Anspruchsvolle TV-Serien gelten als eines der interessantesten Erzähl-Formate der Gegenwart. Führend sind US-amerikanische Produktionen, inzwischen investieren aber auch viele europäische Fernsehsender in das Genre. Deutschland tat sich bislang schwer. Das soll sich nun ändern.
Von Klaus Lüber
Das Fernsehen erfindet sich neu – nur in Deutschland nicht. So lässt sich eine Debatte in aller Kürze zusammenfassen, die nun schon seit Jahren unter Zuschauern, Fernsehkritikern, Journalisten und TV-Redakteuren des Landes geführt wird. Streitpunkt ist das Genre Qualitäts- oder High-End-Serie. Als Hauptmerkmale gelten eine aufwändige Produktion auf Kino-Niveau, erstklassige Schauspieler, hohe Komplexität und eine episodenübergreifende, sogenannte „horziontale“ Erzählweise.
Lange zählten zu den wichtigsten Vertretern des Formats vor allem US-amerikanische Produktionen wie Breaking Bad, Mad Men oder Homeland. Nach und nach investierten auch viele europäische TV-Sender in anspruchsvolle Serienproduktionen. Doch das deutsche Fernsehen tat sich schwer mit dem Genre. Während immer größere Teile der deutschen Mittelschicht begeistert ausländische Qualitätsserien konsumierten, zeigten deutsche Sender wenig Interesse, selbst in das Format zu investieren.
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© WDR/Bavaria
Berlin Alexanderplatz (WDR, 1980, 14 Folgen)
Rainer Werner Fassbinder führte Regie bei der Verfilmung des gleichnamigen Großstadtromans von Alfred Döblin über den Leidensweg des Ex-Häftlings Franz Biberkopf im Berlin der 1920er-Jahre. Die düstere Serie löste bei der Erstausstrahlung in der Öffentlichkeit kontroverse Diskussionen aus, zumal sie mit ihrer assoziativen Montage und artifiziellen Lichtdramaturgie eine für damalige Fernsehproduktionen ungewohnte Kinoästhetik übernahm. Unter vielen Kritikern gilt sie bis heute als geniales, ästhetisch überhöhtes Porträt der politischen und sozialen Wirrungen der späten Weimarer Republik.
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© WDR/SFB/Reitz
Heimat (ARD, 1984 – 2004, drei Reihen, 30 Episoden)
Die Filmtrilogie des Regisseurs und Autors Edgar Reitz – „Heimat“ (1985), „Die Zweite Heimat“ (1992), „Heimat 3“ (2004) – erzählt das Schicksal einer Dorffamilie im Südwesten Deutschlands. Das über 50-stündige Werk verbindet Fiktion und Dokumentation zu einer Chronik deutscher Geschichte von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Jahrtausendwende. „Heimat“ fand international große Beachtung. Mit authentischen Milieuschilderungen, epischer Erzählweise und dem Wechsel zwischen Schwarzweiß- und Farbsequenzen nimmt die Trilogie die innovative Ästhetik und Narration moderner US-Serien vorweg.
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© WDR
Kir Royal (ARD/WDR 1985, eine Staffel, 6 Episoden)
Im Mittelpunkt der sechsteiligen Fernsehserie stehen der Boulevard-Reporter Baby Schimmerlos und das Münchner Prominenten-Milieu aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Das Drehbuch schrieb Regisseur Helmut Dietl zusammen mit dem Bestseller-Autor Patrick Süskind („Das Parfüm“). Die spöttische Karikatur der Münchner Schickeria und Boulevardpresse der 1980er-Jahre glänzt mit pointierten Dialogen und satirischen Zuspitzungen. „Kir Royal“ wurde 1987 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet und gilt bis heute als eine der besten deutschen TV-Serien.
