Stadtkonturen Jena
Und in Jene lebt sich’s bene
„Jena, das ist doch diese Plattenbaustadt“: So jedenfalls die Sicht der Autofahrer*innen, die entlang der Fernstraße an den riesigen Wohnbetonbauten aus DDR-Zeiten vorbeirauschen. Kommt man dagegen mit dem Zug in der Thüringer Saalestadt an, landet man mitten im grünen Paradies. Jena ist ambivalent und absolut unperfekt. Gerade deshalb findet unsere Autorin Nancy Droese ihre Stadt so sympathisch.
Von Nancy Droese
Da kommt doch mein Fernglas her
Gebaut für die Firma ZEISS in den 1970er-Jahren, beherbergt der Jentower heute vor allem Büros und in den oberen Stockwerken ein Luxushotel samt Gourmetrestaurant. | Foto (Detail): Adobe Wer aus Jena kommt, kennt diese Situation nur zu gut: Antwortet man auf die Frage „Woher kommst du?“ mit „Aus Jena“, ist die häufigste Reaktion: ratloses Schweigen. Häufiger Erklärungsversuch: „Kennst du Zeiss?“, Antwort: „Ah ja, natürlich, von denen hab’ ich mein Objektiv!“ Jena gilt als Zentrum der deutschen Optik- und Feinmechanik-Industrie. Wir hatten Carl Zeiss, wir hatten Ernst Abbe und wir hatten Otto Schott – das ultimative Dreiergestirn des Optik- und Glasgewerks. Dementsprechend stark ist die Stadt bis heute mit dieser Thematik verwoben. So wurde auch Jenas wohl sichtbarstes Wahrzeichen – der 144,5 Meter hohe, runde Jentower – in den 1970er-Jahren extra für die Firma Zeiss gebaut. Allerdings kam er letztlich nie für diese zum Einsatz, denn der hohe, verglaste Turm mit seinen leichten Schwankungen war für den Einsatz von Hochpräzisionstechnik dann doch eher ungeeignet. Heute haben hier mehrere Firmen ihre Büros, in den oberen Etagen kann man im Luxushotel und Gourmetrestaurant logieren, und von der öffentlichen Aussichtplattform im 28. Stock hat man eine tolle Aussicht. Insider*innenwissen beweist man, wenn man das Bauwerk mitten in der Innenstadt als „Keksrolle“ bezeichnet. Einen weiteren 360°-Rundumblick hat man übrigens nur wenige Gehminuten entfernt in Deutschlands dienstältestem Planetarium.
Die Stadt neben Weimar
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ Jena hat den Erlkönig aus dem Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe in einer Statue verewigt. | Foto (Detail): Adobe Dass Jena einmal Hochburg der Dichter*innen und Denker*innen war, sieht heute nur noch, wer geschulten Auges durch die Stadt geht. Längst hat sie dem benachbarten Weimar den Rang der „Klassikerstadt“ überlassen. Doch die Liste der Erinnerungsmarker ist lang: Um 1800 trieb sich hier wahrhaftig das „Who’s Who“ der Intellektuellenszene herum. Goethe verbrachte viele freie Stunden in Jena – auch um, wie böse Zungen sagen, dem biederen Weimar und seiner Frau zu entkommen – und lud auch Schiller hierher ein. Heute weisen zahllose weiße Emaille-Schilder an den Jenaer Hauswänden darauf hin, wer hier sonst noch zugegen war: die Romantiker Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig Feuerbach, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Christoph Wilhelm Hufeland und aus dem Kreis der Frühromantiker*innen: Ludwig Tieck, die Gebrüder Schlegel, Caroline Schlegel, Dorothea Veit und viele mehr. Erfahren kann man all dies unter anderem im Stadtmuseum „Göhre“. Die Romantiker*innen bekamen mit dem „Romantikerhaus“ ihr eigenes Museum, ebenso Schiller, dessen Gartenhaus von Leben und Werken des Dichters zeugt und dessen Namen heute die Universität trägt. An Großmeister Goethe erinnert unter anderem die imposante Statue des „Erlkönig“, die am romantischen Weiher etwas außerhalb des Ostviertels steht.
