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Genrekino: Das deutsche Kettensägenmassaker (Christoph Schlingensief, 1990)
Goethe on Demand
Mit zwölf Filmen aus vier Genres will das Genrekino aus Deutschland die Lust am Genrefilm wecken und Einblick in überraschend vielseitige Tendenzen deutschen Filmschaffens geben. 2023 wird monatlich ein Film aus den Genres Science-Fiction, Krimi, Roadmovie und Horror präsentiert.
DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER
Regie: Christoph Schlingensief
1990, Farbe, 63 min
Genrekino Horror
Oktober 1990: Vor dem Brandenburger Tor in Berlin feiern die Deutschen ihre Wiedervereinigung. Bundespräsident Richard von Weizsäcker spricht von Einheit und Freiheit. Eine junge Frau bringt mit einem gewaltigen Messer ihren Mann um und flieht. Ihr Fahrzeug, Marke „Trabant", weist Clara als „Ossi" aus. Sie passiert die letzten Überbliebenen der alten Grenztruppen und gelangt in den Westen. Auf solche wie sie hat eine Metzgerfamilie gerade gewartet. Alfred und sein Anhang profitieren von der Öffnung der Grenzen auf ihre eigene Art: Sie metzeln und schlachten die Brüder und Schwestern aus dem Osten, bevorzugt mit einer Kettensäge, und verarbeiten sie zu Wurst. Christoph Schlingensief, der große Provokateur, gibt eine verstörende und sehr blutige Antwort auf einige Fragen zur deutschen Wiedervereinigung.
Filmkommentar
Bilder, die um die Welt gingen: Am 3. Oktober 1990 fand in Berlin die offizielle Feier zur deutschen Wiedervereinigung statt.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach von Einheit, von Freiheit und vom Frieden. Helmut Kohl, Dietrich Genscher, Willy Brandt standen mit auf dem Podium. Groß weht die deutsche Fahne im Bild, Feuerwerkskörper steigen in den Nachthimmel, dann singen alle die Nationalhymne der Bundesrepublik. Gegen die offiziellen Bilder setzt Christoph Schlingensief seine eigenen: Eine angetrunkene Frau grölt: „Die Gedanken sind frei...", ein Schild mit der Aufschrift „DDR" kippt aus dem Bild, ein singendes Paar fährt durch ein kaputtes Industriegelände. Dann ein ironisches Insert: „Seit der Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 haben Hunderttausende von DDR-Bürgern ihre alte Heimat verlassen. Viele leben heute unerkannt unter uns. Vier Prozent kamen niemals an."
DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER erzählt vor allem von diesen (fiktiven) vier Prozent. Von Clara zum Beispiel, die ihrem Mann in Großaufnahme die Kehle durchgeschnitten hat - vielleicht hatte er zu naiv von seinem neuen „Westchef" geschwärmt und zu unsensibel Sex eingefordert. Während noch die Polizei in dem überall mit Blut verschmierten Raum recherchiert, flieht Clara in einem Auto, Marke „Trabant", mit dem sie überall als „Ossi" zu identifizieren ist, in Richtung Westen. Sie passiert einen übriggebliebenen Grenzposten, ignoriert deren letzte vergebliche Gesten der Macht und eine Tafel mit dem Hinweis „Willkommen in Deutschland".
Der alte Alleinvertretungsanspruch hat auch nach der Wiedervereinigung Bestand. In einer Kneipe („Café Porsche") ruft sie ihren Freund an und verabredet sich. Artur hat in einem Industriegelände bereits Matratzen für ein Liebeslager vorbereitet und will sofort mit ihr schlafen. Clara widersetzt sich. Ein Voyeur geht auf Artur los, Clara flieht und will Hilfe holen. Sie trifft auf den Clan des Metzgers Alfred, der vor allem die Ausübung seines Berufs im Sinn hat. Die Frau aus dem Osten wird fortan zum Jagdobjekt, Alfred will sie verwursten, Margit will mit ihr Sex, Dietrich möchte sie mit der Kettensäge zerlegen. Der Alptraum eskaliert in einer Orgie von Blut und Gewalt, auch das singende Paar vom Anfang fällt dem Treiben der Schlachter-Familie zum Opfer. Im Hintergrund eskaliert auch noch ein alter Familienstreit; zu Claras letzter, vermutlich aussichtsloser Flucht singt Ernst Busch das alte kommunistische Kampflied „Der rote Wedding marschiert".
Christoph Schlingensiefs DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER ist eine provokante, mitunter nahezu hysterische Mischung aus Wut und Blut, dem Genre des „Trash-Movies" wie Tobe Hoopers TEXAS CHAINSAW MASSACRE und seiner Fortsetzungen ebenso verbunden wie dem klassischen Horror von Hitchcocks PSYCHO. Das ist nicht nach jedermanns Geschmack, entsprechend haben einige Zuschauer bei den ersten Aufführungen darauf reagiert. Sogar ein Münchner Staatsanwalt hat (vergeblich!) versucht, gegen den Film vorzugehen. Der Autor und Regisseur sah das entspannter und verwies in einigen Interviews auf die durchaus finstere und bitterböse, aber eben doch komödiantische Seite seines Werks. Gleichzeitig hat er auch davon erzählt, wie damals die Wut in ihm aufkam über die „Bananenbilder" und „Heuchelbilder" im Fernsehen - als die neuen Besucher aus dem Osten vom Westen mit Südfrüchten (in der DDR eine Mangelware) willkommen geheißen wurden, während er selbst vor allem die Vereinnahmung und Ausbeutung durch die westliche Wirtschaftsmacht gesehen habe.
„Nur scheinbar veranstalten Schlingensiefs Protagonisten ein Blutbad ohne Grund, in Wahrheit verkörpern sie die radikalste und geschmackloseste Absage an den Taumel von Eintracht und Vereinigung. Es sind wildgewordene Obsessionen. Was zusammen-wachsen soll, zerstückeln sie." (epd Film) Verstörend ist auch das atemlose Tempo dieser Alptraum-Collage, in der sich auch die Töne (Leitmotiv: das Geheul einer Sirene) ständig zu überschlagen drohen und die Figuren wie durch einen Comic rasen, bis sich die einzelnen Teile der Story zusammenklumpen und ihre Identifizierbarkeit verlieren wie die Brocken in den grausigen Produkten des Metzgers Alfred, der programmatisch erklärt: „In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es unwichtig, ob etwas gut ist oder schlecht!" Das trifft genau die Intentionen des Regisseurs: „Ich will das Böse schildern!" Die Wahrheit sucht er gerade in der Übertreibung, auch wenn sie mitunter schwer zu ertragen ist.