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© ARD/Julia Terjung
Weissensee (ARD, seit 2010, bislang drei Staffeln, 18 Episoden)
Erzählt wird die Geschichte zweier Familien im Ost-Berlin der Jahre 1980 (1. Staffel), 1987 (2. Staffel) und 1989/1990 (3. Staffel). Die Serie war von Anfang an bei Publikum und Presse ein großer Erfolg. Thematisiert wird das letzte Jahrzehnt der Deutschen Demokratischen Republik bis zur Wiedervereinigung. Die Familiensaga gilt als gelungener Versuch, deutsche Geschichte aus der Perspektive ehemaliger DDR-Bürger und in einer Erzählform aufzuarbeiten, die dem individuellen Erleben der Menschen entspricht. Eine vierte Staffel ist geplant.
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© ARD/Julia von VIetinghoff
Im Angesicht des Verbrechens (ARD 2010, zehn Episoden)
Bei ihrer Premiere auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2010 wurde die Krimiserie des Regisseurs Dominik Graf als Meilenstein deutscher Fernsehgeschichte gefeiert. Dass bei der späteren Fernsehausstrahlung die Zuschauerzahlen weit hinter den Erwartungen zurückblieben, gab den Anstoß zu einer medialen Debatte über TV-Qualitätsserien. Als besonders gelungen gilt die epische Form der Inszenierung, beispielsweise in atmosphärischen, oft drastischen Milieustudien aus dem Umfeld der Berliner Polizei und der russischen Mafia.
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© Brainpool/Willi Weber
Stromberg (ProSieben, 2004 – 2012, fünf Staffeln, 46 Episoden)
Die Idee für „Stromberg“ basiert auf der britischen Comedy-Serie „The Office“. Ein Fernsehteam begleitet mit der Kamera den Büroalltag in einem fiktiven Versicherungsunternehmen. Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist der unfähige Abteilungsleiter Bernd Stromberg. „Stromberg“ ist eine Mockumentary, die als Parodie auf die populären Doku-Soaps konzipiert ist. Diese zeichnen sich unter anderem durch die Präsenz von Kamera und Drehteam im Handlungsgeschehen aus. Für Kritiker machte die „Mischung aus Komik und Tragik“ den Reiz der Serie aus.
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© ZDF/Volker Roloff
KDD-Kriminaldauerdienst (ZDF, 2007 – 2009, drei Staffeln, 28 Episoden)
Als Kriminaldauerdienst (KDD) wird ein Bereitschaftsdienst der deutschen Kriminalpolizei bezeichnet, der rund um die Uhr im Einsatz ist. Die Serie begleitet eine fiktive KDD-Einheit im Berliner Bezirk Kreuzberg und wurde in der Presse für ihre authentische Darstellung der Polizeiarbeit und ihrer komplexe, episodenübergreifende Erzählweise gelobt. Als sie aufgrund schlechter Einschaltquoten 2009 eingestellt wurde, reagierten viele Medien mit Kritik an der ihrer Meinung nach zu konventionellen Haltung der deutschen TV-Verantwortlichen.
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© NDR/Thorsten Jander
Der Tatortreiniger (NDR seit 2011, bislang fünf Staffeln, 24 Episoden)
Im Mittelpunkt steht der Arbeitsalltag des Gebäudereiniger Heiko „Schotty“ Schotte, der sich darauf spezialisiert hat, Tatorte von den blutigen Spuren der Gewaltverbrechen zu säubern. Die Kriminalfälle spielen in der Serie nur eine untergeordnete Rolle, der Schwerpunkt liegt auf den skurrilen Szenen, in denen der Tatortreiniger auf die Bekannten und Hinterbliebenen der Mordopfer trifft. Für die Kritik bot „Der Tatortreiniger“ mit seiner anspruchsvollen Mischung aus Psychogramm und Komödie einen willkommenen Kontrast zum konservativen Programmangebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
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© RTL
Deutschland 83 (RTL, 2015, bislang eine Staffel, acht Episoden)
Die Serie erzählt die Geschichte eines jungen DDR-Spions, der im Jahre 1983 in die westdeutsche Bundeswehr eingeschleust wird, um an Informationen zu US-amerikanischen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden zu gelangen. Mit einer Mischung aus Zeitgeist- und Spionagestory fand „Deutschland 83“ von Anfang an internationale Beachtung. Sie lief als erste deutsche Serie überhaupt im US-amerikanischen Pay-TV, auch im britischen Fernsehen war sie erfolgreich. Beim deutschen Publikum erzielte „Deutschland 83“ allerdings nicht die gewünschte Quote.
