Michael Stevenson
Goethe-Institut Neuseeland und Contemporary HUM präsentieren eine Artikelserie über neuseeländische Künstler*innen, die in Deutschland physisch und künstlerisch ein neues Zuhause gefunden haben. Anna Gritz kuratierte Michael Stevensons Austellung Disproof does equal Disbelief at KW Institute for Contemporary Art in Berlin 2021.
Von Anna Gritz
Ein piependes Geräusch, das sich alle neunzig Sekunden wiederholt, bricht durch die Stille des Ausstellungsraums – es stört, ist in diesem Raum aber regelmäßig zu hören. Wie lange ist es schon da? Das Geräusch erinnert an das Quietschen von Turnschuhen in einer Turnhalle. Es ist spitz und hoch, unterbricht die Aufmerksamkeit, ist schnell wieder vergessen, und taucht letztlich wieder auf. Es ist ein vertrautes Geräusch, jedoch schwer einzuordnen. Nur durch die Wiederholung lässt sich irgendwann feststellen: hier handelt es sich um einen Feuermelder, dessen Batterie langsam zur Neige geht – ein Alarm, der nicht vor einem sich anbahnenden Unglück warnt, sondern davor, dass er im Falle eines Brandes nicht mehr warnen kann, weil er nicht genügend Strom hat.
Auf dieses Geräusch stieß Michael Stevenson zum ersten Mal in Berichten über die Weltfinanzkrise. Man stelle sich verlassene und nie bewohnte Neubaugebiete außerhalb der sich ausdehnenden Großstädte vor. Durch diese leeren Straßen schallte damals eine ganzer Chor von Rauchmeldern. Während sich die Krise weiter zuspitzte, warnten die Rauchmelder vor ihrer eigenen Unfähigkeit im Falle einer anderen Alarm zu schlagen. Ein zeitgenössisches Problem verknüpft mit dem Gefühl sich anbahnenden Unheils – dieses Motiv ist für die Kunst Michael Stevensons von zentraler Bedeutung. Dafür hat er eine ganz eigene Künstlersprache entwickelt, der es gelingt die Gleichzeitigkeit von abwechselnd zeitlichen, kausalen und richtungssuchenden Grundlagen auszudrücken. Das vielseitige Forschen und Beobachten der führenden und ideologischen Strukturen der Menschheit lässt Stevenson Anekdoten und Mikronarrative aufgreifen, die die Verbindungen zwischen Fachgebieten wie Wirtschaft, Technologie, Bildung, und religiösem Glauben, und Massenmedien, die deren Reichweite verstärken, kommentieren.
Stevenson wurde 1964 in Inglewood, Neuseeland, geboren. Bis 1986 studierte er an der Elam School of Fine Arts in Auckland, seit 2000 lebt er in Berlin. Er hat vielfach national und international ausgestellt und vertrat Neuseeland auf der 50. Biennale in Venedig. Seit 2011 ist er Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Fast drei Jahre dauerten die Vorbereitungen für seine Einzelausstellung, die ich 2021 am KW Institute for Contemporary Art kuratiert habe. Unser gemeinsames Interesse an Architektur hat mir während dieser Zeit einen einzigartigen Einblick in diesen Teil seiner Praxis gewährt. Architektur unterstützt nicht nur Stevensons künstlerischen Prozess, sondern stärkt auch das verbindende Gefühl zu seiner Heimatstadt Berlin. Auf der Suche nach versteckten postmodernen Schätzen im Berliner Stadtbild, zeigten wir uns oft gegenseitig Bilder von unseren architektonischen Erkundungstouren. Vom ‚Mäusebunker‘ über John Hejduks Meisterwerke, bis hin zur Pop-Architektur von Ludwig Leo und weniger bekannten traditionellen Bauwerken – gemeinsam bildeten sie den Hintergrund, vor dem unsere Gespräche über die Ausstellung und unser Leben in Berlin regelmäßig stattfanden.
Stevenson beschäftigte sich zunächst mit Malerei, Zeichnung und Fotografie. Inzwischen hat er eine vielseitige Praxis entwickelt und produziert komplexe, umfangreich recherchierte skulpturale Installationen im Großformat. Er arbeitet auch in anderen Medien wie Film, Bildhauerei, Druckgrafik und im Bereich Buchveröffentlichungen.
