Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Rosinenpicker | Literatur
Goethe hat eine Schreibkrise

Wer des Geniekults um Goethe müde ist, sollte den satirischen Roman von Charles Lewinsky lesen. Darin plagen den Großdichter allzu menschliche Probleme.

Von Holger Moos

Johann Wolfgang von Goethe gilt als der deutsche Dichter schlechthin. Schon zu Lebzeiten wurde er für seine Gelehrtheit, seine scheinbar nie versiegende Produktivität bewundert und von der Nachwelt beinahe gottgleich verehrt. Goethe ist nicht nur der Prototyp einer ganzen literarischen Epoche, die Klassik und Romantik umfasst, sondern sie wurde als Goethezeit sogar nach ihm benannt.

Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky ist sehr versiert darin, historische Stoffe literarisch zu verarbeiten. So zeichnete er mit der jüdischen Familiensaga Melnitz (2006) die Geschichte der Juden in der Schweiz über vier Generationen nach. Der im 13. Jahrhundert spielende Roman Halbbart (2020) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Sein Sohn (2022) ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt und erzählt die tragische Lebensgeschichte eines Waisenknaben, der glaubt, er sei der Sohn des französischen Königs.

Ein juckender Hintern

Lewinsky: Rauch und Schall (Buchcover) © Diogenes In Lewinskys neuem Roman Rauch und Schall erleben wir gleich zu Beginn einen sehr menschlichen Goethe: Den Dichterfürsten plagen Hämorrhoiden. Wir schreiben das Jahr 1797, Goethe kehrt gerade von seiner dritten Schweizer Reise nach Weimar zurück. Die Inspiration, die er sich von der Reise erhoffte, trat nicht ein, lediglich ein paar dürftige Gedanken diktierte er seinem Sekretär Geist, „dessen unbewegtes Dienergesicht ließ jeden Gedankenblitz verpuffen wie feuchtes Pulver auf der Pfanne“.

Schnell wird klar: Ein juckender Hintern ist Goethes kleinstes Problem. Als Herzog Carl August, Goethes Arbeitgeber in Weimar, seinen dichtenden Angestellten um ein Festgedicht zum Geburtstag der Herzogin bittet, muss sich Goethe eingestehen: Die Musen küssen ihn nicht mehr. Er leidet unter einer regelrechten Schreibblockade und bringt keine Zeile zu Papier. Dies darf natürlich niemals publik werden, steht doch sonst sein Ruhm auf dem Spiel.

Hilfe vom Vielschreiber


Nun ist guter Rat teuer. Einzig seiner Lebensgefährtin (und späteren Gemahlin) Christiane Vulpius offenbart er sich. Deren Bruder Christian August Vulpius ist Bibliotheksregistrator, doch nebenbei verfasst er am laufenden Band Trivialromane, um sein dürftiges Gehalt aufzubessern. Goethe hat für diesen „zu wahrer Kunst nicht berufenen Vielschreiber“ eigentlich nur Verachtung übrig. Doch da die Zeit drängt und die literarische Ladehemmung anhält, nimmt Goethe Christian Augusts Angebot zähneknirschend an, dem Meister mit ein paar Versen auszuhelfen.

Als der Herzog, der ein Auge auf eine Hofschauspielerin geworfen hat, bei Goethe kurz darauf Liebesverse bestellt, ist es erneut Vulpius, der Goethe aus der Klemme hilft. Spätestens hier ist klar, dass dies keine Lösung auf Dauer sein kann, zumal sich der Herzog früher oder später erkundigen wird, wie weit Goethe eigentlich mit dem angekündigten Meisterwerk namens Faust ist.

Lewinsky hat mit Rauch und Schall einen sehr komischen Roman mit vielen gelungenen Dialogen geschrieben. Goethe entpuppt sich darin als ein Mensch, der nicht nur körperliche Leiden hat, sondern alles andere als frei von Eitelkeiten und auf die Anerkennung durch andere, insbesondere durch die herrschende Adelsschicht, angewiesen ist. Und nicht nur das: So sehr er auf den Trivialliteraten hinabschaut, so sehr ist er auf dessen Hilfe angewiesen. Denn auch die Lösung der Schreibblockade erfolgt nach einem alten „Hausrezept“ von Vulpius‘ Großmutter. Es ist nicht zuletzt die von Goethe geliebte, aber unterschätzte Christiane, die den mephistophelischen Pakt zwischen ihrem künftigen Gatten und ihrem Bruder geschickt vermittelt. Sie weiß: Manchmal ist es schlauer, sich dümmer zu stellen, als man ist, und die beiden erst mal reden zu lassen, damit sie ihren ausgeprägten Hang zum Mansplaining ausleben können: „Beide liebten es, anderen Leuten etwas zu erklären“.

Menschliches Normalmaß

Vulpius attestiert dem Großdichter schließlich ein Leiden, das man heute vielleicht als krankhaften Perfektionismus bezeichnen würde: „Ihr Problem könnte etwas damit zu tun haben, dass Sie bei allem, was Sie schreiben, den Anspruch haben, etwas Bedeutendes zu schreiben“. Er empfiehlt Goethe, diesen Anspruch aufzugeben, um einfach wieder ins Dichten zu finden. Als Übung soll sich Goethe eines Stoffes annehmen, den Vulpius noch nicht ausgearbeitet hat. Also beginnt Goethe, eine „Räuberpistole mit viel Abenteuer und Liebe“ zu entwerfen. Das ist eigentlich unter seiner Würde. Er schreibt daher heimlich im Gartenpavillon, sein Arbeitszimmer soll durch dieses minderwertige Geschreibsel nicht entweiht werden. Niemand soll jemals davon erfahren.

Warum dieses Buch 1801 mit dem Titel Rinaldo Rinaldini, verfasst von einem gewissen Vulpius, herauskommt und zudem ein großer Erfolg wird, sei hier nicht verraten. In jedem Fall hat die Schreibtherapie positive Auswirkungen auf Goethes Laune und seine Hämorrhoiden.

Lewinsky versteht es, mit viel Freude den großen Goethe auf menschliches Normalmaß zurechtstutzen. Das Ergebnis ist ein süffisant erzählter Lesespaß.
 
Charles Lewinsky: Rauch und Schall. Roman
Zürich: Diogenes, 2023. 304 S.
ISBN: 978-3-257-07259-4
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe (auch als Hörbuch)

Top