Kleinstes slawisches Volk
„Meine polnische Frau sagt manchmal scherzhaft, dass sie einen Mogeldeutschen geheiratet hat“
Wer sind die Sorben, was tun sie in Deutschland und was unternehmen sie, um auch die nächsten 1500 Jahre zu überdauern? All das erfahre ich während meiner Reise durch die Lausitz.
Fabian Kaulfürst ist in der Lausitz das, was Vito Corleone in Manhattan ist. Nicht etwa, weil er Mafiaboss ist, sondern lediglich Doktor der Sprachwissenschaft, doch sein Name öffnet Türen und flößt Respekt ein. Ich fahre in die Lausitz, um mich mit Fabian Kaulfürst zu treffen und um mir anzusehen, wie er und andere Sorben in Deutschland leben.
Nur 50 Kilometer entfernt von der polnischen Grenze leben in einigen sächsischen und brandenburgischen Dörfern und Kleinstädten circa 30 000 Sorben. Sie sind Nachkommen slawischer Volksstämme, die sich bereits vor über 1500 Jahren hier ansiedelten. Es gibt Hypothesen, nach denen diese Volksstämme auch die Vorfahren der auf dem Balkan lebenden Serben waren. Heute haben Sorben und Serben jedoch außer ihrem Namen und ihrer slawischen Abstammung nur wenig gemein. Die Lausitzer Sorben hatten zwar nie einen eigenen Staat, doch sie haben eine eigene Sprache, gleich zwei Hymnen (eine für die Ober- und eine für die Niederlausitz), eine eigene Flagge und einen beeindruckenden Überlebenswillen.
Als ich am späten Abend das malerische kleine Dorf Jauer (obersorbisch Jawora) im Landkreis Bautzen erreiche, höre ich schon von Weitem ungewohnte Klänge. Auf dem Hof eines Hauses, gegenüber einem Teich und einer Trauerweide, stehen mehrere Männer im Kreis und stimmen sich ein. Wenige Augenblicke später beginnen sie eine Chorprobe mit sorbischen Volksliedern. Ich will nicht stören, also stelle mich in eine Ecke des Hofs und beobachte.
Die Sorben, die in Deutschland auch als Wenden und früher auch als Lausitzer Serben bezeichnet wurden, leben überwiegend in der Lausitz – einer etwa 100 Kilometer langen und 50 Kilometer breiten Tiefebene zwischen Elbe und Oder, die im Osten an Polen und im Süden an Tschechien grenzt. Historisch teilt sich diese Region in die Ober- und die Niederlausitz, wobei die Niederlausitz weiter oben auf der Landkarte gelegen ist: Sie reicht bis nach Berlin und ist überwiegend protestantisch. In der Oberlausitz, der Gegend um Bautzen (obersorbisch Budyšin), leben seit über tausend Jahren auch viele Katholiken. Die beiden Regionen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Sprache (es gibt das Ober- und das Niedersorbische), ihrer Tracht und – wie manche behaupten – auch hinsichtlich ihrer Mentalität. Was sie vereint, ist ihre bewegte Geschichte, in der es an Feinden nicht mangelte: Karl der Große führte einen großen Feldzug gegen die sorbischen Stämme, Reichskanzler Bismarck wollte die Sorben germanisieren und ihnen preußische Ordnung beibringen, Hitler wollte sie zur Zwangsarbeit in den Osten deportieren, und das DDR-Regime wollte ihre Häuser dem Erdboden gleichmachen. Doch die Sorben haben all das überstanden.
Ich sehe mir die Chormitglieder näher an. Es sind insgesamt zehn. Guido wirkt wie ein Globetrotter, der gerade von einer Bergtour zurückkehrt, Rico wie ein eleganter Makler, und Stefan sieht in seiner Lederjacke aus, als wäre er gerade von seiner Harley abgestiegen. Fabian dirigiert den Chor, indem er den Finger wie einen Taktstock bewegt. Außerdem gibt es unter den Chormitgliedern einen Forstingenieur, einen chirurgischen Assistenten, einen Baumaterialhändler, einen Studenten der Agrarwissenschaften aus Dresden, einen Dachdecker und einen Altenpfleger. Der jüngste ist 17, der älteste 57. Keiner von ihnen hat eine musikalische Ausbildung. Sie kommen aus den umliegenden Dörfern und treffen sich bereits seit 16 Jahren, um gemeinsam zu singen. „Wir Sorben sind sehr musikalisch. Wenn jemand nicht singt, dann ist er wahrscheinlich krank“, erklärt mit einer der Männer.
