Ein Ziegenbock und zwei Affen oder Die Geschichte des polnischen Comics
Wir sprechen mit dem Soziologen und Comic-Historiker Adam Rusek, dem Autor der Bücher „Tarzan, Matołek i inni: cykliczne historyjki obrazkowe w Polsce w latach 1919-1939“, „Leksykon polskich bohaterów i serii komiksowych“ und „Od rozrywki do ideowego zaangażowania. Komiksowa rzeczywistość w Polsce w latach 1939-1955“.
Wie hat sich der polnische Comic im Laufe der Jahre verändert?
Sehr stark. Wenn wir Comics als unterschiedliche Kombinationen von Bildern und Texten definieren, dann reichen die Anfänge des polnischen Comics bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Damals wurden solche Geschichten jedoch nicht als Comics bezeichnet, sondern einfach als „Bildergeschichten“. Es gab auch noch keine Sprechblasen, sondern die Texte standen unterhalb der Bilder. Diese Tradition stammte aus Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ähnlich, erst Mitte der 50er-Jahre begannen Comics so auszusehen, wie wir sie heute kennen. Vor dem Krieg wurden überwiegend humoristische Comics veröffentlicht. Selbstverständlich griffen sie manchmal auch ernste Themen auf, aber immer auf eine scherzhafte Weise. Es gab keine polnischen Abenteuer-Comics, solche Inhalte gab es nur in Nachdrucken ausländischer Produktionen. Anders als zum Beispiel in Jugoslawien oder Tschechien, wo auch einheimische Produktionen dieser Art entstanden. Nach dem Krieg, in der Stalin-Zeit, gab es ausschließlich politische Comics, später ließ der Druck der Zensur allmählich nach. Vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen Comics fast ausschließlich in Zeitungen, Comicalben waren eine absolute Ausnahme. Dieses Verhältnis kehrte sich in den 70er-Jahren schließlich um.
In den USA und Frankreich waren Comics seit jeher äußerst populär. Wie war das in Polen?
Vor dem Zweiten Weltkrieg waren Comics nicht besonders verbreitet. Unmittelbar nach dem Krieg wurden es etwas mehr, aber bereits 1948 veränderte sich die Situation wieder, als man begann, Comics – als ein Produkt des dekadenten Kapitalismus – aus dem Verkehr zu ziehen. Die Helden der wenigen übrig gebliebenen Comicreihen mutierten zu Kämpfern des Sozialismus oder zu Helden der Arbeit. Erst mit dem Machtantritt Władysław Gomułkas [im Jahr 1956 – Anmerkung der Redaktion] trat eine gewisse Entspannung ein, und Comics, insbesondere Unterhaltungscomics, kehrten wieder auf die Bildfläche zurück. Viele Zeitungen druckten täglich Comicstrips ab. In jener Zeit debütierten auch die Väter des polnischen Comics: Janusz Christa und Henryk Jerzy Chmielewski. Ab Mitte der 60er-Jahre erschienen Comics zunehmend in Albumform. Dies geschah interessanterweise auf Geheiß der Politik, oder besser gesagt infolge einer Allianz zwischen Politik und Wirtschaft. Tytus, Romek i A’Tomek waren ursprünglich gar keine Pfadfinder, sondern wurden erst für ihr erstes Album Tytus harcerzem dazu gemacht. Selbst Tytus, der Schimpanse, wurde in eine Uniform gesteckt! Auch die heute legendäre Reihe Kapitan Żbik wurde aus Gründen der Propaganda ins Leben gerufen: Die Comics sollten das Image der Miliz verbessern. Gleichzeitig erhofften sich die Verleger höhere Einnahmen.
Wie sieht die Geschichte des polnischen Comics im Vergleich zu anderen Ländern aus?
Im Polen der Zwischenkriegszeit war die Comic-Kultur nicht besonders ausgeprägt, polnische Comiczeitungen ließen sich an einer Hand abzählen. In Frankreich gab es solche Zeitungen zuhauf. Selbst die Vichy-Regierung veröffentlichte Comics! Die Entwicklung des Comics war jedoch in ganz Europa ungefähr gleich. In Westeuropa gab es, ähnlich wie in Polen, zunächst Bildergeschichten mit Unterschriften. Sprechblasen, also die charakteristischen Textfelder mit Hinweisstrichen zur erzeugenden Figur, etablierten sich erst unter dem Einfluss der Disney-Produktionen und der amerikanischen Tradition. Die französischen Zeichner übernahmen sie bereits in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Auch in Tschechien wurden bereits vor dem Krieg Sprechblasen verwendet, jedoch ausschließlich von Zeichnern, die in den USA gearbeitet hatten. Auch in Polen gab es solche Comics, sie stammten jedoch nicht von einheimischen Künstlern, sondern waren Nachdrucke ausländischer Produktionen.
Für wen waren diese Comics gedacht? Inwieweit hat sich das Comic-Publikum im Laufe der Jahre verändert?
