Judith Geare – Wenn der Beruf zur Berufung wird
37 Jahre lang prägte sie das Goethe-Institut Neuseeland wie keine andere Mitarbeiterin. Mit ihrem Abschied geht eine Ära zu Ende. Die Leiterin der Sprachabteilung hat gemeinsam mit der Journalistin Alexandra Falk auf ihre Arbeit und die des Instituts zurückgeschaut und festgestellt: „Erst wenn man mal hochguckt, merkt man plötzlich: Oh Gott, wie viele Jahre mache ich das jetzt? Das kommt mir wie vorgestern vor, dass ich hier angefangen habe.“
Von Alexandra Falk
„Wie viele Leute können schon von sich behaupten, 37 Jahre lang eine Arbeit auszuüben, die jeden Tag Spaß macht? Das ist ein Luxus und ich bin super dankbar dafür.“ Der Satz sitzt und hallt noch ein wenig in Judith Geares geräumigen Büro nach, nachdem ich sie gefragt habe, was ihr letztes Wort für unser Interview sein soll. Sie ist eine quirlige Frau mit Brille, kurzem Pferdeschwanz und einem großen Herz für deutsche Sprache, Literatur und Musik, sowie voller Wertschätzung für ihre Kolleg*innen und ihre unzähligen Schüler*innen – fast 40 Jahre lang hat Judith Geare das Goethe-Institut in Wellington geprägt wie keine andere. Dieses Jahr nimmt sie nun ihren Hut als Leiterin der Sprachabteilung und sagt erstmal „Tschüss“.
Wir schlendern auf der berühmten Cuba Street entlang. Bunte Menschen tummeln sich hier, die Musik einer Flötenspielerin dringt durch die Gassen und schon von weitem hören wir das plumpe Platschen des Wahrzeichens dieser Einkaufspassage – den Bucket Fountain. „Ich liebe die Cuba Street und bin Knut Heuer so dankbar, dass er uns hierhergebracht hat“, erklärt mir Judith. Sie kennt die beliebte Passage wie ihre Westentasche, das Goethe-Institut liegt nur einen Steinwurf entfernt und Knut Heuer war einer der ehemaligen Leiter. Heute sei das kaum vorstellbar, aber Anfang der 90er Jahre habe es selbst in der Cuba Street kaum guten Kaffee gegeben, erklärt Judith weiter, aber jetzt seien die Möglichkeiten schier endlos.
Wir laufen die Straße hinunter in Richtung Hafenpromenade, zur nun wegen Erdbebenschäden geschlossenen Stadtbibliothek. Judith will mir zeigen, wo alles anfing. Genau hier hat das Goethe-Institut in Neuseeland ein erstes Büro bezogen. Das war 1980, Judith kam vier Jahre später dazu. „Ich war 29 Jahre alt als ich hier anfing.“ Wir stehen an einer Straßenecke am Civic Square und sie deutet mit dem Finger auf die zurzeit geschlossene Bibliothek: „Wir waren Ecke Mercer und Victoria Street. Das war ein dreistöckiges grünes Häuschen, ganz nett. Ich hatte ein wundervolles Klassenzimmer in dem Gebäude. Wir sind dann rausgezogen, das grüne Haus wurde abgerissen und dann kam die Stadtbibliothek hierher.“
Es gibt ein Foto von Judith, das zwar nicht in den 80er Jahren, aber Anfang der 90er geschossen wurde. Darauf ist eine junge Frau zu sehen, die da bereits in ihrem Büro in der heutigen Location des Instituts in der Cuba Street sitzt, umgeben von Akten- und Zettelbergen. Die Frau lacht fröhlich in die Kamera und ihr Blick scheint zu sagen: Zuviel Arbeit gibt es nicht, das schaff ich schon alles. Typisch Judith, meint eine ihrer Wegbegleiterinnen, die Verwaltungsleiterin Elke Diedrichs: „Judith hatte nie Angst vor großen Projekten. Was wir manchmal gestemmt haben, haben größere Institute mit 20 Mitarbeitern nicht geschafft.“ Elke erzählt mir auch, dass Judith immer „Outside the Box“ gedacht hat. In den 90ern zum Beispiel, als dieses seltsame Internet auf einmal für alle interessant wurde, hat das Institut in Wellington als eines der ersten Goethe-Institute Deutsch-Lehrkräfte zum Thema Internet geschult. „Uns hat das alles einfach immer Spaß gemacht. Das Institut lag uns einfach immer am Herzen. Judith hat nie gesagt: Das ist aber eine blöde Idee. Wir haben immer einen Weg gefunden, wie wir die Dinge umsetzen konnten“, erklärt Elke, die bei Goethe auch heute noch Ansprechpartnerin für IT-Fragen ist.
