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Veganismus in Deutschland
Deutschland wird vegan

Jaap Korteweg, Gründer von „Der Vegetarische Metzger“
Jaap Korteweg, Gründer von „Der Vegetarische Metzger“ | © Der Vegetarische Metzger

Deutschland ist der am schnellsten wachsende Markt für vegane Produkte. Wie vollzieht sich dieser Wandel, und warum besteht die heiß geliebte Currywurst immer häufiger aus Soja? Wieso rücken immer mehr Deutsche von ihren traditionellen Essgewohnheiten ab und steigen auf eine vegane Ernährung um? Ist diese Entwicklung nur ein schnelllebiger Trend oder eine echte grüne Revolution?

Von Joanna Gierak-Onoszko

Kalter Novemberregen peitscht mir ins Gesicht, und meine Schuhe rutschen auf dem mit nassen Blättern bedeckten Kopfsteinpflaster. Die lauschigen Gassen im Berliner Stadtteil Schöneberg sind dunkel und leer, nur aus dem Erdgeschoss eines der Eckhäuser schimmert mir Licht entgegen. Ich stoße die Glastür auf, und schon befinde ich mich an einem Ort, der von lauten Gesprächen und dem Klirren von Besteck erfüllt ist und in dem es nach frisch gemahlenem Kaffee und gut gewürztem Essen riecht.
 
„Wir haben hier heute unseren Stammtisch. Dies ist unser zweihundertfünfzigstes Treffen“, sagt Matthias von Berlin Vegan, einer Organisation für all jene, die nicht nur ihre Ernährung umstellen, sondern auf eine möglichst nachhaltige und umweltfreundliche Weise leben wollen.
 
Heute Abend treffen sich die Berliner Veganer im Restaurant Mana. Die Inneinrichtung wirkt ruhig und minimalistisch. Der Tresen ist mit weißen Kacheln gefliest, an den Tischen stehen schlichte Lehnstühle aus hellem Holz, die Wände bestehen aus weißen Ziegeln oder sind flaschengrün gestrichen. Das Restaurant wird von einem mitten im Raum stehenden Baum beherrscht. Neben dem Baum ist ein langer Tisch aufgestellt, an dem sich etwa vierzig Personen versammelt haben, doch es kommen immer noch weitere hinzu.

Matthias

„Viele von ihnen kommen regelmäßig zu unseren Veranstaltungen, die wir zweimal im Monat organisieren. Aber es kommen auch immer wieder neue Personen hinzu, die gerade erst anfangen, sich mit dem Thema Veganismus zu beschäftigen, die einfach mal ausprobieren wollen, wie es sich ohne Fleisch lebt. Oder auch Menschen, die gerade erst nach Berlin gezogen sind und einen neuen Bekanntenkreis aufbauen wollen. Die einfach kommen, um mit uns zu quatschen und gemeinsam etwas Leckeres zu essen – bestimmt nicht der schlechteste Weg, ein neues Leben in Berlin zu beginnen“, lacht Matthias. Er ist groß gewachsen und sportlich, hat einen kahl geschorenen Kopf und trägt einen dunkelblauen Kapuzenpullover. Er sieht jugendlich aus, geht jedoch, seinen grauen Bartstoppeln nach zu schließen, wohl schon auf die vierzig zu.

„Ich bin fünfzig Jahre alt. Seit ich keine tierischen Produkte mehr esse, fühle ich mich um Jahre jünger. Früher hatte ich einen Tennisarm und Probleme mit den Gelenken. Das ist alles vorbei. Es ist nicht nur so, dass ich fitter und leistungsfähiger bin und mich seltener erschöpft und abgespannt fühle – mein ganzer Körper hat sich verändert. Sieh dir nur meine Haut an. Früher hatte ich braune Flecken auf der Hand. Man sagt, das komme vom Alter, aber in Wirklichkeit hat das eher etwas mit der Leber zu tun. Und sieh dir nur an, wie weich und glatt meine Hände heute sind. Ich sehe besser aus und fühle mich besser.“

Einen Tag von unserem Treffen hat Matthias seine Blutergebnisse abgeholt. Sein Arzt habe ihm gratuliert: Seine Cholesterinwerte seien so niedrig wie nie zuvor.