Die polnischen Zeitungscomics der Zwischenkriegszeit richteten sich eher an Erwachsene, vor allem aufgrund ihrer teilweise pikanten Inhalte. Viele Leserbriefe deuten jedoch darauf hin, dass sie überwiegend von Kindern gelesen wurden. Daneben erschienen Bücher und Zeitungen, die speziell für Kinder gedacht waren, die bekanntesten sind selbstverständlich Przygody Koziołka Matołka und Awantury i wybryki małej małpki Fiki-Miki von Marian Walentynowicz und Kornel Makuszyński. Man kann getrost annehmen, dass sich die Comicstrips in den Zeitungen an die ungebildeteren Einwohner der großen Städte richteten. Ähnlich war es auch in der Volksrepublik Polen, obgleich in der späteren Phase Comicalben für Kinder überwogen. Heute kann man – wenn man sich das Publikum auf Comicfestivals ansieht – davon ausgehen, dass vor allem Jugendliche zwischen dem Gymnasial- und Studienalter Comics lesen. Das Angebot orientiert sich heutzutage jedoch an den Bedürfnissen der Kunden, sodass es Comics für alle Altersstufen gibt.
Hat sich auch die Wahrnehmung von Comics verändert?
Adam Rusek und Professor Filutek; Illustration: Karol Kalinowski
Vor dem Krieg war die Bezeichnung „Comic“ in Polen praktisch unbekannt. In den 50er-Jahren galten Comics als amerikanische Propaganda – angeblich hatten sie einen katastrophalen Einfluss auf die amerikanische Jugend und riefen die US-Soldaten zum Töten auf. Man kann von einem gewissen Paradoxon sprechen. In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Comics äußerst negativ wahrgenommen. Gleichzeitig gab die Kommunistische Partei Frankreichs eine Jugendzeitschrift mit Comics, unter anderem der berühmten Reihe Vaillant, le jeune patriote, heraus, die auch einen großen Einfluss auf die polnischen Zeichner ausübte. Lustigerweise stießen die polnischen Nachahmungen dieser Comics in der Zeitschrift „Nowy Świat Przygód“ auf die heftige Kritik der hiesigen Würdenträger, die die mangelnde Qualität der einheimischen Produktionen im Vergleich mit den französischen, ideologisch engagierten Comics bemängelten. Dabei handelte es sich im Grunde um Kopien! In den 60er-Jahren hätte es niemand in Polen für möglich gehalten, dass Comics einmal ein Medium für erwachsene, „ernsthafte“ Leser sein würden. Diese Überzeugung wirkt bis heute nach. Als ich vor einigen Jahren eine Comic-Ausstellung vorbereitete und Zbigniew Lengren, den Zeichner der im Wochenmagazin „Przekrój“ erscheinenden Professor-Filutek-Geschichten, darum bat, mir einige seiner Zeichnungen zur Verfügung zu stellen, antwortete er ein wenig indigniert, er mache keine Comics, sondern zeichne Bildergeschichten.
Was können Comics über Polen und die Polen aussagen? Sind sie ein gutes Material für Soziologen?
Ein gutes ergänzendes Material. Viele historische Entwicklungen spiegeln sich sehr deutlich im Comic wider. In der Zwischenkriegszeit erschienen Comics in Zeitungen und Zeitschriften, deren Besitzer bestimmte politische Standpunkte vertraten. Es gab Comics gegen Hitler, gegen die Sowjetunion, gegen und für das Sanacja-Regime und sogar antisemitisch gefärbte Comics. Auch die Comicfiguren selbst waren Träger bestimmter Eigenschaften. Die Comics zeichneten in der Regel ein vereinfachtes Bild der Gesellschaft, ihre Inhalte waren überwiegend populistisch und stereotyp. Der Bourgeois hatte immer einen dicken Bauch, der Arme verpfändete seine Medaillen, und die Jüdin verkaufte vergammelte Orangen. In der Volksrepublik Polen gab es sehr viele Comics mit propagandistischem Charakter. Das beste Beispiel ist die legendäre Reihe Kapitan Żbik über einen unbeugsamen Offizier der Bürgermiliz.
Warum gibt es in Polen außer Ihnen keine Comicforscher? Das scheint doch ein sehr interessantes und weitgehend unerforschtes Thema zu sein.
Wenn man sich mit der Geschichte des polnischen Comics auseinandersetzen will, benötigt man viel Zeit und Zugang zu den Archiven. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es so gut wie keine Comicalben, die meisten Comics erschienen in Tageszeitungen. Im Augenblick beschäftige ich mich mit der Zeit zwischen 1956 und 1967 und beabsichtige, 1100 Zeitungsjahrgänge durchzusehen. Das ist fast schon eine Sisyphusaufgabe. Das Interesse an diesem Thema ist wahrscheinlich auch nicht besonders groß, die meisten Magisterarbeiten in diesem Bereich beschäftigen sich mit Mangas und Comichelden aus den USA.