Eine Gasse zum Verzaubern
Flair und Gastrokultur zwischen Altbauten: die Wagnergasse in Jena. | Foto (Detail): © picture alliance/ZB/Jan-Peter Kasper Was für Harry Potter die berühmte Winkelgasse, ist für Jena die Wagnergasse: Sie ist wohl das Exempel der Jenaer Kneipenlandschaft. In dem engen kopfsteingepflasterten, rund 300 Meter kurzen Rumpelgässchen haben sich zahlreiche Altbauten erhalten, die nicht der Wut seelenloser Nachwende-Übersanierung zum Opfer gefallen sind. So drängen sich hier rund 15 individuelle Bars, Cafés, Restaurants und kleinere Läden. Urgestein und quasi Begründer der Wagnergasse als Kneipenmeile ist das Restaurant „Stilbruch“. Ein wahres Raumwunder, dessen enge, kunstvoll geschmiedete Wendeltreppe sich über drei Etagen zieht. Die Speisekarte strotzt nur so von hausgemachten, frischen Kreationen, so dass man sich vom Frühstück bis zum nächtlichen Absacker quasi nicht mehr erheben muss. Kein Wunder also, dass die Kneipe von zahlreichen Gästen als Treffpunkt genutzt wird. Schnellesser*innen machen dagegen halt am Imbiss „Fritz Mitte“. Die lange Warteschlange vor dem Achteck-Kiosk hier ist allerdings berühmt-berüchtigt.
Clubkultur mit Reichweite
Mit bunten Graffitis zum Kunstwerk geadelt: Das Kassablanca beim Westbahnhof ist Jenas wohl bekanntester Club. | Foto (Detail): © Kassablanca Jena Ein alter Wasserturm, ein ehemaliger Lokschuppen, dazu etliche Waggons – allesamt mit bunten Graffitis zum Kunstwerk geadelt: das ist Jenas bekanntester Club der Stadt, das Kassablanca, kurz Kassa. In der Nähe des Jenaer Westbahnhofs ist der Club seit drei Jahrzehnten Jenas Zentrum der Subkultur, Startrampe für Künstler*innen und geistige Heimat zahlreicher Kreativlinge. Hier haben sich mittlerweile Generationen die Shirts nass geschwitzt und ihre Musik, ja, ihr Lebensgefühl gefeiert. Mal abgesehen von Radio-Mainstream-Hits kann man hier so ziemlich alles finden, was die musikalischen Spartenschubladen hergeben. Bis heute aber hat die elektronische Musik im „Kassa“ ihren Ehrenplatz. Einer der Köpfe der (fast) ersten Stunde dieses Schuppens ist Thomas Sperling. Der „Spatz“, wie er von Freund*innen genannt wird, gründete in Jena auch die szenebekannten Label „Freude Am Tanzen“ und „Musik Krause“, sowie den angeschlossenen fein sortieren Plattenladen „Fatplastics“ im Schillergäßchen, und setzte somit Jenas Stecknadel in die Landkarte elektronischer Musik.
Hier gibt’s ’ne Arena
Kein antikes Amphitheater, aber immerhin eine Arena: die Kulturarena in Jena. | Foto (Detail): © picture alliance/ZB/euroluftbild.de/Karina Hessland Eine Arena im Sinne eines antiken Amphitheaters gibt es in Jena zwar nicht, dennoch ist der Begriff hier omnipräsent. Die Kulturarena – ein siebenwöchiges internationales Open-Air-Festival mit Theater, Musik und Film mitten in der Stadt – ist eine feste Größe im Sommer. Seine Lage verdankt die Kulturarena passenderweise einem Drama: Um den Neubau des Zuschauerhauses für sein Theater zu erzwingen, ließ der Jenaer Stadtrat 1987 den vorderen Raum, einen von Bauhaus-Großmeister Walter Gropius erstellten Bau, komplett abreißen. Der Plan scheiterte – fortan klaffte am nunmehr halben Theaterhaus eine sichtbare Wunde. Doch, wenn man in den Wende-Jahren eines gelernt hatte, dann Improvisation: Drei Jahre nach dem Mauerfall wurde aus dem leeren Abrissplatz der Hauptspielort des Kulturarena-Festivals, den heute wohl keiner mehr für einen Zuschauerraum hergeben wollte. Für den Namen stand übrigens Udo Lindenberg mit seinem Song „Rock ’n’ Roll Arena in Jena“ Pate.