„Wir kennen über hundert Volkslieder aus der Ober- und Niederlausitz und singen alle aus dem Kopf“, sagt Fabian stolz.
„Wir wollten den alten Liedern neues Leben einhauchen und die Sorben dazu ermutigen, sie wieder zu lernen“, fügt Lucian hinzu.
„Wir wollen, dass unsere Sprache erhalten bleibt. Außerdem macht es Spaß, gemeinsam mit Freunden zu singen“, ruft Simon.
Als ich die Männer frage, welches Konzert ihnen am meisten im Gedächtnis geblieben ist, nennt jeder von ihnen ein anderes.
„Könnt ihr euch noch an Horno in der Niederlausitz erinnern? Der alte Dorfkern war abgerissen und die Bewohner in neue Gebäude umgesiedelt worden. Es waren sehr viele alte Menschen im Publikum. Als sie die sorbischen Lieder hörten, standen ihnen Tränen in den Augen“, erinnert sich Richard.
„In Hoyerswerda haben wir vor Bergleuten gesungen. Sie verstanden kein Wort Sorbisch, aber unser Auftritt muss ihnen wohl gefallen haben, denn sie gossen uns nach jedem Lied einen Schnaps ein und setzten uns etwas zum Essen vor. Das Konzert war schon vier Stunden vorbei, und wir sangen immer noch“, lacht Lucian.
Über Bier, Filip, einen Stier und eine nackte Brust
Während sie singen oder sich untereinander unterhalten, versuche ich, ihre Sprache zu verstehen. Es gelingt mir nicht wirklich. Sie reden über Bier, dass man ohne es keine Kraft hat, über Filip, einen Stier und eine nackte Brust, aber es fällt mir schwer, das alles zusammenzufügen. Das Oberserbische, das die Männer hier sprechen, erinnert eher an das Tschechische, auch wenn die Begrüßung fast wie in Polen klingt: Witaj. Angeblich ist das Niedersorbische, das im nördlichen Teil der Lausitz gesprochen wird, eher mit dem Polnischen verwandt.Fabian übesetzt: Die Männer sprechen über eine geplante Pilgerreise zur Wallfahrtskirche in Rosenthal (obersorbisch Róžant), die eine Woche nach unserem Gespräch stattfinden soll. Einige der Chormitglieder unternehmen diese Pilgerreise jedes Jahr im Herbst. Und natürlich zu Pfingsten, wenn bis zu 4 000 Menschen nach Rosenthal pilgern. Als ich sie frage, warum sie das tun, überschlagen sie sich gegenseitig mit Antworten.
Lucian: „Ich fahre mit dem Fahrrad von Bautzen nach Rosenthal und bin den ganzen Tag unterwegs. Ich strample mich ab, denke nach und genieße die Landschaft.“
Stefan: „Das ist eine Tradition, die wir schon seit Jahren pflegen.“
Rico: „Die Katholiken in der Oberlausitz haben neun Pfarrgemeinden, das sind etwa 30 Dörfer. Auf der Pilgerreise treffe ich alle meine sorbischen Kameraden wieder.“
Achim: „Ich pilgere ganz bewusst jedes Jahr. Nach dem Pilgern fühle ich mich leichter.“
Im Frühling nehmen die Chormitglieder gemeinsam am Osterreiten teil, einer Tradition, die auch in anderen Teilen Deutschlands gepflegt wird. Hunderte von Männern in Gehrock und Zylinder reiten auf Pferden in die jeweilige Nachbargemeinde und singen traditionelle Kirchenlieder, um die frohe Botschaft von der Auferstehung Jesu Christi zu verkünden. Dieser Brauch wird in manchen Dörfern – zum Beispiel in Wittichenau (obsorbisch Kulow) und Ralbitz (obersorbisch Ralbicy) – ununterbrochen bereits seit 1540 gepflegt, ohne Rücksicht auf Kriege, Seuchen oder Hungersnöte.