Doch noch vor gar nicht langer Zeit konnte Matthias sich ein Leben ohne Schnitzel gar nicht vorstellen. Damit war er nicht allein: Nicht nur die deutsche Esskultur und Tradition, sondern auch die deutsche Wirtschaft ist eng mit Fleisch verbunden. Der mittägliche Genuss von Fleisch war viele Jahre lang ein Zeichen von Wohlstand und sozialem Status. Zwischen 1961 und 2011 stieg der Fleischverbrauch in Deutschland von durchschnittlich 64 Kilogramm auf 95 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Seitdem ging der Fleischkonsum in Deutschland jedoch wieder leicht zurück, auf 88 Kilogramm pro Kopf,darunter 60 Kilogramm sind menschlicher Verbrauch. Doch noch immer ist Deutschland einer der größten Fleischproduzenten der Welt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden allein im ersten Halbjahr 2019 in den gewerblichen Schlachtbetrieben in Deutschland 29,4 Millionen Schweine, Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde geschlachtet.
 
Wie kam es dazu, dass Matthias 2016 zum Veganismus konvertierte? Eines Tages hatte er einen Termin mit einem Klienten und ging mit ihm in die Stadt, um etwas zu essen. Sein Klient bestellte einen veganen Burger und ging dann rasch zum Geschäftlichen über. Er hielt keine Predigten und versuchte nicht, Matthias zu bekehren. Als Matthias ihn schließlich von sich aus fragte, antwortete er, dass er aus ethischen Gründen kein Fleisch esse. Warum, davon könne Matthias sich leicht überzeugen, wenn er sich Internetvideos von Massentierhaltungsbetrieben ansähe, fügte er noch hinzu, und dann aßen sie weiter.

Ich frage Matthias, ob ihm daraufhin sein Rindfleischburger in der Kehle stecken geblieben sei?
„Keineswegs. Ich aß mit großem Appetit weiter und hielt unser Treffen für sehr gelungen.“

Doch den gesamten Heimweg über kreisten seine Gedanken um das, was er gehört hatte. Er stand im Stau und hatte genau eine Stunde, um über alles nachzudenken. Am Abend öffnete er seinen Laptop und begann, nach Informationen über Massentierhaltungsbetriebe zu suchen. Als er sie schließlich fand, wurde ihm klar, dass er dabei nicht mehr mitmachen wollte. Er seufzte kurz und sagte laut zu sich selbst: Na gut, dann bin ich eben ab heute Veganer.
 
Er habe aber doch sein gesamtes Erwachsenenleben lang gewusst, woher die Würste und Koteletts in den Regalen stammen. Es hatte ihm weder an Informationen noch an Bewusstsein gemangelt. Wieso hatte ein einziges Mittagessen mit einem Klienten plötzlich alles verändert?

„Ich denke, dass jede größere Veränderung mit einem persönlichen Erlebnis, mit einem unmittelbaren Kontakt zusammenhängt – nicht mit einer abstrakten Idee, sondern mit einem konkreten Menschen. Eine organisierte Aktion hat nie dieselbe Wirkung wie ein persönlicher Kontakt, die Begegnung mit einem anderen Menschen. Nach einer solchen Begegnung kann man sich selbst weiter informieren und seinen eigenen Weg finden. Denn es geht ja nicht nur darum, dass ich heute keine Koteletts mehr esse.“
 
Matthias meint, dass seine bewusste Entscheidung, fortan auf Fleisch zu verzichten, sein Denken über sich selbst und über seinen Platz in der Welt veränderte. Er begann schon bald, in größeren Zusammenhängen zu denken und schließlich auch zu handeln. Die Bratwurst an der Ecke verband sich plötzlich mit den Gräueln der Massentierhaltung, und der morgendliche Sahnejoghurt mit der in Rinderhaltungsbetrieben anfallenden Gülle, die in den Boden sickert und nach und nach das Grundwasser verseucht. Er erkannte das Ausmaß der durch die Lebensmittelindustrie verursachten Umweltschäden, allein schon durch die Erzeugung von Abfällen und Plastikmüll. Als Reaktion darauf verzichtete er zunehmend auf Plastik, benutzte immer seltener sein Auto und versuchte, seinen ökologischen Fußabdruck möglichst klein zu halten. Es sind viele Kleinigkeiten: Man nimmt eine Stofftasche mit, wenn man zum Einkaufen geht, lässt sich seinen Coffee-to-go in einen mitgebrachten Mehrwegbecher füllen oder hört auf, seine Klamotten zu bügeln.
 