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© ARD/Frédéric Batier
Die Stadt und die Macht (ARD, 2016, eine Staffel, sechs Episoden)
Die Presse lobte „Die Stadt und die Macht“ als gelungenen Genre-Mix aus Politthriller, Familiendrama und Sittengemälde der deutschen Hauptstadt Berlin. Die Serie war direkt nach ihrer Ausstrahlung Mitte Januar 2016 über das Streaming-Portal Netflix Germany abrufbar. Dies wurde als Zeichen eines Umdenkens öffentlich-rechtlicher Produktionen gewertet: Statt in Konkurrenz zu Video-on-Demand-Portalen zu gehen, suche man die Partnerschaft, um Zugang zu jenen Zuschauern zu bekommen, die am klassischen Fernsehen nicht mehr teilnehmen.
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© ZDF/Martin Valentin Menke
Morgen hör ich auf (ZDF, 2016, eine Staffel, fünf Episoden)
Die Geschichte eines hoch verschuldeten Druckereibesitzers, der aus Not zum Geldfälscher wird, ist an die US-Kultserie „Breaking Bad“ angelehnt. Interessanterweise wurde gerade dies der Serie vonseiten der Filmjournalisten vorgeworfen: Statt eigene Geschichten zu entwickeln, ahme man internationale Bestsellerformaten nach. Dennoch gilt „Morgen hör ich“ auf als Achtungserfolg, besonders durch seinen für deutsche Serien-Formate ungewöhnlichen Genremix aus Komödie, Drama und Krimi.
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© ARD/Sky
Babylon Berlin (ARD/Sky, Drehbeginn Frühjahr 2016, eine Staffel, 16 Episoden)
Mit „Babylon Berlin“ ist Deutschland endgültig auf dem internationalen Markt für Qualitätsserien angekommen: ein Rekord-Budget von 40 Millionen Euro, ein international renommierter Regisseur (Tom Tykwer) und – vor allem – die erste Kooperation zwischen einem öffentlich-rechtlichen und einem Pay-TV Sender (Sky) im deutschen Fernsehen. Die Geschichte eines jungen Kriminalkommissars im Berlin der 1920er-Jahre wird Anfang 2017 zunächst auf Sky und erst danach im Free-TV zu sehen sein.
Masse statt Klasse
Publikum, Journalisten und Kreative machen hierfür die Fernsehsender verantwortlich, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF. Der Hauptkritikpunkt: Statt auf Qualität setze man auf Masse, als Erfolg gilt lediglich eine Produktion mit hoher Einschaltquote. Dabei seien ARD und ZDF aufgrund der in Deutschland verpflichtenden Rundfunkgebühr eigentlich unabhängig von der Einschaltquote – anders als die deutsche Privatsender, die ihr gebührenfreies Angebot über Werbeeinnahmen finanzieren und deshalb für den Massenmarkt produzieren müssen.