Seine jüngsten Werke befassen sich mit Fragen des Glaubens und der Investition in die ersten Massenmedien. Dabei konzentriert er sich vor allem auf die Fernseh-Spendengala, während seiner Kindheit in Neuseeland ein häufig übertragenes Phänomen. Das für ihn denkwürdigste Ereignis war der Spendenmarathon des South Pacific Television Networks für die Mental Health Foundation of New Zealand im Jahr 1977. Die Konsequenz dieses „Telethons“ war eine nicht endend wollende Übung der Medienhetze, angeheizt durch augenscheinlich echte körperliche und geistige Erschöpfung. Der Spendenmarathon wurde so zum Warnspiegel der öffentlichen Gesundheitskrise, die er eigentlich zu überwinden versuchte. Man denke an Moderatoren und Teilnehmer mit Dreitagebärten, hochgekrempelten Ärmeln und aufgeknöpften Hemden, die erschöpfte Aufmerksamkeitsspanne und ebenso erschöpften Geldbeutel der Zuschauer*innen, die sich – eingewickelt in Decken und von Knabbertellern ernährend – stundenlang auf ihren Sofas räkeln und endlos Schecks schreiben.
Das Werk Hold Up to Live Camera aus dem Jahr 2021 (im selben Jahr erstmals ausgestellt in Disproof does equal Disbelief am KW Institute for Contemporary Art in Berlin) präsentiert diesen problematischen Themenkomplex in der Form eines überdimensionalen Fernseh-Schecks. Stevensons Reproduktion (Tinte auf Latex) wurde über die Rückwand einer der Galerien am KW gespannt. Der große, klebrige Gummischeck spielt auf den fraglichen Austausch von Werten in der Spendengala-Industrie an. Gleichzeitig verdeckt er die Öffnung zu einem dahinterliegenden Raum, der durch das halbtransparente Latex kaum zu erkennen ist. Der Raum ist gefüllt mit realen und imaginären Requisiten aus dem TV-Ereignis Cheap Heat (2021). Die Requisiten scheinen gegen das gespannte Gummi zu drücken, als wollten sie die dünne Fassade des eigenen moralischen Kompasses durchbohren. Technische Geräte, Erinnerungsstücke und Fanpost nehmen den Raum ein, der sowohl als Requisitenkammer als auch als metaphorischer Vermittlungsraum hinter dem Gemälde fungiert. So wird die Durchbrechung der vierten Wand zum Publikum während des Spendenmarathons greifbar gemacht.
Cheap Heat war nicht nur die Antwort auf ein entscheidendes Ereignis in der Entwicklung der Massenmedien in Neuseeland, sondern ist auch ausschlaggebend für die Art und Weise, wie mit Medien heutzutage umgegangen wird. Wird der Vorhang über dieses Ereignis der Fernsehgeschichte zurückgezogen, lernen wir über unsere eigene gespannte Beziehung zu den Massenmedien, die die Quelle für einen Großteil unserer Erschöpfung, Ungläubigkeit und Unfähigkeit ist, zwischen der Realität auf dem Bildschirm und der außerhalb des Bildschirms zu unterscheiden. Der Titel Cheap Heat wurde einem anderen Fernsehereignis entnommen, welches schon zu Zeiten des Fernsehmarathons auf dem Vormarsch war: das WWF Championship Wrestling. In einem sorgfältig choreografierten Kampf, bezieht sich der Titel auf genau den Moment, in dem der Ringkämpfer Anlauf nimmt und einen "billigen" (d. h. simulierten) Angriff auf seinen Gegner ausführt. Obwohl das vermeintliche Geheimnis des gestellten Angriffs sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Wrestling-Gemeinschaft weithin bekannt ist, scheint das Wissen um diese Täuschung den Reiz dieser Programme nicht zu schmälern. Der Fachbegriff für diese Unglaubwürdigkeit, die sich vom Wrestling und den Fernsehserien bis hin zum Wirklichkeitsfernsehen, der Werbung, Instagram-Filtern und sogar bis in die Politik durchgesetzt hat, lautet Kayfabe. Der Begriff steht für eine vorgetäuschte Realität, die zu beweisen scheint, dass – egal wie offensichtlich gefälscht die Information ist – sie ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlen wird, solange sie genügend öffentliche Zustimmung findet.
In Stevensons Werken sehen wir uns in der Regel mit einem Duplikat oder Doppelmotiv konfrontiert, oft in der Form eines architektonischen Raums, der auf komplexe und nicht-lineare Weise mit einem Zweiten verbunden ist. Dies trifft hier eindeutig zu, denn das Schaufenster mit den Requisiten verbildlicht gleichzeitig die Folgen und die Schlüssigkeit des Spendenmarathons – beide Seiten des Werkes unterstützen sich in ihrer Bedeutung gegenseitig. Dieses anachronistische Verhältnis zur linearen Zeit spricht für Stevensons Interesse an gegensätzlichen Wissensstrukturen, Ursprungsmythen und Weltanschauungen, die er nebeneinander existieren lässt, um ihre Gemeinsamkeiten durch räumliche Nähe zu verdeutlichen.