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Dingos_2© Jan Bauer

Stefan Mesch über "Der salzige Fluss"
Die sorgsam gezogenen Linien der Selbstabgrenzung

"Hast du Salzkörner gespürt, beim Umblättern und Lesen?" fragt mich Kirsten: "Jan Bauer salzt den Comic, bevor er ihn einpackt und verschickt."

Kirsten lebt in Hamburg. Sie weiß, wie gern ich Comics entdecke - und lässt mir 2014 das erste Buch eines Hamburger Bekannten schicken. "Der salzige Fluss" ist ein kluger, warmherziger Reise- und Selbsterfahrungs-Comic über eine Wanderung durch Australien, die Autor und Zeichner Jan Bauer 2012 nach dem Krebstod seiner Mutter antrat.

Ein Buch, das ich besonders gern an alle verschenke, die wenig Comic-Leseerfahrung haben. Auf 234 Seiten zeigt Bauer (oft mit einfachsten Mitteln), was Comics, "Graphic Novels", sequentielles Erzählen können: mit etwas Witz, viel feiner Psychologie... und ohne Eitelkeiten.

Der größte Haken, Angriffspunkt ist das Setting: Rucksack-Jungs bedienen sich an Welt, doch begreifen Kulturen, Landschaft, Nationen oft nur als Foto-Tapete, Kulisse des eigenen Innenraums, und berichten  selbstbezogen über "die Aborigines" oder "die" australische Mentalität. "Der salzige Fluss" erspart sich alle Zuschreibungen, Rassismen, Ignoranz, indem Jan Bauer schon auf den ersten Seiten klar stellt: Es geht ihm ums Alleinsein, Ruhe, Innerlichkeit. Die Reise ist ein Selbsterfahrungs-Trip, um den Verlust der Mutter und das Ende einer 16 Jahre langen Beziehung zu verarbeiten. Was Australien als Nation ausmacht, die Bewohner, der Kulturrraum, kommt nicht vor.

"Hier draußen", zeigt Bauer beim Wandern durch ein vertrocknetes Flusstal ab Alice Springs, "ist das Leben unmittelbarer. Die sorgsam gezogenen Linien der Selbstabgrenzung werden nicht mehr aufgefrischt und lösen sich allmählich auf." Ein Gedanke, der als bloßer Text, etwa in Australien-Klassikern wie Bruce Chatwins "Traumpfade" recht blass, banal klänge. Hier überzeugt die Zeichnung: Die Comicfigur Jan Bauer (Knopfaugen, rasierter Kopf, ein sympathisch simples Allerwelts-Männchen im Tim-und-Struppi-Stil) leidet beim Wandern unter einer Mückenplage - bis sie sich Grashalme zwischen Hut und Glatze klemmt, die dann beim Gehen wie Radspeichen oder Gitterstäbe vor dem Gesicht wippen, so alle Insekten abwehren.

Um zu zeigen, wie sich "die sorgsam gezogenen Linien der Selbstabgrenzung auflösen", löscht Bauer die Linien seiner Figur: übrig bleibt nur der Hut, die Halme, eine Sonnebrille und der Rucksack, in der Luft schwebend, als wäre Bauer unsichtbar. Ein Körpergefühl, das ich gerade in fast 140 Wörtern umschrieb - doch für das Bauer nur ein paar (fehlende) Striche und zwei Sätze braucht. Das können Comics!

Literarisch, psychologisch spannend wird "Der salzige Fluss", als Jan in einem Camp- und Wasserlager Morgane trifft, eine zwölf Jahre jüngere Französin, ebenfalls allein unterwegs. Will er die Ruhe, Einsamkeit aufgeben, um sich an einer Person, deren Kanten, Konturen und Erwartungen, zu verhandeln? Trübt das die Reise? Beginnt hier eine Romanze? Die große Liebe?

