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Rosinenpicker | Literatur
Hinter ungesagten Worten

Jugendliche posieren in der Zechensiedlung Eisenheim in Oberhausen, 1970er-Jahre, zwei Jungen, drei Mädchen, 12 bis 16 Jahre
Schick gemacht für den Fototermin: Jugendliche in der Oberhausener Zechensiedlung Eisenheim | Foto (Detail): © mauritius images / Werner Otto

Wie viel kann eine Freundschaft aushalten, wenn die Gesellschaft sie zu zerreißen droht, wenn die Ungleichheiten gewichtiger scheinen als all gemeinsam Erlebte? Ein Roman, der mit bohrenden Fragen unter die Haut geht.

Von Sina Bahr

„Ganze Bücher, ganze Bibliotheken könnte man füllen mit all den ungesagten Worten, den ungesagten Sätzen.“ Immer wieder taucht dieser Satz auf, zieht sich durch das ganze Buch. Ein Buch, das viel zu sagen hat, ohne viel sagen zu müssen. Rasha Khayat erzählt in Ich komme nicht zurück von der Freundschaft dreier Menschen, die ab dem 11. September 2001 erkennen, dass manche Unterschiede schwerer wiegen als jede Gemeinsamkeit.

Khayat: Ich komme nicht zurück (Buchcover) © Dumont

Flucht aus der Heimat, Zuflucht in der Wahlfamilie

Als die Ich-Erzählerin Hanna und ihr bester Freund Cem zum ersten Mal auf Zeyna treffen, sind sie gerade mit dem Ferienprogramm ihrer Siedlung –„für die Arme-Leute-Kinder“, wie es eine Nachbarin nennt – auf dem Minigolfplatz. Das neue Mädchen spricht Arabisch, sie verstehen sie nicht, doch die Sprachbarriere steht ihrer Freundschaft nicht im Weg. „Viel konnten wir einander nicht sagen in diesen ersten Wochen und Monaten unseres ersten gemeinsamen Sommers. Kinder waren wir, wir drei, brauchten gar nicht so viele Worte oder Sätze.“

Bald machen sie es sich zur Aufgabe, Zeyna beim Deutschlernen zu unterstützen, nicht nur Hanna und Cem, auch Hannas Großeltern, bei denen sie seit dem Tod ihrer Eltern lebt. Sie werden ein zweites Zuhause für Zeyna und ihren Vater Nabil. Die beiden sind geflohen aus dem Libanon, ihrem Heimatort, wo der Krieg ihnen das Haus und Zeyna die Mutter nahm. Es entsteht ein liebevolles Miteinander, eine Wahlfamilie, in der Hanna, Zeyna und Cem sorglos das Kindsein genießen, zu Jugendlichen heranwachsen und sich nicht von der Seite weichen.

Zwischen Einsamkeit und Erinnerung

Die Erinnerungen an jene Zeit holen Hanna wieder ein. Nach Jahren der Distanz ist sie zurück ins Ruhrgebiet gezogen, ihre Großeltern sind beide verstorben. In deren Wohnung, dem Zentrum ihrer Vergangenheit, fragt sie sich: „Was ist ein Leben wert, wenn niemand sich mit dir erinnert (…), wenn du die Einzige bist, die sich über Fotos beugt und denkt – damals.“ Außer Cem ist da niemand mehr, keine Eltern, keine Großeltern, die beste Freundin, die einst wie eine Schwester war, hat vor Jahren mit ihr gebrochen.

Den Grund dafür kennt nicht einmal Cem, der letzte Vertraute in Hannas Leben. Zu groß ist ihre Scham über das, was vorgefallen ist. Und doch wächst die Sehnsucht nach Zeyna, die sie wie ein Geist verfolgt – bis Hanna nicht mehr anders kann und nach Jahren der Funkstille einen ersten Kontaktversuch wagt.

„WIR gegen DIE“

Doch es ist nicht nur jener Vorfall, der Zeyna aus Hannas Leben treibt. Als am 11. September 2001 der Terroranschlag auf das World Trade Center die Welt erschüttert, sehen sich Zeyna und Cem zunehmend mit Problemen konfrontiert, die Hanna fremd sind. Zeyna muss ihren Job im Frisörsalon aufgeben, weil die Kund*innen sie nicht mehr an ihre Haare lassen, das Taxi ihres Vaters wird mit Dreck beworfen und bespuckt. Auch Cems türkische Familie ist betroffen – ständig diese Rufe: „Geh nach Hause, Terrorist!“ oder „Wir wollen euch hier nicht!“. Trotz allem bleibt die Verbundenheit der gemeinsamen Jahre – bis Hannas Fehltritt alles ändert.

In klarer, packender und zugleich poetischer Sprache trägt uns Rasha Khayat durch Hannas Gefühlswelt: durch Schuld und Scham, ihre Einsamkeit, ihre Sehnsucht nach Zeyna, nach einer Zeit, in der die beiden Mädchen eine Einheit waren, ohne zu ahnen, dass die Gesellschaft bald geteilt sein würde – „WIR gegen DIE“ –, dass ihre Freundschaft diese Teilung nicht überstehen würde. Und doch klammern wir uns mit Hanna an den letzten Funken Hoffnung, der sie immer wieder zum Handy greifen lässt.

Erspüren statt erklären

Ich komme nicht zurück rückt aktuelle Themen von gesellschaftlicher Bedeutung ins Bewusstsein der Leser*innen, ganz ohne Belehrungen und Analysen. Ob Migration, Diskriminierungserfahrungen, das Konzept Wahlfamilie oder die Einsamkeit junger Erwachsener in Zeiten der Unsicherheit: Rasha Khayats Roman lässt uns das Menschliche und Verletzliche hinter diesen großen Begriffen erspüren. Und lässt uns bis zur letzten Seite hoffen, dass all die ungesagte Worte zwischen den beiden Freundinnen endlich ausgesprochen werden.
Rasha Khayat: Ich komme nicht zurück
Köln: Dumont, 2024. 176 S.
ISBN: 978-3-8321-6812-4

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