„Mein Name ist Hase. Ich weiß von nichts.“
Die „Hanfried“-Statue auf dem Jenaer Marktplatz: Frischgebackenen Doktor*innen dient er als Wurfziel für ihre Buchsbaumkränze. | Foto (Detail): © picture alliance/Bildagentur-online/Schoening Die berühmte Redensart geht auf einen gebürtigen Jenaer zurück. Karl Victor von Hase, ein deutscher Jurist aus dem 19. Jahrhundert, steckt hinter der amüsanten Anekdote. Sein Ausspruch während einer juristischen Anhörung – er soll einem Freund zur Flucht verholfen haben, der bei einem Duell jemanden getötet hatte – wurde, wie viele Erfindungen aus Jena, bekannt und berühmt. Vom bruchsicheren Glas bis zur Deutschlandfahne und jeder Menge technischem High-Potential-Schnick-Schnack ist alles dabei. Das liegt wohl auch daran, dass Jena seit Jahrhunderten Student*innenstadt ist. Knapp 20.000 Student*innen machen die Stadtbevölkerung jung und zunehmend international. Zu verdanken ist all dies dem guten Johann Friedrich I. von Sachsen alias „Hanfried“. Dieser hatte, nachdem er durch Krieg seine alte Universität in Wittenberg verloren hatte, 1548 als Ersatz die Hohe Schule gegründet, aus der dann ein paar Jahre später, 1558 die Universität wurde. Seine Bronzestatur steht nun in gänzlicher Leibesfülle auf dem Jenaer Marktplatz und dient, dank eines alten Brauches, frischgebackenen Doktor*innen als Wurfziel für Buchsbaumkränze.
Wunder geschehen
Fängt er die Kugel, geht die Welt unter: Der Schnapphans über der Rathausuhr gilt als eines der sieben Jenaer „Wunder“. | Foto (Detail): © picture alliance/Uwe Gerig „Wer nicht wirbt, der stirbt“, dachte sich schon im 17. Jahrhundert das Stadtmarketing und kramte flugs ganze sieben Wunder für Jena hervor – Statuen, Gebäude, selbst eine Brücke zählt dazu. Seither lernen Generationen von Jenaer Schüler*innen den Merkspruch: „Ara, Caput, Draco, Mons, Pons, Vulpecula Turris und Weigeliana Domus, septem miracula Jenae“. Gut, das Weigelsche Haus gibt es schon längst nicht mehr und auch die anderen Wunder, wie die Tordurchfahrt an der Stadtkirche oder ein von Studenten gebastelter, mehrköpfiger Drache, locken begeistern junge Leute heute nicht mehr. Der Schnapphans (Caput) allerdings lässt Besucher*innen des Marktplatzes noch immer gern zur vollen Stunde die Köpfe in den Nacken legen. Dann versucht nämlich der karge Holzkopf, der sich oberhalb der Rathausuhr befindet, nach einer goldenen Kugel zu schnappen. Diese Kugel hält ihm ein Pilger zu seiner Rechten an einem langen Stab entgegen, während ein Engelchen zu seiner Linken mit einer Glocke läutet. Sollte es dem Schnapphans gelingen, die Kugel zu fangen, würde schlicht die Welt untergehen. So sagt es jedenfalls die Legende… Ein Modell des Schnapphans steht überdies im Eingang der Stadtmuseums „Göhre“ und kann gegen kleine Münze in Gang gesetzt werden.
