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Rosinenpicker | Literatur
Auf Streifzug durch die Vorstädte

Kinder auf Tretrollern vor Mauer (Buchcover: Weber: Bannmeilen)
© Matthes & Seitz / Canva

Anne Weber lebt seit Jahrzehnten in Paris, kennt aber die Vorstädte vor ihrer eigenen Haustür kaum. Für ihr neues Buch hat sie sich deshalb auf ungewöhnliche Entdeckungsreisen begeben.

Von Hendrik Nolde

Mehr als 15 Millionen Menschen werden aller Voraussicht nach im Sommer 2024 nach Paris reisen. Sie alle wollen die Olympischen Sommerspiele besuchen – wozu ein Abstecher in das Département Seine-Saint-Denis gehören könnte. Denn neben dem internationalen Flughafen Paris-Charles de Gaulle beheimatet das Vorstadtgebiet im Nordosten der französischen Hauptstadt auch einige Wettkampfstätten, darunter das 80.000 Zuschauer*innen fassende Nationalstadion, in dem die Rugby- und Leichtathletikwettbewerbe stattfinden. Auf den Spuren von Anne Weber werden allerdings vermutlich die wenigsten der sportbegeisterten Tourist*innen wandeln. Die deutsche Autorin, die seit über 40 Jahren in Paris lebt, hat sich für ihr neues Buch Bannmeilen auf Streifzüge durch die banlieues ihrer adoptierten Heimatstadt gemacht. Dabei hat sie besonders die Orte in den Blick genommen, die sonst kaum zum Verweilen einladen.

Ausgangspunkt für diese Expeditionen in den Speckgürtel ist eine simple, aber pointierte Erkenntnis, die sich schon nach einem kurzen Parisaufenthalt gewinnen lässt: Fast immer, wenn man sich hier irgendwohin aufmacht, bewegt man sich in Richtung Zentrum oder doch zumindest innerhalb der (mittlerweile unsichtbaren) Stadtmauern. Wenige Wege hingegen führen über den Autobahnring hinaus, der den Stadtkern von den weitläufigen Vorstädten trennt, aus denen sich Grand Paris zusammensetzt. Diesem Missverhältnis möchte Anne Weber auf den Grund gehen. Und so heftet sie sich an die Fersen ihres alten Freundes Thierry – ein Franzose mit algerischen Wurzeln, der im banlieue aufgewachsen ist. Die Erzählung begleitet das ungleiche Duo auf schier endlosen Fußmärschen entlang von Nationalstraßen, durch gigantische Hochhaussiedlungen und auf Friedhöfe, wo von letzter Ruhe aufgrund des Lärms der angrenzenden Industriegebiete kaum die Rede sein kann. Das vermeintliche Ziel dieser Entdeckungsreisen ist ein Filmprojekt Thierrys über die Auswirkungen der olympischen Spiele. Schnell gerät diese offizielle Motivation jedoch in den Hintergrund. Stattdessen werden die Streifzüge zum Selbstzweck, denn das als unwirtlich verschriene Reiseziel entwickelt eine sogartige Faszination auf Weber und ihren Begleiter, die sie immer wieder zurückkehren lässt.

Galgenhumor statt Kärcher-Rhetorik

Das aufgrund seiner Postleitzahl 93 auch Neuf Trois genannte Département zählt offiziell etwa 1,7 Millionen Einwohner*innen und ist als sozialer Brennpunkt berüchtigt. Für internationale Schlagzeilen sorgte es durch Unruhen im Jahr 2005, ausgelöst durch den Tod zweier Jugendlicher im Rahmen einer Polizeikontrolle. Der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy sprach davon, die Vorstädte, die zu den Hochburgen gewaltsamer Ausschreitungen zählten, mit dem Hochdruckreiniger säubern zu wollen. Solcher stumpfen Rhetorik und den dahintersteckenden Stereotypen versucht Anne Weber mit ihrer Erzählung entgegenzuwirken. Bannmeilen – im Übrigen die wörtliche deutsche Übersetzung von banlieues – ist die Dokumentation einer Spurensuche nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen hinter den Schlagzeilen. Bewusst will die Autorin die Orte beleuchten, die im Diskurs derjenigen, die sich für gewöhnlich gen Zentrum bewegen, stets zu kurz kommen: „Die abgelegenen, vergessenen Ecken sind nur von uns vergessen, von anderen werden sie bewohnt.“

Ihrer eigenen privilegierten Beobachterinnenrolle ist sich Anne Weber dabei stets bewusst. Immer wieder reflektiert sie diese, um eine klischeehafte Darstellung zu unterlaufen. Bewusst will sie weder Katastrophentourismus betreiben noch in die Falle tappen, die vorgefundenen Verhältnisse zu romantisieren. Letzter Ausweg im Angesicht der bisweilen erschreckenden Realität sind bewusst provokante, inszenierte Streitgespräche mit Thierry, mit denen die Extreme gesellschaftlicher Diskussionen aufs Korn genommen werden und die mit ihrem Galgenhumor für willkommene komische Entlastung sorgen. Weber streut außerdem immer wieder lehrreiche historische Beobachtungen ein, etwa über den Algerienkrieg und dessen postkoloniale Auswirkungen, die bis in die französische Gegenwartsgesellschaft prägend sind.

Olympia und die ungewisse Zukunft

Die Entwicklung des Großraums Paris zählt zu den ambitioniertesten Versprechungen der Olympia-Veranstalter*innen. Insbesondere im Département Seine-Saint-Denis sollen nachhaltig positive Effekte erzielt werden. So will man das Verkehrsnetz ausbauen und Anlagen für den Jugend- und Breitensport sanieren. Mit dem Olympischen Dorf auf der Île Saint-Denis entstehen außerdem 2.800 neue Wohnungen, gestaltet nach dem neuesten Stand klimagerechten Bauens. Siebzig Prozent davon sollen nach Ende der Spiele als Sozialwohnraum der Kommune zugutekommen und für Entlastung im notorisch überlasteten Immobilienmarkt im Großraum Paris sorgen. Die Sorge, dass damit gentrifizierte Inseln entstehen, die sich im urbanen Chaos der hyperindustriellen Nicht-Orte des Neuf Trois wie Fremdkörper anfühlen, ist berechtigt und hat bereits für Proteste gesorgt. Es gilt zu hoffen, dass sich in Zukunft dennoch flächendeckend positive Entwicklungen erkennen werden lassen im ärmsten und gleichzeitig durchschnittlich jüngsten Département Frankreichs. Eines steht jedenfalls fest: Der Stoff für eine Fortsetzung liegt auf den Straßen von Seine-Saint-Denis, falls sich Anne Weber entscheiden sollte, in einigen Jahren erneut zu Streifzügen für eine Fortsetzung von Bannmeilen aufzubrechen.
Anne Weber: Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen.
Berlin: Matthes & Seitz, 2024. 301 S.
ISBN: 978-3-7518-0955-9
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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