Auch die Mode versucht, mit der grünen Revolution Schritt zu halten, denn es gibt immer mehr bewusste Konsumenten, die bereit sind, für nachhaltige Produkte ein wenig mehr zu bezahlen. Matthias krempelt seine Hose hoch und zeigt mir seine klassischen Dr. Martens: acht Schnürösen und die charakteristische gelbe Naht auf der Gummisohle. Doch die Schuhe bestehen nicht aus Leder, sondern aus einem Synthetikmaterial. Matthias sagt, es sei heutzutage in Deutschland kein Problem mehr, sich ethisch korrekt anzuziehen.
 
Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder man kauft gebrauchte Kleidung – sei es in billigen Second-Hand-Shops oder angesagten Vintage Boutiquen –, oder man tauscht seine Klamotten mit Freunden und Bekannten oder auf speziellen Kleiderbörsen. Das spart Geld und schont die Umwelt. Doch auch für all jene, die lieber neue Kleidung kaufen und auf subtile Designs stehen, gibt es spezielle Shops, insbesondere im Internet, die nachhaltige Mode anbieten: minimalistische Blazer aus ökologischer, mit umweltfreundlichen Farbstoffen gefärbter Baumwolle, warme Winterjacken mit einer Füllung aus recycelten PET-Flaschen und Jeans mit nickelfreien Nieten.

Der Markt wird grün

Das Angebot wird immer vielfältiger, denn der Markt für vegane Produkte boomt, und Deutschland führt diesen Trend an.

„Deutschland hat neben Großbritannien den größten Anteil an den weltweiten veganen Lebensmittel- und Getränkeeinführungen. Von allen veganen Lebensmitteln und Getränken, die zwischen Mai 2018 und April 2019 weltweit eingeführt wurden, kamen 20 Prozent der neuen veganen Produkte aus der Bundesrepublik“, sagt Katya Witham vom Marktforschungsinstitut Mintel. Deutschland ist der sich am schnellsten entwickelnde Markt für vegane Produkte. Wie Katya Witham hinzufügt, werden inzwischen in Deutschland auch wesentlich mehr vegane als vegetarische Produkte eingeführt: Fast jedes sechste aller in Deutschland neu erschienenen Lebensmittel- und Getränkeprodukte sei als vegan ausgezeichnet.

Vegane Produkte landen immer häufiger auch im Einkaufskorb von Verbrauchern, die nicht vollständig auf Fleisch und tierische Produkte verzichten wollen, sondern einer flexitarischen Ernährungsweise folgen und zunehmend pflanzliche Produkte in ihren Ernährungsplan aufnehmen.
 
„Vegane Produkte sind auch für eine breite Gruppe von Verbrauchern attraktiv, die sich bei ihrer Kaufentscheidung von gesundheitlichen und ethischen Kriterien leiten lassen. Es gibt ein wachsendes Interesse an umwelt- und tierfreundlich erzeugten Lebensmitteln, und eben das steigert auch die Nachfrage nach veganen Produkten“, erklärt Witham.
 
In deutschen Supermärkten werden immer mehr Regale mit veganen Produkten gefüllt. Es gibt vegane Restaurants, die zunehmend auch von Menschen besucht werden, die zwar grundsätzlich Fleisch essen, aber zunehmend pflanzliche Produkte in ihre Ernährung aufnehmen. Sogar viele Currywurst-Buden haben ihre Speisekarte angepasst und bieten nicht nur koschere oder halal Würstchen, sondern auch eine vegane Variante auf Sojabasis an. Und obwohl die klassische Currywurst nach wie vor am häufigsten verkauft wird, verlangen die frierenden Besucher der Imbissbuden rund um den historischen Checkpoint Charlie immer häufiger auch nach der veganen Variante, die sie ebenso ungehemmt in Ketchup ertränken wie die klassische Schweinefleischwurst und zu der sie Glühwein aus Styroporbechern trinken.

Der Vegetarische Metzger

Wer nach einem anspruchsvolleren Fleischersatz sucht, sollte den Vegetarischen Metzger in Berlin-Kreuzberg besuchen. Das Konzept wurde von dem niederländischen Landwirt Jaap Korteweg entwickelt, der auf eine fleischlose Ernährung umsteigen wollte, ohne dabei auf den Geschmack von Fleisch zu verzichten. Also entwickelte er Fleischersatzprodukte auf Pflanzenbasis, die aussehen und schmecken wie gebratenes Hackfleisch, gegrillte Hähnchenbrust oder Schawarma. Auf Lebensmittelmessen und in den Medien findet das Konzept großen Anklang, denn der Vegetarische Metzger bietet nicht nur attraktive Lebensmittel, sondern auch ein nicht minder attraktives Ambiente.
 
