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Migration
Deutschland, ein Migrationsland

Compas
© pexels

Deutschland ist seit vielen Jahrhunderten ein Schmelztiegel der Kulturen. Bereits im 16. Jahrhundert waren Einwanderer ein Motor für Veränderungen. „Allmählich beginnen wir, die Menschen, die zu uns kommen, nicht mehr nur als Gäste auf Zeit wahrzunehmen, sondern sie als Teil unserer Gesellschaft zu akzeptieren.“

Von Ula Idzikowska

Uwe Majewski trägt einen polnischen Nachnamen und hat polnischsprachige Vorfahren. Doch damit endet auch schon seine Verbindung zu Polen. Sein Großvater, der als Erster in der Familie nach Deutschland gekommen war, sprach mit seinen Kindern kein Polnisch, obwohl er selbst noch auf Polnisch erzogen worden war. Er war gegen Ende des 19. Jahrhunderts, noch zu Zeiten Kaiser Wilhelms II., aus Masuren nach Berlin gekommen. Doch geboren war er im heute weißrussischen Grodno, das damals zum russischen Teilungsgebiet gehörte.

Uwe Majewskis Großvater hatte auf Berliner Baustellen gearbeitet, bis er seine spätere Frau kennenlernte: eine Deutsche aus dem westpommerschen Treptow an der Rega, dem heutigen Trzebiatów. Nach der Heirat kehrten sie gemeinsam in ihre Heimat zurück.

„Drei meiner Onkel haben im Krieg auf deutscher Seite gekämpft. Nach dem Krieg verschoben sich die Grenzen, und die Familie zog nach Deutschland“, erzählt Uwe Majewski.

Menschen müssen nicht zwangläufig auswandern, um Bürger eines anderen Landes zu werden. „Das Phänomen der »Borders over people«, bei dem Menschen infolge von Kriegen und Friedensverträgen plötzlich in einem anderen Staat leben, gibt es seit vielen Jahrhunderten“, sagt Axel Kreienbrink, Gruppenleiter des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge.

 



Treptow ist Uwe Majewskis einzige Erinnerung an Polen – seine Eltern kehrten oft dorthin zurück. Darüber hinaus hat der heute 62-Jährige keine Beziehung mehr zum Land seiner Vorfahren. Es ist das erste Mal, dass er jemandem seine Familiengeschichte erzählt – bisher hatte ihn niemand danach gefragt. Auch er selbst hat sich nie Gedanken über seine Herkunft gemacht. Er wurde in Deutschland geboren, alle sehen ihn als Deutschen. Schon immer. „In den 70er-Jahren gab es noch gewisse Probleme mit meinem Nachnamen: Kaum jemand wusste, wie man ihn richtig schreibt, also musste ich ihn ständig buchstabieren. In den 90er-Jahren fragte mich niemand mehr danach. Es wurde lediglich überprüft, ob am Ende ein »i« oder ein »y« stand.“

Ruhrpolen


Uwe Majewski ist kein Einzelfall. Die Autoren des „Lexikons der Familiennamen polnischer Herkunft im Ruhrgebiet“ stellten allein auf der Grundlage von Telefonbüchern der Jahre 1994 bis 1996 mehr als 30 000 polnische Familiennamen fest (ohne dabei deutsche Varianten polnischer Nachnamen und germanisierte Formen ursprünglich polnischer Nachnamen zu berücksichtigen). Diese Menschen sind die Nachfahren der etwa 500 000 Ruhrpolen, die von 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Arbeitskräfte aus den preußischen Ostgebieten in das Ruhrgebiet migrierten.

Bei den ersten Gruppen polnischer Arbeiter handelte es sich um gelernte Bergleute aus Oberschlesien, die dem Mangel an erfahrenen Arbeitskräften in den neu in Betrieb genommenen Zechen des Ruhrgebiets abhelfen sollten, schreibt der Historiker Lutz Budraß in seinem Buch „Industrialisierung und Nationalisierung: Fallstudien zur Geschichte des oberschlesischen Industriereviers im 19. und 20. Jahrhundert“. Später folgten Arbeiter aus den Provinzen Posen und Ostpreußen (vor allem aus Masuren und dem Ermland), Westpreußen samt der Kaschubei sowie der Provinz Schlesien.