Zitterbacke und DDR-Baracke
Die Gründerzeit- und Jugendstilbauten im Damenviertel stehen im Kontrast zu den Plattenbauten in Jena Nord. | Foto (Detail): © picture alliance/ZB/Universität Jena Kaum jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, kennt ihn nicht: Alfons Zitterbacke – der Klassiker der hiesigen Kinderliteratur – quasi „der kleine Nick“ des Ostens. Der Film zum Kultbuch wurde 1966 größtenteils im sommerlichen Jena gedreht. Was man bei den Aufnahmen erahnt: Das historische Stadtzentrum war Ende des Zweiten Weltkriegs an vielen Stellen durch amerikanische Luftangriffe zerstört worden. Ein weiterer Teil fiel später sozialistischen Umbauplänen zum Opfer. Heute ist Jenas Stadtzentrum ein architektonisch bunt gemischtes Potpourri aus sozialistischen, historischen und modernen Gebäuden – und gerade daraus speist sich der Charme der Stadt. DDR-Plattenbauviertel wie Jena Nord oder Lobeda geben sich die Hand mit Arbeiterhäusern aus der Vorkriegszeit oder dem Damenviertel, einem stilistisch geschlossenen Gründerzeit- und Jugendstilviertel. In diesem kann man viele kleine architektonische Highlights entdecken, biologisch und unverpackt einkaufen oder im Prinzessinnengarten der Sonne frönen.
Träume vom Pokal
Jubel beim FF USV Jena nach einem Bundesliga-Tor gegen die Frauen vom 1. FFC Frankfurt im Jahr 2019. | Foto (Detail): © picture alliance/Carlotta Erler Es war einmal, im schönen Jahre 1980, da gastierte der große Fußballverein AS Rom bei Carl Zeiss Jena – und ging mit einer grandiosen 0:4-Niederlage baden. Als erster Mannschaft überhaupt gelang damals dem FC Carl Zeiss Jena in einem Europapokalspiel das Kunststück, ein 0:3-Hinspiel doch noch umzubiegen. Es sind wohl solche Spiele, die aus Vereinen Legenden machen. Was macht es da schon, dass der Finalsieg letztlich verwehrt blieb? Heute gilt für den Verein nicht selten das Podolski-Zitat: „So ist Fußball. Manchmal gewinnt der Bessere.“ Und man möchte sagen: Immerhin kann man noch Träume haben. Diese schenkt in den letzten Jahren den Jenaer*innen mehr und mehr der FF USV Jena. Der Frauenfußballverein gehört zu den besten Clubs Deutschlands. Jüngere Erfolgsgeschichte schreiben auch die Jungs vom Science City Jena. Der deutsche Basketballverein war 2007 erst die zweite Mannschaft aus den neuen Bundesländern, welcher in die Basketball-Bundesliga aufsteigen konnte.
Paradiesische Orte
Paradiesische Stimmung im Paradies. | Foto (Detail): © picture alliance/zb/Universität Jena In Jena hält der Zug im Paradies. Gut, nur selten ein ICE. Doch dafür kommt man hier eben auch ganz besonders schön an. Paradies nennt sich allerdings nicht nur der Bahnhof, sondern eben auch der angrenzende Park am Fluss Saale, der sich wie ein Band durch den Park und Teile der Stadt schlängelt. Dabei ist das Paradies alles andere als ein Schickimicki-Park mit englischem Golfer-Rasen oder japanischen Zierpflanzen. Jenas Paradies ist grün, etwas verwachsen und voller Menschen, die hier die angenehme Seite des Lebens suchen. Dabei ist es nicht einmal Jenas einziges grünes Paradies. Innerhalb von 15 Geh-Minuten ist man eigentlich von jeder Ecke Jenas aus irgendwo in der Natur, denn die steilen Muschelkalkhänge am Stadtrand sind glücklicherweise nur bedingt bebaubar. Sie machen Jena den Großteil des Jahres nicht nur unglaublich grün, sondern versehen die Stadt auch mit einem milden Mikroklima, das so manchen verzückt von der „Toskana des Ostens“ schwärmen lässt.