Zurück auf dem Civic Square frage ich Judith, ob sie sich noch an ihren ersten Arbeitstag erinnern kann? „Ja! Ich war so nervös. Denn ich sollte Deutsch unterrichten, aber ich bin keine Muttersprachlerin. Ich dachte, ich darf auf keinen Fall einen Fehler machen, habe mich stundenlang vorbereitet. Und dazu kam, dass das dann auch noch das Telefon klingelte, und es war jemand von der Deutschen Botschaft dran. Ich bin fast gestorben. Von der Deutschen Botschaft, das war sehr aufregend.“ Judith erzählt weiter, dass der Anruf aus der Botschaft damals vom Pförtner kam, der mittlerweile ein guter Freund geworden ist. Dass sie einmal so lange beim Goethe-Institut bleiben würde, hätte sie selbst nie gedacht. Nach dem Lehramts-Studium in Christchurch hatte Judith immer nur für ein Jahr eine Stelle als Lehrerin an verschiedenen Schulen angenommen und selbst als es beim Institut klappte, sollte die Anstellung als Vertragslehrkraft eigentlich höchstens für zwei Jahre sein. Aber es kam ganz anders.
Wir gehen weiter in Richtung Anvil House an der Wakefield Street. Das Gebäude war mal ein Standesamt und diente 1989 für ein Jahr als Zwischenlösung für die Goethe-Mitarbeiter*innen, weil der Umzug zum heutigen Standort in der Cuba Street wegen Renovierungsarbeiten noch nicht möglich war. Während der mittlerweile zweite Institutsleiter damals alle Hände voll mit der Planung des Umzugs zu tun hatte, widmete sich Judith voll und ganz dem Sprachunterricht. „Ich glaube, wir hatten gefühlt ein Jahr lang schlechte Laune in dem Anvil House. Das war ein Großraumbüro und an den Wänden diese schreckliche senfgelb-braune Tapete aus den 70er Jahren“, erinnert sie sich und muss dabei lachen.
Judith selbst hat ihre Liebe zur deutschen Sprache schon als Schülerin entdeckt und das Land später als Studentin bei Stipendiums-Aufenthalten in Trier und Weimar kennen und lieben gelernt. Sie liebt es, davon zu erzählen, wie sie damals das Wort „Eichhörnchen“ fälschlicherweise gegenüber ihrer Gastmutter als „Einhörnchen“ aussprach und kann immer noch herzhaft darüber lachen: „Das ist eine wunderbare Sprache. Ich habe immer ein Problem mit Leuten, die sagen, Deutsch ist keine schöne Sprache. Als ich das erste Mal in Deutschland ankam und eine Frau hörte, die im Fernsehen die Wetteransage machte, dachte ich: Klingt das schön!“ Ihr Lieblingswort ist und bleibt wahrscheinlich das Wörtchen „Wunderbar“, niemand sagt es so oft und enthusiastisch wie Judith. Es scheint ihre eigene Begeisterung für eine Sprache zu unterstreichen, bei der sie immer etwas Neues entdeckt und bei der sie nicht müde wird, sie anderen im Unterricht beizubringen.