Die visuelle Identität, mit der die Firma sich ihren Kunden und Fans präsentiert, ist bis ins kleinste Detail durchdacht und stimmig. Das Logo, das ein wenig an Gemälde von Alfons Mucha erinnert, zeigt eine junge Frau mit einem Fleischermesser und einem Bund Möhren. Der Art Déco Stil wird konsequent durchgehalten, sowohl auf der Internetseite als auch auf der Speisekarte, die die Kellnerin im Konzeptstore in der Bergmannstraße vor mir auf den Tisch legt.
 
  • Der vegetarische Metzger © Der Vegetarische Metzger
    Der vegetarische Metzger
  • Der vegetarische Metzger © Der Vegetarische Metzger
    Der vegetarische Metzger
 
Die Inneneinrichtung ist äußerst gediegen und schreit geradezu danach, sofort auf Instagram gepostet zu werden. An einer rohen, unverputzten Ziegelmauer hängen minimalistische Regale, auf denen eine schwarze Presswurst und eine aufgeschnittene Mortadella mit grünen Oliven ruhen. Daneben hängen Ketten aus Brat- und Bockwürsten.

Alles nur Plüsch.
 
An dem gefliesten Tresen kann man diverse warme Gerichte bestellen: Chicken Nuggets, Bratwurst im Brötchen, Currywurst mit Pommes frites, verschiedene Burger, Döner und Schawarma – alles selbstverständlich nicht aus Fleisch, sondern aus vegetarischem oder veganem Fleischersatz, dem sogenannten „Vleisch“.
 
Die Kellnerin rät mir, es für den Anfang mit dem vegetarischen Hackfleisch zu versuchen, das aus Sojaeiweiß, Gerstenmalzextrakt, Glukosesirup, Rapsöl und Gewürzen hergestellt wird. Das aufgetaute und angebratene Hackfleisch hat eine knorpelige Textur, und obwohl es geschmacklich durchaus an Fleisch erinnert, schmecke ich den Unterschied sofort heraus.
 
Es ist Samstag Nachmittag, in den umliegenden Kneipen findet man kaum noch einen Platz. Doch der Vegetarische Metzger ist trotz seines perfekten Markenauftritts nahezu leer. Das Augenzwinkern an die jüngere Generation und die an der Eingangstür angebrachten Aufkleber mit Slogans wie „Eat pussy not animals“ oder #myplacetobeer reichen anscheinend doch nicht aus, um genügend Gäste anzulocken.

Der alltägliche Veganismus

Dafür herrscht ein paar Schritte weiter, in der Marheineke Markthalle, ein reges Gedränge. Die Stände bieten zwar kein perfektes Ambiente, aber die angebotenen Lebensmittel sind frisch, wohlriechend und bunt. Die Verkäufer versichern, dass es sich bei vielen Produkten um zertifizierte Bio-Ware handelt, und die Menschen scharen sich um die Marktstände, weil sie nach dem echten Geschmack suchen. Zu teuer? Im ersten Stock der Markthalle befindet sich ein Veganz-Supermarkt. Veganz ist die erste vegane Supermarktkette in Europa: Sie wurde in Berlin gegründet und hat inzwischen auch Filialen in Wien und Prag. Das Sortiment enthält sowohl Premiumprodukte, die entsprechend bezahlt werden wollen, als auch günstige Eigenmarkenprodukte. Die Schnitzel, Kroketten, Köttbullar und Cevapcici der Marke Veganz sind auch bei Lidl, Metro oder Edeka erhältlich. Veganismus ist in Deutschland weder teuer noch elitär.
 
  • Eine Filiale von Veganz in Berlin Quelle: flickr.com; Foto: Tony Webster; CC BY 2.0
    Eine Filiale von Veganz in Berlin
  • Eine Filiale von Veganz in Berlin Quelle: flickr.com; Foto: Josefine S. (Protected by Pixsy); CC BY-NC-ND 2.0
    Eine Filiale von Veganz in Berlin
 
Das zeigt sich auch im nahegelegenen Kiezmarkt. Die Schlange vor den Kassen ist so lang, dass sie bis in die Gänge reicht und sich eine weitere Schlange vor den Einkaufsregalen gebildet hat. Es gibt hier nicht nur vegane Produkte, aber alles ist Bio. Neben Rohprodukten wie Obst, Gemüse, Pilzen und Kräutern werden auch zahlreiche Fertiggerichte und -soßen angeboten.
 
