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Rosinenpicker | Literatur
Die Welt zu Ende leben

Der letzte Apfel in Nachbars Garten
Der letzte Apfel in Nachbars Garten | Kurt Stocker from Pfeffikon, Schweiz, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons

Der Krimiautor Tommie Goerz hat seinen zweiten Roman jenseits dieses Genres geschrieben. Er spielt in der fränkischen Provinz und erzählt in einfacher, aber präziser Sprache von Verlust und Vergänglichkeit.

Von Holger Moos

In Tommie Goerz‘ Roman Im Schnee wohnen in dem fiktiven fränkischen Dorf Austhal die alten, schon seit Generationen ortsansässigen Menschen im verfallenden Ortskern fast wie prähistorische Wesen neben den „Neubürgern“. Diese beiden Gruppen leben relativ verständnislos füreinander in Parallelwelten. Sich im Laufe der Zeit näher zu kommen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Als es darum geht, einem Zugezogenen das Du anzubieten, wird das entschieden abgelehnt:

Wir kennen uns ja erst seit ein paar Jahren. Nein, das Du muss Zeit haben, wenn es nicht von Anfang an so war.
Die etwa 80jährigen Max und Schorsch sind Freunde seit Kindheitstagen. Nur: Schorsch, der sich jedes Jahr körbeweise Äpfel aus Max‘ Garten holte, ist zu Beginn des Romans gerade gestorben. Es ist Winter, der einzelgängerische Max steht am Fenster, schaut dem Fallen des Schnees zu, hängt seinen Gedanken nach und hört in die Stille, die plötzlich vom Bimmeln des Totenglöckchens unterbrochen wird. Die Glocke läutet die „Mehlmeisels Gunda“, die diese Aufgabe von ihrer Mutter geerbt hatte. Bald erfährt Max, dass es Schorsch war, dessen Stunde geschlagen hatte.

Goerz: Im Schnee (Buchcover) © Piper

Mauer des Schweigens

Die Romanhandlung umfasst nur die Tage nach Schorschs Tod und folgt den althergebrachten Abläufen und Ritualen. Bei der Totenwache sitzen zunächst die alten Männer bis Mitternacht, danach die Frauen. Nur Max wacht die ganze Nacht am Bett des verstorbenen Freundes. Am nächsten Tag folgt die „Leich“, zu der man sich im Wirtshaus trifft. Todesfälle gibt es unter den Alteingesessenen immer häufiger, lakonisch heißt es:
Die Haare wuchsen, und man musste sie schneiden. Genauso musste man sterben. Das konnte man nicht einfach ausfallen lassen.
Max und Schorsch hatten zwar ein enges und inniges Verhältnis, doch mit dem Reden taten sie sich, wie der Rest der alten Dorfbevölkerung, schwer: „Es wurde überhaupt mehr geschwiegen als beredet, denn die Regeln waren klar“. Man lebt ein Leben mit reduziertem Wortschatz und ebenso reduziertem Gefühlshaushalt. Als Anfang der 1990er-Jahre das Gerücht die Runde machte, im leer stehenden Schulhaus sollten Flüchtlinge einquartiert werden, wurde es nachts zerstört. Die Täter wurden nie gefasst: „Die Mauern des Schulhauses waren eingerissen, aber die Mauer des Schweigens stand, so war das Dorf.“

Eines unterscheidet Max – und Schorsch zu Lebzeiten ebenfalls – von den anderen Männern des Dorfes: Er schätzt die etwas herzlichere Art der Frauen und verbringt mehr Zeit mit dem anderen Geschlecht: „Weil die nicht so laut waren und so ruppig. Und sie auch anders lachten, nicht so viel übereinander … meistens jedenfalls.“ Schorsch ist auch empfänglich für den Gesang der Frauen, insbesondere wenn die noch ältere Lilo alte Lieder singt:
Einmal, als sie das lange Lied der Loreley bis zum Ende gesungen hatte, das wird er nie vergessen, war ihm, als versänke er selbst im Fluss der Zeiten, als verschlänge ihn die Welt.

Keine Verklärung der alten Zeiten

Die Grübeleien von Max sind geprägt von Entfremdung, Schwermut und einer zunehmenden Lebensmüdigkeit. Das Dorf ist weit weg vom Rest der Welt: „Ein Durcheinander, er verstand es nicht mehr. Überall war Krieg, überall flüchteten Menschen – hier fiel nur der Schnee.“ Mit der oft beschworenen Solidarität der alten Dorfgemeinschaft ist es auch nicht so weit her:
Jeder Hof, jede Familie bildete einen Kreis und jeder einzelne bildete für sich selber einen Kreis. Alles war hermetisch abgeschlossen.
Eine Verklärung der alten Zeiten ist Goerz‘ Sache nicht. Die Enge und Sprachlosigkeit, die Schicksalsergebenheit und die menschlichen Grausamkeiten verleihen dem Roman eine dunkle Grundierung. Gesellschaftliche Außenseiter und Problemfälle, seien das nun „Verrückte“ oder auch nur rothaarige Kinder, werden weggesperrt, oder sie kommen auf skurrile Art und Weise ums Leben, zum Beispiel stecken sie unbemerkt zu lange kopfüber in einem Schacht. Keiner fragt genauer nach, denn „so starb man oft im Dorf: nicht selten etwas seltsam“.

Ein großer kleiner Roman

Die alten Zeiten waren also nicht unbedingt besser:
Heute war das anders. Da werden die Alten meistens irgendwo eingepackt und in ein Heim gebracht, wo sie es besser hatten. Wo man sie vor die Tür schob, wenn die Sonne schien, und wo man sie besuchen konnte. Am Sonntagnachmittag für eine Stunde, … man hatte ja nicht mehr die Zeit. Was da wohl besser war? Der Max hätte es nicht sagen können.
Im Schnee ist ein großer kleiner Roman über das Altern, das Vergehen der Zeit, das Sich-Verlieren in einer immer fremder werdenden Welt. Seine Figuren „leben ihre Welt zu Ende“, sagt Goerz in einem Interview. Sprachlich sparsam – vieles wird nur angedeutet – und stilistisch kohärent erzählt Goerz von dieser vergehenden Welt, ohne Pathos, ohne Mitleid, aber mit viel Mitgefühl.
Tommie Goerz: Im Schnee. Roman
München: Piper, 2025. 176 S.
ISBN: 978-3-492-07348-6

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