Am Eingang des Anvil Houses hängt nun ein großes „For Lease“-Schild. Judith zieht die Augenbrauen hoch und erklärt mir in deutscher Direktheit, dass sie da nicht wieder einziehen würde. Ich nicke. „Das Einzige was witzig war in dieser Zeit, war, dass große samoanische Familien mit den süßen Babys bei uns klingelten und das Kind registrieren lassen wollten. Wir haben denen dann erklären müssen, dass das Standesamt hier nicht mehr ist“, fügt sie grinsend hinzu.
Langsam machen wir uns wieder auf den Rückweg in die Cuba Street, genauer gesagt zur Adresse 148-150 Cuba Street, dem Sitz des Goethe-Instituts seit 1990 bis heute. Wir reden über Höhen und Tiefen durch die so ein Institut in mehr als 40 Jahren gegangen ist. Mit 37 Arbeitsjahren war Judith quasi immer mit dabei. „Es gibt so viele Highlights, aber eines ist auf jeden Fall die Aufführung von Wagners Meistersingern beim International Festival of the Arts. Das war unglaublich“, erklärt sie. Kurz danach sprudeln weitere Höhepunkte aus ihr heraus: Ausstellungen, Konzerte, Posterkampagnen, Filmvorführungen. „Sobald wir in die Räume in der Cuba Street gezogen waren, ging es mit Kulturveranstaltungen richtig los“, sagt Judith. Nicht zu vergessen, sind auch die ganzen Sprachschüler*innen, die Judith auf ihrem Weg begleiten durfte. Später erfahre ich von Elke Diedrichs, dass Judith auch den ein oder anderen heute sehr bekannten Schüler in Deutsch unterrichtet hat. Zum Beispiel Filmemacher und Schauspieler Taika Waititi, der damals noch Taika Cohen hieß und 1999/2000 im Rahmen der International Language Week im neuseeländischen Parlament eine Rede auf Deutsch hielt.
Nach Tiefen des Instituts gefragt wird Judith nachdenklich: „Wenn ich beispielweise erfahren habe, dass eine Schule Deutsch als Fremdsprache aufgibt, war das immer sehr traurig.“ Geärgert habe sie sich auch einmal über das fehlende Engagement eines Institutsleiters, aber das sei wirklich die Ausnahme gewesen. Für Judith ist wichtig, dass die Menschen, die im Goethe-Institut arbeiten, bei allem mit anpacken. „Synergien müssen entstehen, damit die Leute sagen: Aha, da kann man Deutsch lernen und diese tolle Ausstellung kam aus Deutschland zum Beispiel. Synergien zwischen Sprache und Kultur sind wichtig.“
Wir biegen wieder am unteren Ende der Cuba Street auf die Einkaufspassage ein. Das Wasser des Bucket Fountains hört man schon wieder von weitem auf den Weg platschen. Auch die Flötenspielerin ist noch da. Ein kleiner Junge sitzt mit der Gitarre auf dem Boden und schmettert voller Inbrunst Lieder von Adele. Judith lächelt und bleibt auf einmal wie angewurzelt stehen. „Michael“, ruft sie. Der ältere Herr, der uns entgegenkommt, fängt sofort ein Gespräch auf Deutsch mit ihr an und zeigt ihr Kunstdrucke von Vögeln, die er unter dem Arm trägt. Als Judith mein erstauntes Gesicht sieht, erklärt sie, dass dieser Mann Teilnehmer der Senioren-Gruppe im Goethe-Institut ist. Ich werde im Gespräch mit Elke nochmal an die Seniorengruppe erinnert, denn laut Elke war und ist Judiths oberstes Credo immer gewesen, jedem, der Deutsch lernen will, mit ganz viel Energie und Empathie zu helfen: „Egal wer das ist und wie alt derjenige ist oder wo er herkommt, das sind für Judith alles Kursteilnehmende. Wenn man da mal eine Liste machen würde, für wie viele Karrieren sie verantwortlich ist. Ehemalige Sprachschüler*innen kommen manchmal nach 20 Jahren wieder und erzählen ihre Geschichte: Tennislehrerinnen, Schauspieler, Musikerinnen, Fußballspieler, Galeristinnen, Opernsänger – so viele unterschiedliche Menschen und Judith hatte immer ein offenes Ohr“, erzählt sie.
