Rosinenpicker
Maximale Aufmerksamkeit
Die Veröffentlichung von Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman war ein feuilletonistisches Großereignis. Was bleiben wird, nachdem sich die Aufregung gelegt hat? Eine Menge offener Fragen und hoffentlich viel Aufmerksamkeit für ein wichtiges gesellschaftliches Thema.
Von Hendrik Nolde
Kaum ein deutschsprachiger Roman hat in der jüngeren Vergangenheit für derart viel Aufsehen gesorgt wie Benjamin von Stuckrad-Barres
Noch wach?. Die beiden Gründe hierfür sind eng miteinander verbunden: das Thema des Buches und sein Autor.
Im Zentrum des Geschehens stehen die Anfänge der globalen #MeToo-Bewegung im Allgemeinen und die Affäre um den ehemaligen BILD-Chefredakteur Julian Reichelt im Besonderen. Explizit erwähnt wird dessen Name freilich nicht. Vielmehr betont der Autor im Vorwort, dass hier eine „unabhängige fiktionale Geschichte“ erzählt würde – nicht zuletzt wohl, um sich rechtlich gegen den mächtigen und klagefreudigen Springer-Konzern abzusichern. Besonders viel Fantasie bedarf es jedoch nicht, um Reichelt hinter dem Chefredakteur eines fiktiven rechtspopulistischen Medienimperiums zu erkennen, dessen jahrelanger systematischer Machtmissbrauch gegenüber weiblichen Mitarbeiterinnen mehr und mehr an die Öffentlichkeit gerät. Nachrichtenwert hat die Romanhandlung diesbezüglich nicht. Die Vorwürfe gegen Reichelt wurden bereits im März 2021 publik; wenig später musste dieser seinen Posten räumen.
Brisanz bekommt der Roman jedoch durch die Rolle, die sein Autor in der Geschichte spielt. Stuckrad-Barre selbst war von 2008 bis 2018 für Springer tätig; mit dem Vorstandsvorsitzenden und Reichelt-Förderer Matthias Döpfner verband ihn eine enge Freundschaft. Das Zerbrechen dieser Freundschaft zwischen dem Vorstandsvorsitzenden, der sich schützend vor seinen Chefredakteur stellt, und dem Schriftstellerfreund, dem sich immer mehr Mitarbeiterinnen des Konzerns mit ihren Vorwürfen gegen ebenjenen Chefredakteur anvertrauen, ist zentraler Bestandteil der Romanhandlung.
Inszenierung als Methode
Eine Menge Aufmerksamkeit kommt dem Roman jedoch nicht nur entgegen, weil sein Autor kaum verfremdet selbst darin auftaucht, sondern auch, weil dieser die Klaviatur des öffentlichen Interesses wie kein zweiter deutschsprachiger Gegenwartsautor beherrscht. Selbstinszenierung hat bei Stuckrad-Barre seit jeher Methode. Ende der 1990er-Jahre hauchte er der hiesigen Literatur mit seinen Lesetouren eine gehörige Prise Popstar-Glamour ein. Heute bespielt er geschickt die sozialen Medien mit einer Instagram-Kampagne, in der zahlreiche befreundete Prominente aus dem Kulturbetrieb – darunter Katja Riemann, Carolin Kebekus und Caren Miosga – auftreten und die Kapiteltitel vorlesen.Man muss Stuckrad-Barre und seine Methoden nicht mögen, um anzuerkennen, dass er das Spiel mit der Aufmerksamkeitsökonomie beherrscht. Ob dabei der Autor mitunter zu sehr im Fokus des Interesses steht und das wichtige gesellschaftliche Thema des Romans dadurch zu kurz kommt, ist eine berechtigte Frage. Genau wie die, ob im Roman viel zu viele Männergeschichten erzählt werden, wo doch eigentlich die Frauen im Mittelpunkt stehen sollten, die von Machtmissbrauch in Kultur- und Medienbetrieb betroffen sind.
Mindestmaß statt Besserwissen
Die angesprochene Werbekampagne zeigt jedoch auch: Stuckrad-Barre als Autor spricht hier nicht nur für sich selbst, sondern weiß große Teile einer Branche hinter sich, die eines dringenden Kulturwandels bedarf. Literatur hatte immer schon auch die Funktion, für diejenigen zu sprechen, denen im öffentlichen Diskurs eine laute Stimme fehlt. In dieser Tradition erscheint es legitim, dass ein prominenter männlicher Autor sein mediales Kapital dafür einsetzt, als Fürsprecher derjenigen aufzutreten, die durch Compliance-Verfahren und mediale Schmutzkampagnen zum Schweigen gebracht werden sollen.Literarisch funktioniert das besonders gut, da sich weder Stuckrad-Barre noch sein Ich-Erzähler als moralische Instanzen eignen. Der Schuh des emanzipatorischen Vorkämpfers passt beiden nicht, vielmehr sind sie sichtlich darum bemüht, zunächst einmal das im Roman ausgerufene Mindestmaß an Allytum zu erfüllen: „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch.“ Der Erzähler ist überfordert vom Ausmaß des systematischen maskulinen Missbrauchs von Macht, die sich ihm graduell offenbart. Besonders anschaulich wird das in einer Videokonferenz mit betroffenen Frauen, die ihre persönlichen Geschichten teilen. Es sind so viele, dass der Bildschirm nicht ausreicht, um alle Sprecherinnen-Kacheln anzuzeigen. Inmitten dieser vielstimmigen Widerlegung des Mythos vom Einzelfall geht dem Erzähler langsam, aber sicher die eigene Rolle als Zuhörer und Chronist auf: „Einstweilen schrieb ich einfach weiter mit.“
Das Resultat ist ein Buch, das keine Lösung präsentieren kann und viele Fragen offenlässt. Im besten Fall eignet es sich als Stein des Anstoßes und Aufmerksamkeitsmultiplikator für wichtige Debatten, indem es eine spezifische Perspektive auf einen maximal relevanten gesellschaftlichen Diskurs präsentiert und zur weiteren Beschäftigung mit diesem anregt (beispielsweise durch den äußerst gelungenen Podcast Boys Club, der einen anderen Ansatz verfolgt). Lesenswert ist Stuckrad-Barres Roman allemal – wegen des wichtigen Themas und weil er darüber hinaus als bissige Gegenwartsanalyse stilistisch einmal mehr zu überzeugen weiß.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2023. 384 S.
ISBN: 978-3-462-00467-0
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