Es gibt ein Regal mit glutenfreien Nudeln und Frühstücksflocken, eine Abteilung mit vegetarischen Brotaufstrichen und eine Kühltheke mit handwerklich hergestellter Wurst und hochwertigem Käse aus Kuh-, Schaf- und Ziegenmilch. Etwas weiter gibt es ein umfangreiches Angebot an veganen Lebensmitteln: Bratwürste, Bockwürste, Wiener Würstchen und Schinkenspeck – echte Hausmannskost, aber alles auf Pflanzenbasis.

Noch etwas weiter steht ein Kühlregal mit veganem Cashew-Quark in allen möglichen Geschmacksrichtungen, mit Kräutern, Meerrettich oder Paprika. Es gibt ein riesiges Angebot an veganen Käsesorten, unter anderem Cheddar, Parmesan, französischer Camembert und geraspelter Mozzarella. Und natürlich zahlreiche Milchersatzprodukte: nicht nur Mandelmilch mit rotem Reis oder Shiitake-Pilzen, sondern auch Joghurt, saure Sahne, Soßenbinder, Dessertgrundlagen, Pflanzencremes und Schlagsahne. In der Nähe der Kassen werden Süßigkeiten angeboten, unter anderem Schokoladentafeln, die von einer Warschauer Firma hergestellt wurden, und vegane Adventskalender mit milch- und butterfreier Schokolade.
 
In der Schlange vor den Kassen stehen nicht nur Hipster und trendbewusste junge Leute, sondern auch Familien mit kleinen Kindern – die anschließend gemeinsam mit den Einkäufen in die bereitstehenden Fahrradanhänger geladen werden – und auch ältere Menschen, die hier ihre üblichen Einkäufe tätigen. Veganismus ist in Deutschland nicht mehr nur eine Option für wohlhabende, sondern auch für bewusste Bürger.
 
„Egal, ob es um pflanzliche oder tierische Produkte geht – die Qualität und die Herkunft von Lebensmitteln werden für den deutschen Verbraucher zunehmend zum entscheidenden Kriterium“, sagt Katya Witham. „Für die Deutschen stehen gesundheitliche Aspekte im Vordergrund und eben deshalb setzen sie zunehmend auf naturbelassene und vollwertige Produkte. Deutsche Verbraucher achten sehr genau darauf, was in ihren Lebensmitteln enthalten ist, sie bevorzugen Produkte mit einer möglichst kurzen Liste an Inhaltsstoffen. Unsere Studien haben ergeben, dass 34 Prozent der erwachsenen Deutschen beim Einkauf von Lebensmitteln regelmäßig die Liste der Inhaltsstoffe prüfen. Sie wollen möglichst Lebensmittel ohne künstliche Zusatzstoffe kaufen.“

Die Studien des Meinungsforschungsinstituts zeigen auch, dass es vielen Deutsche überhaupt nicht schwerfällt, auf Fleisch zu verzichten. Sie kaufen immer häufiger pflanzliche, vollwertige und naturbelassene Lebensmittel und bevorzugen dabei den unverfälschten, echten Geschmack. Sie verzichten einfach auf Fleisch und sehen keine Notwendigkeit, sich diesen Verzicht besonders zu versüßen.

Thomas

„Wir tun das in erster Linie für uns selbst“, gesteht Thomas Sorriso Brysch von der Nichtregierungsorganisation ProVeg Deutschland. „Weder für mich noch für meine Freunde ist das eine Frage der Mode, sondern eine bewusste Entscheidung für eine nachhaltige Lebensweise, die möglichst unschädlich für die Umwelt, aber auch für uns selbst ist.“

Thomas ist etwas über zwanzig, er hat seine Haare zu einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden und trägt eine elegante Brille in Schildpattoptik. Thomas prüft und zertifiziert vegane Produkte. Wie er selbst sagt, muss seine Organisation nicht viel Werbung machen – die Firmen rennen ihnen von selbst die Türen ein, weil sie genau wissen, dass Zertifikate ihnen dabei helfen, neue Vertriebswege zu erschließen und neue Kundenschichten zu erreichen.
 