Junge Männer aus den überbevölkerten ländlichen Regionen waren besonders migrationswillig. Jene, die sich zur Emigration entschlossen, wurden als Vorbilder, als „große Helden“ angesehen, die nachfolgenden Generationen den Weg in den Westen bahnten: „Hatte man die 20 Mark [für ein Eisenbahnticket] beisammen, fuhr man nach Westfalen. Die Jüngeren warteten, bis sie 16 Jahre alt waren, um nach Westfalen aufzubrechen und »das große Geld« zu machen“, schrieb der Ruhrpole Ludwik Hurski in seinen Lebenserinnerungen „Z pamiętnika Westfaloka“.

Dr. Kreienbrink © BAMF „Ohne die Zuwanderung von Arbeitskräften, insbesondere der sogenannten Ruhrpolen, wäre die industrielle Revolution in Deutschland nicht in dieser Form möglich gewesen“, sagt Kreienbrink.
Diese massenhafte Zuwanderung polnischer Arbeitskräfte war im Grunde eine Binnenmigration: Polen existierte zu jener Zeit nicht als eigenständiger Staat, und die Polen bzw. die polnischsprachigen Bewohner der preußischen Ostprovinzen hatten das Recht, sich innerhalb der Grenzen Preußens und später des Deutschen Reiches frei zu bewegen“, erklärt Kreienbrink weiter.

Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen kehrte etwa ein Viertel der Ruhrpolen in ihre Heimat zurück. Ein weiteres Viertel wanderte in französische, belgische und niederländische Industriereviere weiter. Jene, die in Deutschland blieben, führten zunächst ein Leben am Rande der Gesellschaft: Sie scharten sich um die katholischen Pfarrgemeinden und gründeten eigene Kirchen- und Turnvereine. Mit der Zeit integrierten sie sich jedoch vollständig in die deutsche Gesellschaft. Sie hatten auch keine andere Wahl: Bereits mit der Gründung des Deutschen Reiches in den Jahren 1870/1871 hatte sich ein klar definiertes Konzept des „deutschen Volkes“ herausgebildet. Angestrebt wurde eine einheitliche Kultur – Minderheiten wurden als Gefährdung für die öffentliche Ordnung angesehen und Repressionen ausgesetzt.

Migrationsrouten
 

Die Ruhrpolen waren nicht die ersten Arbeitsmigranten in Deutschland. Bereits nach dem 30-jährigen Krieg, infolge dessen die Bevölkerung um etwa ein Drittel zurückgegangen war, beschlossen die Herrscher der deutschen Staaten, Arbeitskräfte aus den stärker bevölkerten Regionen Europas anzuwerben, schreiben Vera Hanewinkel und Prof. Dr. Jochen Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Es wurden dringend Arbeitskräfte benötigt, um die vom Krieg zerstörten Gebiete wiederaufzubauen.

Die größte und zugleich wirtschaftlich, kulturell und politisch bedeutendste Gruppe waren die Hugenotten, die vor den Verfolgungen in ihrer französischen Heimat zur Zeit Ludwigs des XIV. nach Deutschland flohen. „Doch auch diese Gruppe war nicht groß genug, um entscheidend auf die deutsche Geschichte einzuwirken“, erklärt Kreienbrink. „Die Arbeitsmigranten im 19. Jahrhundert hatten einen wesentlich stärkeren Einfluss auf die Entwicklung des Landes.“

Heute haben über 27 Prozent  der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund: Sie selbst oder mindestens einer ihrer Elternteile wurden nicht mit der deutschen Staatsangehörigkeit geboren. Dies ist der höchste Anteil, seit diese Studie erstmals im Jahr 2005 durchgeführt wurde.