Als ich mich schließlich von der fröhlichen Runde verabschiede und in die nächtliche Dunkelheit trete, höre ich hinter mir noch lange den lauten Gesang der Männer.
Durchtrennte Wurzeln
Ich fahre über einen mit Schlaglöchern übersäten Weg, an Feldern, Wäldern, Seen und Dörfern vorbei, die von der Schnelllebigkeit der modernen Welt verschont geblieben sind. Ich parke mein Auto an einem Aussichtsturm in Boxberg/ Oberlausitz und klettere bis ganz nach oben. Der Anblick, der sich mir bietet, verschlägt mir die Sprache.Es ist eine Landschaft wie aus einer Apokalypse oder vor der Besiedlung eines fremden, feindlichen Planeten. Im Hintergrund rauchen die Schlote des Braunkohlekraftwerks, darum herum erstreckt sich eine kilometerweite Einöde ohne Spuren von Tieren oder Pflanzen. Was auch immer hier früher war, wurde herausgerissen oder dem Erdboden gleichgemacht. Von der einstigen Braunkohlengrube ist nur noch ein schwarzer, toter Krater geblieben.
Vom Ausmaß der Umsiedlungen zeugt die Einwohnerzahl der Stadt Hoyerswerda, die von 1950 bis 1980 um das Siebenfache anstieg.
Christians Vater ist Sorbe, seine Mutter stammt aus Leipzig. Bis zur vierten Klasse hatte er Sorbisch-Untericht in der Grundschule. Heute studiert er Bauingenieurwesen in Cottbus und hat keine Zeit mehr für die Sprache seiner Vorfahren. Er kann sich noch an einige Worte Sorbisch aus seiner Kindheit erinnern und an die dampfende Hochzeitssuppe mit Eierstich, die seine Großmutter manchmal für ihn zubereitete. „Ich habe sorbisches Blut in mir, aber ich fühle mich als Deutscher. Die echten Sorben leben überwiegend auf dem Land“, erklärt er mir.
Die Reste des Wendentums
Ich fahre weiter nach Lehde (niedersorbisch Lědy), ein kleines Inseldorf mit 150 Einwohnern, das mitten im Biosphärenreservat Spreewald, 100 Kilometer entfernt von Berlin liegt. Anstelle von Straßen und Wegen gibt es hier Kanäle, auf denen auch traditionelle Kahnfahrten angeboten werden. „Um zum nächsten Nachbarn zu gelangen, mussten die Menschen ein System aus Stegen und Brücken überwinden“, höre ich eine Stimme aus einem der Boote.Grün, schwarz und weiß
Im Panschwitz-Kuckau (obersorbisch Pančicy-Kukow) lebt Hanka Kubašowa, die näht, stickt und obersorbische Trachten verziert. Außerdem assistiert sie Frauen bei traditionellen Veranstaltungen wie Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen, Kommunionsfeiern und Prozessionen. Sie kleidet sie an, kämmt und schmückt sie, damit sie so aussehen wie einst ihre Mütter, Großmütter und Urgroßmütter. Hanka Kubašowa ist jedoch nur noch eine von wenigen, die diese Kunst beherrschen.Die jahrhundertelange Kunst des Ankleidens hat Hanka Kubašowa von zwei inzwischen verstorbenen Näherinnen gelernt. Sie hat auch bereits eine Nachfolgerin auserkoren, damit die Tradition nicht irgendwann ausstirbt. Die sorbischen Trachten waren eine der vielen Ausdrucksformen, mit denen die Sorben ihre kulturelle Identität unterstrichen und sich von der deutschen Bevölkerung abgrenzten.
