Rosinenpicker | Literatur
Der Kaiser muss sterben!
Sommer 1914. In Berlin treffen vier Menschen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten und dennoch eines gemeinsam haben: Sie lieben die Freiheit und hassen den Kolonialismus.
Von Swantje Schütz
Kolonialwarenladen – ein Wort aus vergangenen Zeiten. Max Annas lässt es in seinem neuesten Buch Berlin, Siegesallee wieder aus der Versenkung auftauchen. Tatsächlich denkt man eher selten daran, dass auch Deutschland Kolonien in Afrika und Asien hatte, wenngleich weniger als beispielsweise die Seefahrernationen Niederlande oder Spanien.
Max Annas erinnert uns mit seinem historischen Krimi an diese unrühmliche Zeit in unserer Vergangenheit: Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Kamerun und Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda) sind die Kolonien, die der Autor als Randschauplätze in seinen Roman einfließen lässt. Annas hat sich in der Vergangenheit bereits mit dem Kontinent befasst, er lebte und arbeitete in Südafrika. Daraus erwuchs die Trilogie des Chaos, Thriller, die die gesellschaftlichen Verhältnisse Südafrikas thematisieren.
Alltagsrassismus im letzten Jahrhundert
1914 im Kaiserreich, kurz vor dem Ersten Weltkrieg lernen sich drei Schwarze Männer in Steglitz kennen, als der Stadtteil noch nicht zu Berlin gehörte. Einer von ihnen ist Friedrich Smith, der im Kaiserreich geborene Sohn eines Schwarzen Amerikaners und einer Deutschen. Der Vater stieg als Bediensteter eines US-Diplomaten in dem Berliner Hotel ab, in dem Friedrichs Mutter angestellt war. Dann gehört Ayang dazu – der Sohn eines getöteten Kameruner Kolonialbeamten, der in Berlin Theologie studieren soll. Und schließlich Ernst, der eigentlich Nashilongweshipwe heißt und von seinem Herrn – einem Maler, der dem Kaiser gefallen möchte – aus Südwest mitgebracht worden war. Als sei diese Kombination noch nicht schräg genug, zählt zum Romanpersonal auch die Fabrikantentochter Florentine vom Baum, die den englischen Suffragetten nacheifert und für die Freiheit der Frau eintritt. Eine arrangierte Ehe? Nicht mit ihr!Auf den Straßen fallen die drei Männer überall auf, aus den öffentlichen Verkehrsmitteln werden sie manchmal verjagt, manchmal auch nicht. Dass die drei etwas Besonderes sind im damaligen Berlin, unterstreicht die absurde Völkerschau, die die Truppe gemeinsam mit Florentine besucht. Auch hier ist es wertvoll, dass Max Annas uns erinnert. Die Ära der grotesken und skandalösen Völkerschauen endete tatsächlich erst 1952 im Berliner Zoo mit einer Präsentation von Menschen aus Lappland.
Mord ohne Berichterstattung
Die vier finden sich, denn sie haben eines gemeinsam: einen gehörigen Hass angesichts der Verbrechen während des Kolonialismus sowie des Völkermords in Deutsch-Südwest an den Herero und Nama. Aus Rache bringen die vier Verbündeten Soldaten um, die entweder in den Kolonien waren oder dorthin auf dem Weg sind und durch rassistische Äußerungen auffallen. Als die öffentliche Aufmerksamkeit ausbleibt, beschließen sie das schier Unglaubliche: Der Kaiser muss sterben, ein Attentat wird geplant.Das Buch mit seinem anschaulichen Blick auf die wilhelminische Gesellschaft ist lehrreich, ohne zu belehren. Der Journalist und Romanautor Max Annas baut Briefe von Joseph Ayang aus Douala, Kamerun, an Theodor vom Baum, Florentines Bruder, in seinen Roman ein. Sie reichen bis in die 1940er-Jahre. Insbesondere die Sprache dieser Briefe ist der Zeit angepasst und kommt oft so antiquiert daher, dass man sich gut einfühlen kann in die historische Kulisse. Der Roman ist nicht so spannend, wie der Plot „geplantes Attentat auf den Kaiser“ vielleicht vermuten lassen mag, fesselnd ist er trotzdem.
Kriminalroman ohne Aufklärung
Es geht in diesem Buch nicht darum, aufzuklären, die Täter zu finden. Vielmehr steht das Handeln der Viererbande im Vordergrund. Zudem ist der ermittelnde Leutnant August Peterhardt als eher unfähig beschrieben und bleibt eine blasse Figur. Gelungen sind Max Annas aber alle Charaktere, sie spiegeln zusammen auf interessante Weise Teile der damaligen Gesellschaft.Hamburg: Rowohlt, 2024. 288 S.
ISBN: 978-3-498-00316-6
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