„Vor vier Jahren arbeitete ich in einem Milch- und Käseverarbeitungsbetrieb auf einer Insel vor der Küste Australiens. Das war eine schockierende Erfahrung. Antibiotika, Pestizide, industrielle Landwirtschaft. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie dort produziert wird. Wälder wurden gerodet, um Weidegrund für die Kühe zu schaffen. Die ganze Insel wurde zerstört, nur um mehr Käse zu produzieren.“
 
Thomas' wichtigste Motivation war die Sorge um das Wohl der Tiere und der Umwelt. Schon bald veränderte er seine Einkaufsgewohnheiten. Er gibt zu, dass ihm der Umstieg zum Veganismus anfangs schwerfiel und er erst lernen musste, seine Ernährung zu planen. Doch seitdem sich alles eingespielt hat, macht er sich im Grunde keine Gedanken mehr über seine Art der Ernährung – ebenso wenig, wie über seine Körpergröße oder über seine Augenfarbe.

„In Europa und inzwischen auch in Deutschland ist es überhaupt kein Problem mehr, sich vegan zu ernähren. Der Markt ist voll von veganen Produkten, die den Originalen aus Milch, Butter und Fleisch täuschend ähnlich sind. Es gibt vegane Würste, Patties und Hamburger – du hast den Geschmack von Fleisch auf dem Teller ohne all das, was damit zusammenhängt. Auch in der Gesellschaft wird vegane Ernährung zunehmend akzeptiert.“

Lediglich Thomas' Familie, in der nach wie vor traditionell polnisch gekocht, kann sich nicht so ganz mit seinen Essgewohnheiten anfreunden. Seine Familie lebt im Westen Deutschlands, in einer 55 000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Aachen. „Sie versuchen, zu respektieren, dass ich zum Mittagessen kein Kotelett mehr esse, aber zum Frühstück servieren sie mir belegte Brote mit Schinken. Das sei doch Wurst und kein Fleisch, sagen sie dann. Sie schütteln den Kopf und erklären mich für übergeschnappt.“

Lügen

Bereits als Kind hatte Thomas viel Kontakt zu Tieren, er wuchs auf dem Land auf. Es war ganz normal, dass man dort Hühner oder Schweine hielt und sie anschließend aufaß. „Aber das waren andere Zeiten. Die Tierhaltung war damals wesentlich eingeschränkter und nachhaltiger und nicht so industrialisiert wie heute. Heute ist alles automatisiert, die Tiere werden massenweise, völlig industriell geschlachtet, und die Verbraucher sind sich dessen nicht immer bewusst“, sagt Thomas.

„Sie werden durch die Werbung getäuscht. Sieh dir nur all die Milchkartons mit lächelnden, Gänseblümchen kauenden Kühen, Geflügelverpackungen mit niedlichen Hühnchen oder Kühlwagen mit glücklichen Schweinen an. Das ist doch eine einzige große Lüge. Solche Werbebotschaften zeichnen ein völlig falsches Bild von den Bedingungen, unter denen diese Tiere gehalten und geschlachtet wurden.“
 
Ist das Wissen über die Herkunft von Fleisch, Käse und Milch dafür verantwortlich, dass immer mehr Deutsche von ihren traditionellen Essgewohnheiten abrücken?
Der Trend zum Veganismus ist nicht nur eine Modeerscheinung, sondern eine langfristige Entwicklung, die sich nicht nur in den Speisekarten der angesagten Berliner Restaurants, sondern auch im Sortiment der Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte und damit auch in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion widerspiegelt.

„Es ist einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsbereiche“, sagt Katya Witham. „Eine Ende 2017 von uns in Deutschland durchgeführte Umfrage ergab, dass 6 % aller Befragten sich als Veganer bezeichnen, während es im Vorjahr nur 4 % waren. Dieser Trend wird vor allem von jüngeren Verbrauchern getragen, die sich wesentlich stärker für das Thema vegane Ernährung interessieren als der Rest der Gesellschaft. Aus unseren Umfragen geht hervor, dass 8 % aller Deutschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren und sogar 13 % aller Deutschen im Alter zwischen 25 und 34 Jahren sich als Veganer bezeichnen.“

Die Vorteile einer veganen Ernährung sind spürbar und messbar. Man kann also davon ausgehen, dass all jene, die bereits heute vegan leben, dieser Ernährungsweise bis ins hohe Alter folgen werden. Thomas sagt, vegane Ernährung sei einfach eine rationale Antwort auf die Herausforderungen der heutigen Zeit, und das Rationale sei den Deutschen gewissermaßen in ihre nationale DNA eingeschrieben.