Königreich Lausitz
Die Hauptstadt der Oberlausitz ist das 40 000 Einwohner zählende Bautzen (obersorbisch Budyšin). Hier befinden sich die wichtigsten politischen und kulturellen Institutionen der Obersorben, hier haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, die Sprache und Kultur ihrer Vorfahren kennenzulernen. Ungefähr zehn Prozent der Einwohner Bautzens bezeichnen sich als Sorben. Einer von ihnen ist Jan, der in Cottbus geboren wurde, am Sorbischen Institut in Bautzen arbeitet und sieben Sprachen spricht. An der Tür zu seiner Wohnung ist ein Schild mit seinem Namen in sorbischer und deutscher Sprache – Meškank/ Meschkank – sowie der scherzhaften Unterschrift „Königreich Lausitz“ angebracht.Im Sorbischen Institut arbeitet Jan an der Entwicklung einer Vorlesefunktion für die nieder- und obersorbische Schriftsprache. Die Software ist für Sehbehinderte und Menschen mit geringen Sorbischkenntnissen gedacht. Gemeinsam mit anderen Mitarbeitern besucht er sorbische Dörfer und zeichnet Gespräche mit Menschen auf, die im Alltag Sorbisch sprechen. Auf diese Weise soll eine Aussprachedatenbank des Ober- und Niedersorbischen entstehen.
„Selbstverständlich gibt es auch Radio- und Fernsehsendungen auf Sorbisch, aber wir wollen einen Aussprachestandard entwickeln, den es bisher noch nicht gibt. Jeder spricht so, wie er es zu Hause oder in der Schule gelernt hat“, erklärt mir Jan. In Zukunft könnte eine solche Software zum Beispiel für multimediale Sprachkurse, Navigationsgeräte und Computerspiele mit sorbischer Sprachausgabe genutzt werden.
Ich frage Jan, was das „Königreich Lausitz“ wirklich für ihn bedeutet. Wie haben es die Sorben geschafft, trotz jahrhundertelanger Unterdrückung ihre Sprache, Religion und Tradition zu bewahren? „Ginge es nur nach der Sprache, dann müsste man feststellen, dass es nur sehr wenige Sorben gibt. Lediglich die katholischen Einwohner der Oberlausitz sprechen im Alltag Sorbisch, also etwa 20 000 Menschen. Natürlich kann man den Menschen in der Niederlausitz nicht die Schuld dafür geben, dass sie heute nicht mehr so sprechen wie ihre Vorfahren. Es gab unterschiedliche Gründe dafür, dass die Niedersorben ihre Sprache nicht an ihre Kinder weitergaben. Aber solange sie sich als Sorben fühlen, sind sie es auch“, sagt Jan.
Um Religion geht es eigentlich auch nicht so sehr. Jan ist nicht katholisch. Und doch schätzt er seine Heimat über alles. „Hier ist mein Zuhause, mein Herz. Ich habe zwar die deutsche Staatsbürgerschaft, aber ich würde nie sagen, dass ich in erster Linie Deutscher bin. Meine Frau, die Polin ist, sagt manchmal scherzhaft, dass sie einen Mogeldeutschen geheiratet hat.“
Jan lernte Ada an der Universität Leipzig kennen, wo er Sorabistik (die Wissenschaft von der sorbischen Sprache und Literatur), Polonistik und Journalismus studierte. Als ihre Kinder zur Welt kamen, nahmen sich die beiden fest vor, sie sowohl mit der polnischen als auch mit der sorbischen Tradition vertraut zu machen. Deshalb zogen sie, nachdem sie einige Jahre in Breslau gelebt hatten, nach Bautzen. Ada besucht mit ihren Töchtern den sorbischen Gottesdienst und vor Kurzem hat sie sogar zwei traditionelle rote Kleider bei einer Schneiderin aus Schleife (obersorbisch Slepo) bestellt, einem Dorf, das für seine wunderschönen, nach jahrhundertealten Vorbildern gefertigten Trachten bekannt ist. „Krakauer Trachtenkleider haben die beiden schon“, betont Ada, die aus Kleinpolen stammt.
oto niemcy
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.