Als ich "Der salzige Fluss" 2014 las, war ich mir sicher: 5 von 5 Sternen - und trotz der simpel gezeichneten Gesichter und den sehr einfachen Szenen- und Bildfolgen: ein mutiges Stück Autofiktion! Denn die Figur "Jan Bauer" ist ein pedantischer Trottel. Er will die kargen Landschaften mit schwarzer Tusche malen und schreibt vor Abreise der Tusche-Firma einen Brief. Wasser kann er über weite Strecken nicht nachfüllen, in der Natur: Kann er Wasser, geschwärzt vom Pinsel-Reinigen, bedenkenlos trinken?

Ähnlich neurotisch, freudlos, beklemmend wirken auf mich die Erklär- und Übersichts-Zeichnungen des Rucksack-Inhalts, der Wanderroute und die viele oft freudlose Logistik: Auf welchem Zeltplatz schlafe ich? Welchen Proviant hebe ich mir auf? Wie kann Morgane ohne Kamm reisen, und nur eine Unterhose einpacken? Jan hat vier Unterhosen, einen Topfkratzer, Kondome! Für "Freiheit" scheint in Jans straffem Zeitplan wenig Raum.

Beim Neu-Lesen 2019, nach #metoo, kommt mir "Der salzige Fluss" noch deutlich näher: Was ich 2014 an der Figur Jan verträumt, neurotisch fand, scheint mir jetzt oft kalkuliert, distanzlos. Morgane scheint deutlich weniger Interesse an einer Romanze zu haben als Jan, doch mit viel Betteln, Imponiergehabe, Drucksen und "Schau, wie traurig mich deine Abweisung macht" wurmt sich der 35jährige binnen sechs Tagen an die oft sichtbar genervte, ungeduldige Frau. Bauer zeigt Nähe, Romantik, Verspieltheiten. Doch immer auch Szenen, in denen Jan Morgane beobachtet wie eine Art Tier, das er anlockt, und in dessen Nähe er sich selbst versichern kann, zutraulich zu sein. Ein "Nice Guy", der um sich selbst kreist.

Mich begeistert, wie atmosphärisch und bunt der Schwarzweiß-Comic wirkt; wie mühelos ich Farbstimmung des Covers beim Lesen der Schwarzbilder des Innenteils mit-denke. Und ich liebe, dass Bauer, heute u.a. Dozent für Character-Design an der Hochschule für Gestaltung in Hamburg, eine wichtige Lektion von "Tim & Struppi" übernahm: Dort tragen Figuren, in die sich jeder hineinversetzen soll, simpel offene Gesichter. Die Hintergründe aber sind voller Texturen, Details: präzise und naturalistisch.

Dass "Der salzige Fluss" neben Wegmarken, Equipment-Listen, detailverliebten Settings und Ortsangaben sogar ein kleines Digitalfoto einer Frau enthält, von der ich keinen Grund habe, zu denken, sie hieße nicht Morgane und alles zwischen Jan-der-Figur und Morgane-der-Figur sei nicht exakt so zwischen zwei realen Menschen geschehen, von denen sich einer erlaubt, das festzuhalten, abzubilden, zu stilisieren, macht für mich die... Wurstigkeit, Kümmerlichkeit und Penetranz von Jan-der-Figur zu einer der größten, mutigsten Leistungen von Jan-Bauer-dem-Künstler:
Ein mitreißendes Buch, das Backpacking als Selbsterfahrungs-Panorama zeigt (oder hinterfragt?). Und dann, im Ringen um Morgane, zeigt-und-hinterfragt, wie auch der simpelste Tagebuch- und Dokumentarstil Selbststilisierung ist. Ein Sich-Ausmalen, Sich-Andere-Ausmalen, -Übermalen. Von dem Jan Bauer selbst sagt: "Keine Autofiktion, keine fiktionalen Anteile. Alles ist exakt so passiert."

Uff - wie geschwätzig das klingt: als Text!

Gezeichnet, bei Jan Bauer, sieht man mehr. (Und: Danke fürs Salzen! Kann ich die Körner gefahrlos essen? Kann man mir bitte brieflich Auskunft geben: über das Fabrikat des Salzes?)

Jan Bauer: Der salzige Fluss. Avant-Verlag, Berlin 2014, 236 Seiten, 19,95 Euro

 

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