„Veganismus ist nur ein weiterer Ausdruck unserer pragmatischen und rationalen Einstellung zum Leben. Wir trennen schon seit vielen Jahren unseren Müll, und niemand wehrt sich dagegen. Wir haben eingesehen, dass es notwendig ist, also haben wir kein Problem damit. Wir erkennen die Vorzüge erneuerbarer Energien. Wir machen Berechnungen, überprüfen die Wirtschaftlichkeit und lernen schnell, von diesen Entwicklungen zu profitieren. Wenn etwas sinnvoll ist und dazu auch noch Vorteile bringt, dann muss man es eben tun. Das ist eine typisch deutsche Herangehensweise“, erklärt Thomas.

Er weist auch noch auf einen anderen Grund hin. „Andere mögen über uns lachen und uns für fantasielos erklären, aber wir Deutschen gehen tatsächlich lieber besonnen an die Dinge heran. Wir denken und planen gerne langfristig und sehen immer auch die langfristigen Risiken und Gefahren. Selbst wenn heute noch alles okay zu sein scheint, machen wir uns Gedanken darüber, was morgen sein könnte. Wir sind auf jede Eventualität vorbereitet und praktisch gegen alles versichert. Der Veganismus ist unsere Police.“

„Das bedeutet nicht, dass die Deutschen immer gleich das Schlimmste befürchten, sie versuchen jedoch, auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Sie scheuen Risiken – vor allem vermeidbare. Es ist schließlich nur logisch und klug, den Finger nicht in kochendes Wasser zu stecken. Ebenso logisch und klug ist es, keine Lebensmittel zu essen, die nicht gut für uns sind, sondern uns krank machen“, sagt Thomas.

„Sicherheit hat für uns oberste Priorität“, sagt Thomas. „Diese Herangehensweise ist für uns charakteristisch. Aber ich sehe das nicht als eine Belastung, sondern eher als einen Ausdruck von Lebensweisheit. Eine vegane Ernährung, eine nachhaltige Landwirtschaft, das ist keine Mode, sondern eine Wirtschaftsmethode, eine Lebensweise, eine Überlebensstrategie. Uns liegen sämtliche Zahlen vor, die Tatsachen sind unwiderlegbar, und die Konsequenzen sind eindeutig. Der Verzicht auf tierische Produkte ist keine fixe Idee, sondern reiner Selbsterhaltungstrieb.

Auch Matthias ist der Meinung, dass es keine Rückkehr zu einer fleischbasierten Landwirtschaft mehr gibt. Er versucht, mit kleinen Schritten und gutem Beispiel voranzugehen und die Menschen davon zu überzeugen, auf tierische Produkte zu verzichten – sogar seine Mutter, die bereits achtzig Jahre alt ist. Einmal kam sie sogar mit ihm zum Stammtisch, aß vegane Desserts und unterhielt sich. Und vor Kurzem lud sie ihren Sohn zum Kuchen ein.

„»Komm doch vorbei, ich habe dir deinen geliebten Apfelstrudel gebacken«, sagte sie am Telefon. Ich sah vor meinem inneren Auge gedünstete Äpfel mit Zimt in einem Teig aus Mehl, Milch und Butter. Ich seufzte nur kurz, aber da sagte sie schon: »Selbstverständlich in der veganen Variante«“, lacht Matthias.
 
„Ich werde in dem Bewusstsein sterben, dass ich meine Mutter vom Veganismus überzeugt habe. Aber natürlich werde ich erst im Jahr 2200 sterben, denn ich werde ein langes und glückliches Leben führen, schließlich bin ich Veganer“, sagt er mit einem Augenzwinkern und schneidet eine große Torte an, die ohne Milch, Butter und Eier zubereitet wurde.
Die vegane Torte ist mit einer Nachbildung des Brandenburger Tors verziert. Das Tor ist grün und hat statt der Quadriga einen Apfel auf der Attika.
 

Gesellschaft und Zeitgeschehen

Bild „Deutschland“ „MPD01605“ via flick.com. Lizenz: Creative Commons 2.0 Lesen Sie mehr über Politisches und Privates, über das Klima, Technologien und neue Phänomene – Kolumnen- und Reportagenreihen über die spannendsten Trends in der deutschen Gesellschaft.

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