalt deines Manuskriptes verrätst?

Geheimnisse für mich zu behalten gehört nicht unbedingt zu meinen Stärken, aber ich bin  dem magischen Denken doch so weit verhaftet, dass ich diesen Vertrag dahingehend auf jeden Fall erfüllen und nichts verraten werde. Das Dokument ist auf meinem Computer nicht mehr auffindbar, das hat auch etwas Erleichterndes.
Das Abwesende kann übrigens genauso präsent oder sogar noch präsenter sein, als die Dinge, die zugänglich sind. Es ist ein bisschen wie mit den Sachen, die wir im Keller horten. Sie sind außer Sicht, schlummern da vor sich hin, und ebenso tun das nun unsere Texte. Mir gefällt die Vorstellung, dass sie dort vielleicht miteinander reden, raunen oder flüstern, sich vielleicht etwas zu sagen haben. Oder auch sich bedeutungsvoll anschweigen.

Plus 1: Welchen Beruf hättest du gewählt, wenn du nicht Schriftstellerin, Gestalterin oder Herausgeberin geworden wärest?

Vielleicht wäre ich Physiotherapeutin geworden, weil ich sehr gerne andere Menschen massiere. Wir leben ja in einer Gesellschaft, in der man sich nicht so oft anfasst und vor allem nicht, wenn man sich nicht gut kennt. Ich tue das oft ganz gerne und habe die Erfahrung gemacht, dass ich dann tatsächlich auf eine Weise fühlen kann, was die Massierten fühlen. Eine wortlose Kommunikation, der ich auch einiges abgewinnen kann.


Judith Schalanskys Manuskript für die Future Library ist zwar noch 91 Jahre eingeschlossen, doch ihre preisgekrönten Bücher wie „Atlas der abgelegenen Inseln“ (mareverlag) und „Verzeichnis einiger Verluste“ (Suhrkamp Verlag) sind jederzeit verfügbar.