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Berlinale | Retrospektive
Das deutsche Kino konnte mal Genre

„Jonathan" – Vampirfilm aus dem Jahr 1970. Regie: Hans W. Geißendörfer
„Jonathan" – Vampirfilm aus dem Jahr 1970. Regie: Hans W. Geißendörfer | Foto (Detail): Kinowelt, © Beta Film

Unter dem reißerischen Motto „Wild, schräg, blutig“ präsentiert die Retrospektive deutsches Genrekino der 1970er-Jahre.
 

Von Philip Bühler

Momentan boomt das Horrorkino, es gilt als zuverlässiger Indikator für Krisenzeiten. Auf Festivals allerdings haben es Horror und Genre schwer. Das gilt ganz besonders für die Berlinale. Was liegt da näher, als die eigene Sektion kurzerhand zum Fantasy-Filmfest umzufunktionieren? „Ein langlebiges Vorurteil lautet, dass der deutsche Film Genre nicht beherrsche“, sagt Retrospektive-Leiter Rainer Rother. Die diesjährige Auswahl soll das Gegenteil beweisen – zumindest, was die Vergangenheit angeht. „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“, so lautet das Motto, und es ist nicht zu viel versprochen.

Von falschen und echten Vampiren

In Die Zärtlichkeit der Wölfe (1973) widmete sich Ulli Lommel dem Serienmörder Fritz Haarmann, auch genannt „der Vampir von Hannover“. Zur Zeit der Weimarer Republik wurde er dort wegen Mordes an mindestens 24 Jungen und jungen Männern zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Film tötet er sie mit einem Biss. In seiner stilisierten Theatralik ist der Film sichtlich ein Werk der Fassbinder-Clique, der Lommel selbst sowie mehrere Schauspieler*innen wie der fabelhafte Hauptdarsteller Kurt Raab, Ingrid Caven oder Brigitte Mira angehörten. Lommel spart aber auch nicht mit Stummfilmreferenzen an Fritz Langs Meisterwerk M (Deutschland 1931), das auf denselben Stoff zurückging.
Kurt Raab in „Die Zärtlichkeit der Wölfe”. Regie Ulli Lommel (1973)

Kurt Raab in „Die Zärtlichkeit der Wölfe”. Regie Ulli Lommel (1973) | Foto (Detail): Deutsche Kinemathek, © Rainer Werner Fassbinder Foundation

Um echte Vampire geht es in Hans W. Geißendörfers Jonathan (1970), ein für Vampir-Komplettisten unverzichtbarer Meilenstein. Sucht man nach einem Zeitbezug der biedermeierlichen Gothic-Saga, findet man ihn wohl in den Studenten, die verängstigte Dörfler zum Aufstand gegen ihre Vampirherrscher bewegen. Ästhetisch ist der spätere Lindenstraße-Regisseur nicht immer stilsicher, aber ein gewisser Einfluss auf Werner Herzogs zehn Jahre später entstandenes Murnau-Remake Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) ist kaum zu leugnen.

Kunst oder Kommerz?

Dabei ist das eklatante Nicht-Verhältnis des international renommierten Neuen Deutschen Films um Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder oder Wim Wenders zum Genre eigentlich der Fixpunkt jeder thematischen Auseinandersetzung zu dieser Zeit. Genre galt als Kommerz, niemals als Kunst. Gegen diese „Sinnesfeindlichkeit“, wie er es nannte, wehrte sich der geniale Regisseur Roland Klick mit Händen und Füßen. Sein psychedelischer Spätwestern Deadlock (1970) – mit Musik der Düsseldorfer Krautrock-Pioniere Can – ist strenggenommen keine Neuentdeckung. Nach der späten Würdigung von Klicks Werk in den letzten Jahren dürfte er vielmehr zu den Publikumslieblingen zählen.
Mario Adorf in „Deadlock” (1970). Regie Roland Klick

Mario Adorf in „Deadlock” (1970). Regie Roland Klick | Foto (Detail): © Filmgalerie 451

Jede Menge Genre-Zutaten

Den internationalen Einfluss von Italo-Western und ebenfalls italienischem Giallo auf die „Gewalt-Welle“ des deutschen 1970er-Kinos zeigt auch Rolf Olsens Blutiger Freitag (Deutschland/Italien 1972) mit dem bärbeißigen Raimund Harmstorf in der Rolle eines ultrabrutalen Bankräubers. Gangster mit riesigen Sonnenbrillen und kessen Sprüchen, Schießereien und wilde Verfolgungsjagden im VW-Käfer – das blutige Drama hat tatsächlich alles, was das Genre-Herz begehrt. Und windiges Klassenkampf-Geraune zur Legitimation der bösen Tat gibt es zeitgemäß dazu.
Raimund Harmstorf, Daniela Giordano, Gianni Macchia in „Blutiger Freitag”. Regie: Rolf Olsen (1972)

Raimund Harmstorf, Daniela Giordano, Gianni Macchia in „Blutiger Freitag”. Regie Rolf Olsen (1972) | Foto (Detail): Deutsche Kinemathek, © Lisa Film


Nebenbei sieht man in den Filmen das Frühwerk großer Kameramänner wie Robert van Ackeren, Jürgen Jürges und Robby Müller. Frauen hingegen sind, auch das ein Zeichen der Zeit, sträflich unterrepräsentiert. Ob man den von der Kritik als „Gruselschund“ geschmähten Lady Dracula (Franz Josef Gottlieb, Deutschland 1978) heute mit anderen Augen sieht, bleibt abzuwarten.
 

Was zeigte die DDR?

Von ihrem Selbstverständnis her gab es in der DDR naturgemäß keine Vampire oder Schwerverbrecher –  schlechte Bedingungen fürs Genre. Zum Ausgleich bietet die Retrospektive das heitere Sport-Musical Nicht schummeln, Liebling (Joachim Hasler, 1973) oder die Werbe-Klamotte Nelken in Aspik (Günter Reisch, 1976), eine überdrehte Satire auf Missstände realsozialistischer Planwirtschaft.
Chris Doerk in „Nicht schummeln, Liebling”. Regie: Joachim Hasler (1973)

Chris Doerk in „Nicht schummeln, Liebling”. Regie: Joachim Hasler (1973) | Foto (Detail): © DEFA-Stiftung / Klaus Goldmann

Alles nicht so ernst nehmen
So viel Humor kann man subversiv oder höchst bedenklich finden. Doch das ist der springende Punkt beim Genre: die Dinge nicht so ernst zu nehmen, im Guten wie im Bösen. In Ost wie West eröffnete es wilde, verwirrende, manchmal auch groteske Möglichkeitsräume, die das deutsche Kino viel zu selten betreten hat.
 

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