Elke und Judith sind einen Großteil ihrer Zeit beim Goethe-Institut in Wellington zusammen gegangen. Judith könne sehr stolz auf alles Erreichte sein, sagt Elke. Intern habe sie schon die Goethe-Medaille für ihre Verdienste bekommen und dann 2019 als Leiterin der Sprachabteilung sogar den neuseeländischen Orden „Order of Merit“ erhalten. „Das war schon ein besonderer Moment, aber ich wette, dass ihr es viel mehr bedeutet, dass sie Einfluss auf das Leben und die Zukunft von so vielen Schüler*innen gehabt hat. Das bedeutet ihr sicher viel mehr“, erklärt Elke. Ich will es genauer wissen und spreche Judith auf dem Weg ins Institut noch einmal auf ihre Auszeichnung an. Sie sieht den Orden eher als Symbol, der die Arbeit des ganzen Goethe-Teams und aller Deutsch-Lehrer in Neuseeland schätzt: „Ich habe mich riesig gefreut, denn es ist selten, dass Fremdsprachen und gerade Deutsch bei solchen Ehrungen vertreten sind. Ich habe mich als Frontperson für das ganze Team gesehen, also Lehrende, Lernende und Kulturschaffende.“
Wir steigen in den Aufzug des Bürogebäudes, das über die Jahre so etwas wie Judiths zweites Zuhause geworden ist. Hier hat sie in den vergangenen 37 Jahren all ihre Energie und Kreativität investiert, unzählige Unterrichtsstunden abgehalten sowie Projekte organisiert und realisiert. „Die Frau hat eine Power, das ist unglaublich. Sie ist morgens die Erste und abends oft die Letzte, die das Licht ausmacht. Was ich an ihr am meisten bewundere, ist, dass sie immer den Leuten helfen will und ganz viel Empathie hat“, schwärmt Elke im Rückblick auf die gemeinsame Zeit als Kollegin und sicher auch als Freundin.
Der Aufzug fährt nach oben. Judith hat die kleine Reise in ihre berufliche Vergangenheit genossen, sagt sie. Die Fahrstuhltüren öffnen sich und vor dem Institutseingang begrüßt uns ein animiertes Gemälde des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein von Goethe. „Herzlich Willkommen im Goethe-Institut Neuseeland“ dringt es aus Goethes animiertem Mund. Judith lächelt zufrieden. Als letztes Frage ich sie: Wenn du einen Strich unter fast 40 Jahre Goethe Institut ziehen müsstest..., aber sie unterbricht mich schnell: „Ich will keinen Strich ziehen, das ist doch alles fließend. Was soll ich machen, wenn ich den Strich gezogen habe?“ Dich fragen, was bleibt, antworte ich. Judiths Gesicht hellt sich auf: „Eine Menge. Ich könnte anfangen zu reden und nie aufhören. In erster Linie sind es die Menschen. Alle Menschen, mit denen ich lange zusammengearbeitet habe. Alle Leute, die Deutsch gelernt haben, die fantastischen Deutschlehrer in den Schulen, mit denen ich das Privileg hatte, zusammenzuarbeiten. Die ganzen Leute, die ein bisschen Deutschland entdeckt haben, bei irgendeiner Kulturveranstaltung. Die Leute, die in die Meistersinger gehen konnten, beim International Festival. Die Leute, die eine Ausstellung gesehen haben oder das neuseeländische Ballett, wo ein deutscher Choreograph einen Beitrag geleistet hat. Ich finde Netzwerke und Verbindungen sind so faszinierend und schön. Sie öffnen Türen zu vielen Sachen.“