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Rosinenpicker | Literatur
Unterwegs im Ruhrgebiet

Trinkhalle "Heiße Ecke", Buchcover: Schulze: Zu Gast im Westen
© Holger Moos / Wallstein

Ingo Schulze erkundete ein halbes Jahr lang das Ruhrgebiet. Dort entdeckte er nicht nur viel Neues, sondern auch einiges, was diesen Teil des Westens mit dem Osten verbindet.
 

Von Holger Moos

Anlässlich der im September anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wird viel nach Osten geschaut, meist angsterfüllt angesichts der zu erwartenden Wahlerfolge der AfD. Der 1962 in Dresden geborene, aber schon seit Langem in Berlin lebende Schriftsteller Ingo Schulze schaut in seinem neuen Buch Zu Gast im Westen nun zurück.

Auf Einladung der in Essen ansäßigen Brost-Stiftung war Schulze von Oktober 2022 bis März 2023 der „Metropolenschreiber Ruhr“. In diesem Projekt sollen ausgewählte Autor*innen einen Blicke von außen auf das Ruhrgebiet werfen, sie sollen „Routine und Gewissheiten der alltäglichen Innenansicht sowie Klischees hinterfragen und neue Sichtweisen eröffnen“, so die Projekt-Website.

Scheiße reich

Ursprünglich wollte Schulze in dieser Zeit an einem Roman schreiben. Doch es kam anders. Er folgte diversen Einladungen und lernte so ganz verschiedene Menschen kennen, vom Ex-Polizeipräsidenten über Grundschuldirektor*innen bis zum ehemaligen Republikflüchtling. Zu Gast im Westen besteht daher meistenteils aus der Erzählung dieser Begegnungen. Schulzes Methode war im Grunde, keine zu haben: „Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen. Es gibt wohl kaum ein unsystematischeres Vorgehen ... Dafür bescherte mir jede Einladung sofort einen persönlichen Bezug, und immer verbanden sich damit Anregungen.“

Der Fußball – Schulze ist Fan von Borussia Dortmund – ist mehrmals Ausgangspunkt seiner Begegnungen. So trifft er den ehemaligen Essener Polizeipräsidenten Frank Richter bei strömenden Regen zu einem Drittliga-Heimspiel von Rot-Weiß Essen. Dieser belehrt Schulze wortreich über das Thema Clankriminalität, bemerkt aber auch in ruhrgebietstypischer Selbstironie: „Meine Frau würde sagen, ich habe wieder Sprechperlen im Mund.“ Mit Olivier Kruschinski, einem Vollblut-Schalker, der Führungen durch den bekanntesten Gelsenkirchener Stadtteil anbietet, besucht Schulze unter anderem den Schalker Fan-Friedhof. Er hört Kruschinskis Ausführungen gerne zu, ist fasziniert von seiner bildhaften und eingängigen Erzählweise, Beispiel gefällig? „Bis Mitte der Sechziger hatten sie hier das größte Steueraufkommen, das Ruhrgebiet war »scheiße reich«.“

Im Strukturwandel vereint – und doch verschieden

Schulze taucht außerdem in die Geschichte des Ruhrgebiets ein. Während des Besuchs eines klassischen Konzerts im Alfried Krupp-Saal der Philharmonie Essen fragt er sich, weshalb ein festlicher Raum nach einem Industriellen benannt wird, der im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wegen des Einsatzes von Zwangsarbeitern und Plünderungen zu 12 Jahren Haft verurteilt wurde. In der Folger erzählt Schulze die Geschichte des Krupp-Konzerns und ist besonders fasziniert von den Arbeitskämpfen 1987, als die Konzernführung beschloss, das Krupp-Stahlwerk in Rheinhausen zu schließen und Tausende Arbeiter zu feuern. Eine viel beachtete Rede des Betriebsleiters Helmut Laakmann führte zum längsten Arbeitskampf in der bundesrepublikanischen Geschichte, inklusive eines Sturms auf die berühmte Villa Hügel, den Krupp-Familiensitz in Essen. Der Namensgebung des Konzertsaals gewinnt Schulze schließlich sogar etwas ab, denn dadurch werden wir „daran erinnert, dass wir vom Guten wie auch vom Grauenhaften profitiert haben, profitieren und profitieren werden, weil selbst dann, wenn wir allein einem Sinfoniekonzert zu lauschen glauben …, die Widersprüche und Unzulänglichkeiten unseres Landes eben stets anwesend sind.“

Natürlich erinnert der Strukturwandel des Ruhrgebiets Schulze an den wirtschaftlichen Zusammenbruch Ostdeutschlands nach der deutschen Wiedervereinigung. Nicht zu vergessen sei bei allen Ähnlichkeiten wie der Deindustrialisierung und der Abwanderung, dass sich der Strukturwandel im Ruhrgebiet über Jahrzehnte erstreckte, während sich im deutschen Osten die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe innerhalb von zwei Jahren nahezu halbierte.

Schulze beobachtet jedoch nicht nur die Menschen, die er trifft, sondern auch sich selbst. Oft habe er automatisch angefangen, vom Osten zu erzählen und die Unterschiede zu beschreiben: „Gerade anfangs fiel mir auf, dass ich, sobald ich nach meinen Eindrücken im Ruhrgebiet gefragt wurde, vom Osten zu erzählen begann, als hätte ich die Frage falsch verstanden.“

Grundsympathischer Gast

Ingo Schulze ist ein sehr zugewandter, grundsympathischer Gast im Westen. Auf fast jeder Seite seines Buches spürt man, dass er sich wohlgefühlt hat unter den Ruhrpottlern, ja, er hätte gerne noch mehr Zeit in der Region verbracht. In dieser Hinsicht kann der Westen vom „Ossi“ Schulze etwas lernen: einen offenen, interessierten und bei aller Kritikwürdigkeit wohlwollenden Blick auf den anderen zu werfen.

Dementsprechend endet Schulzes Buch mit einer humorvollen Anekdote: Zurück in Berlin bekommt er eine E-Mail von einem Lebensmittellieferanten aus dem Ruhrgebiet mit dem Slogan „Wir vermissen dich!“ Schulze verspürt den Impuls zu antworten, „denn es erging mir ähnlich. Ich hätte natürlich erklären müssen, dass ich damit nicht den Lieferservice meinte, sondern es gern allgemeiner verstanden wissen wollte, Mülheim eben, Essen, Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Oberhausen, Herne, Bottrop, das Ruhrgebiet halt“.
 
Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet
Göttingen: Wallstein, 2024. 344 S.
ISBN: 978-3-8353-5583-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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