Für Axel Kreienbrink ist das nicht verwunderlich: Migrationen haben schon seit Jahrhunderten Spuren in der deutschen Bevölkerung hinterlassen.

„Deutschland befindet sich im Zentrum Europas, es lag schon immer im Schnittpunkt unterschiedlicher Migrationsrouten“, erklärt er. „Bereits während des Dreißigjährigen Krieges in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zogen viele Soldaten und Flüchtlinge aus dem Westen und dem Norden durch das Gebiet des heutigen Deutschlands.“

Auch Axel Kreienbrink würde in den Statistiken als „Person mit Migrationshintergrund“ auftauchen – trotz seines deutschen Namens und seines nicht vorhandenen Akzents. „Meine Mutter stammt aus Spanien. Sie kam in den 60er-Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland und blieb anschließend hier. Nach ihrer Heirat nahm sie die deutsche Staatsbürgerschaft an“, erklärt der Historiker.

Das deutsche Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts resultierte in einem akuten Mangel an Arbeitskräften in der damaligen BRD. Die Bundesregierung schloss Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und dem damaligen Jugoslawien ab. Die sogenannten Gastarbeiter sollten einfache Tätigkeiten im Industriesektor verrichten. In der DDR wurden ähnliche Abkommen mit Vietnam, Kuba, Nordkorea, Mosambik, Polen, Ungarn, Jemen und Angola abgeschlossen. Koreaner wurden überwiegend im Bergbau und Koreanerinnen als Krankenpflegerinnen eingesetzt. Vietnamesen, Angolaner und Mosambikaner kamen im Rahmen der „sozialistischen Bruderhilfe“ in die DDR: Sie sollten in Deutschland bessere Qualifikationen erhalten, doch in den meisten Fällen dienten sie lediglich als billige Arbeitskräfte.
Man ging davon aus, dass die Gastarbeiter bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden – so wie im Falle der Ruhrpolen im 19. Jahrhundert. Doch als die Abkommen 1973 ausliefen, zogen es viele Gastarbeiter vor, in Deutschland zu bleiben – zum Beispiel Axel Kreienbrinks Mutter. Manche ließen auch ihre Familien nachkommen. Heute stammen die meisten in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund aus der Türkei (2,6 Millionen), gefolgt von Polen (2,2 Millionen) und Russland (1,3 Millionen). „Im Falle Russlands wird es kompliziert, denn in den meisten Fällen handelt es sich nicht um Russen, sondern um sogenannte Russlanddeutsche“, betont Kreienbrink.  

Nach dem Siebenjährigen Krieg in der Mitte des 18. Jahrhunderts emigrierten über 100 000 Siedler aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa in das Gebiet des Russischen Reiches. Zarin Katharina II., die, nebenbei bemerkt, als Prinzessin von Anhalt-Zerbst in Stettin geboren worden war, ermutigte die deutschen Siedler, sich in den schwach besiedelten Gebieten entlang der Wolga niederzulassen. Sie versprach ihnen Religionsfreiheit, eine dreißigjährige Steuerfreiheit, großzügige Kredite, eine Freistellung von der Wehrpflicht für die Siedler und ihre Nachkommen sowie die Übernahme der Transport- und Reisekosten. Diese Privilegien endeten mit dem Tod der Zarin. 1871 erließ Zar Alexander II. ein Gesetz, das die Sonderrechte der deutschen Kolonien aufhob und sie der allgemeinen russischen Verwaltung unterstellte. Viele der Kolonisten wanderten daraufhin in die USA, nach Kanada oder Südamerika aus. Jene, die blieben, wurden nach der Revolution und während der Stalin-Diktatur Opfer von Verhaftungen und Konfiszierungen. „Die traumatischen Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges führten schließlich dazu, dass viele Deutsche aufhörten, die Sowjetunion als ihre Heimat anzusehen“, schreibt die Historikerin Katharina Neufeld.