Doch welche Kriterien führen letztlich zum Begriff der Qualitätsserien? „Die Qualitätsserie ist für mich eher ein Kampfbegriff als eine wissenschaftlich zu legitimierende Kategorie“, sagt Dietrich Leder, Professor für Dokumentarfilm, fiktionale Formen und Unterhaltung an der Kunsthochschule für Medien Köln. „Im Augenblick haben wir die Situation, dass Qualität vor allem über die hohe Aufmerksamkeit auf Rezipientenseite definiert wird.“ Aber das sei eben nur ein mögliches von vielen anderen Merkmalen. Leders Kollege Lothar Mikos, Professor für Fernsehwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, drückt es so aus: „Deutsche Sender produzieren eine Vielzahl sehr erfolgreicher Serien für alle möglichen Zielgruppen – Reality-TV, leicht erzählte Komödien oder Krimi-Klassiker wie den Tatort. Das muss man auch wertschätzen.“
Dies ist auch die Position der öffentlich-rechtlichen Sender, die sich nach wie vor gegen den Vorwurf mangelnder Qualität wehren. Würde man reine Nischenprogramme für ein kleines, anspruchsvolles Publikum produzieren, wäre man sofort mit der nächsten Debatte konfrontiert, so ARD-Chef Volker Herres Anfang 2014 gegenüber dem Magazin
brandeins: Man müsse sich dann dem Vorwurf, warum alle Bürger Beiträge für ein System zahlen müssen, „das von einem Großteil der Bevölkerung gar nicht genutzt wird?“
Neue deutsche Qualitätsserien
Dennoch wird es für deutsche Sender zunehmend interessant, sich an das bislang gemiedene, aufwendig produzierte Serienformat für ein anspruchsvolles Nischenpublikum heranzuwagen. „Inzwischen investieren eigentlich alle großen deutschen TV-Sender in Qualitätsserien“, sagt Timo Gößler, Leiter der Studienvertiefung Serial Writing and Producing an der Filmuniversität Babelsberg. Einen ersten Hinweis gaben die Berliner Filmfestspiele 2015. Dort hatte
Deutschland 83, ein achtteiliger Spionage-Krimi über einen DDR-Spion im Westdeutschland des Kalten Krieges, Premiere und wurde als erste deutsche Serie überhaupt von einem US-amerikanischen TV-Sender gekauft. Die
New York Times lobte die Serie überschwänglich, sogar ein Vergleich mit
House of Cards wurde gezogen.
Deutschland 83 wurde im Sommer 2015 vom privaten Sender RTL ausgestrahlt. Im Januar 2016 zeigte das ZDF die Serie
Morgen hör ich auf. Die Geschichte eines verzweifelten Familienvaters, der zum Falschgelddrucker wird, wurde als deutsches
Breaking Bad angekündigt. Ebenfalls im Januar 2016 war im Ersten Deutschen Fernsehen das sechsteilige Politdrama
Die Stadt und die Macht zu sehen, das mit
House of Cards verglichen wurde. Als besonders vielversprechend gilt
Babylon Berlin, eine Gemeinschaftsproduktion der ARD und des Pay-TV-Senders Sky, die 2017 ausgestrahlt werden soll. Die Serie unter der Regie von Tom Tykwer erzählt Kriminalfälle aus dem Berliner der 1920er-Jahre.
Nicht-lineares Fernsehen
Was sind die Gründe für die neue Serienoffensive der deutschen Sender? „Es geht zum einen um die Erschließung eines internationalen Marktes. Und zum anderen buchstäblich um die Zukunft des Fernsehens“, so Timo Gößler. Die Rede ist von einer zeitungebundenen, nicht-linearen Form des Fernsehens, die sich besonders durch den Konsum von Qualitätsserien etabliert hat. Statt auf feste Sendetermine zu warten, konsumiert man die horizontal erzählten Episoden direkt hintereinander, oft eine ganze Staffel an einem Wochenende. Bis vor kurzem waren DVD oder Blueray das bevorzugte Medium, inzwischen nutzen immer mehr Menschen Streaming-Angebote im Internet– entweder sendereigene Mediatheken oder kommerzielle Angebote wie Netflix, das seit 2014 auch für das deutsche Publikum zur Verfügung steht.
Was bedeutet dies nun für die aktuellen deutschen Produktionen? „Ganz entscheidend wird sein, ob es die Sender schaffen, sich vom klassischen Quotendenken zu verabschieden und sich für neue Formate und Strategien zu öffnen“, so Timo Gößler. „Das ist ein Lernprozess, der vor allem für die Sender nicht einfach ist.“ Als das international hochgelobte
Deutschland 83 die erhofften Quoten im deutschen Fernsehen nicht einmal im Ansatz erreichte, fragte der Produzent auf Facebook: „Was lief schief?“ „Die Serie war gut“, antworteten viele, „aber wer schaltet denn dazu noch den Fernseher ein.“
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