„Die ersten Russlanddeutschen kamen in den 50er-Jahren zurück nach Deutschland. Nach 1989 stieg die Zahl der Rückkehrer deutlich an“, erklärt Kreienbrink. „In Russland lebende Personen deutscher Abstammung durften mitsamt ihren Familienangehörigen nach Deutschland übersiedeln.“

Ein Perspektivwechsel


Trotz dieser bewegten Einwanderungsgeschichte hielten sich die Deutschen selbst bis in die späten 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein nicht für ein multikulturelles Land.

 

„Es herrschte die Überzeugung vor, Deutschland sei ein homogener Nationalstaat“, sagt Kreienbrink. „Bis 2000 wurde die deutsche Staatsbürgerschaft nach dem sogenannten Abstammungsprinzip ausschließlich an Personen vergeben, die mindestens einen deutschen Elternteil hatten. Einwanderer wurden als Gäste wahrgenommen, die nach einer gewissen Zeit in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Erst gegen Ende der 90er-Jahre wuchs die Überzeugung, dass wir keine ethnisch homogene Gruppe mehr bilden. Die damalige rot-grüne Bundesregierung leitete in jener Zeit einige grundlegende Reformen ein. Änderungen im Rechtssystem sind ein deutlicher Indikator für eine veränderte Wahrnehmung von Personen mit Migrationshintergrund: Der Staat akzeptiert allmählich, dass sie ein Teil unserer Gesellschaft sind.“

Nach Ansicht Kreienbrinks ist dies ein großer Schritt in die richtige Richtung. Der Perspektivwechsel erfolgte ungewöhnlich schnell, wenn man die Last der Vergangenheit bedenkt: Einwanderer waren seit der Entstehung des modernen deutschen Nationalstaats stets mit dem Etikett des „Anderen“ und „Fremden“ belegt worden.
Eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung der „neuen Deutschen“ spielen die Mainstream-Medien. Bereits 2011 beklagte Stefanie Schumann, die Autorin einer Studie über hybride Identitäten, dass die Medien noch immer von „Einwanderern“ sprechen: Schließlich müsse es doch langsam in das Bewusstsein der Menschen dringen, dass es keinen Unterschied mehr zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ gibt.

Sieben Jahre später debütierte Florence Kasumba als erste dunkelhäutige Tatort-Kommissarin. Noch bis ins 21. Jahrhundert hinein wurde die Geschichte der Afrodeutschen geflissentlich verschwiegen, trotz der deutschen Kolonialvergangenheit – gegen Ende des 19. Jahrhunderts erwarb das Deutsche Reich Kolonien in Tansania, Ruanda, Burundi, Namibia, Togo und Kamerun.

2019 erklärte Kasumba, Deutschland sei jetzt bereit für eine dunkelhäutige Tatort-Kommissarin. Offensichtlich sind die Deutschen inzwischen auch bereit, sich ihrer kolonialen Vergangenheit zu stellen. 2020 wurde die Mohrenstraße in Berlin-Mitte in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umbenannt. Der Namensgeber Anton Wilhelm Amo war ein Philosoph, der 1753 im heutigen Ghana geboren wurde und an den Universitäten Halle und Jena lehrte, bis er das Land aufgrund rassistischer Anfeindungen verlassen musste.

Die Journalistin und Autorin des Buchs „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ Alice Hasters, die in Köln als Tochter einer Afroamerikanerin und eines Deutschen zur Welt kam, wird ständig nach ihrer Herkunft gefragt. Die Antwort, sie sei Deutsche, befriedigt die Fragesteller in der Regel nicht wirklich. „Zu wissen, wo man herkommt, ist ein Privileg. Es nicht andauernd erklären zu müssen, auch“, schreibt Hasters. „Zugehörigkeit ist nicht gleich Herkunft. Zugehörigkeit ist ein Bedürfnis. Herkunft ist ein Schicksal.“
Eben dieses Gefühl der Zugehörigkeit entscheidet darüber, ob sich jemand als Deutscher oder Deutsche fühlt, sagt Uwe Majewski. „Dafür sind Staaten schließlich da: um den Menschen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu geben.“

 

OTO NIEMCY (DAS IST DEUTSCHLAND)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht. 

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