Die Nationalitäten Kafkas
Wem gehört Franz Kafka?
Die Frage, wem Franz Kafka eigentlich gehört, hat in den vergangenen 100 Jahren viele Köpfe beschäftigt, vielleicht auch mehr, als eigentlich nötig gewesen wären.
Von Tomáš Moravec
Vor ein paar Jahren tauchte plötzlich in einer verwinkelten Gasse in der Prager Altstadt Franz Kafka auf. Er war schätzungsweise drei Meter groß, bestand aus einem Pappdeckel und blickte mit einem leicht mürrischen Gesicht auf die Passanten herab. Dabei hielt er ein bemaltes Schild in der Hand, auf dem auf Deutsch, Englisch und Russisch stand, dass man im Geschäft nebenan die besten und traditionellsten Souvenirs der tschechischen Hauptstadt kaufen könne. Sie haben es richtig erraten: Es handelte sich um einen Werbebanner.
Der Pappdeckel-Kafka lebte mehrere Jahre lang in der verwinkelten Gasse, bis ein engagierter Bürger (die Einheimischen würden sagen: ein Nörgler) die Behörden darauf aufmerksam machte, dass eine solche Werbeabscheulichkeit keinen Platz in einem von der Unesco geschützten Stadtzentrum habe und dort schlicht und einfach nicht hingehöre. Er fragte, wer um Gottes Willen Kafka die Erlaubnis dafür gab, sich an die Fassade dieses Barockhauses zu stützen und Geschäfte zu betreiben.
Die Prager Behörden, die sich, wie man sagen muss, seit Kafkas Zeiten nicht allzusehr verändert haben, fingen also an zu ermitteln. Sie entdeckten, dass die Genehmigung für das Anbringen des kafkaesken Werbebanners nie erteilt worden war und dass der drei Meter hohe Kafka daher seit Jahren völlig unerwünscht und vor allem unerlaubt herumstand. Also schickten die Behörden an den Besitzer des benachbarten Ladens, mit den – laut Kafka – besten und typischsten Souvenirs Prags, eine Vorladung, in der sie ihn aufforderten, sich seinen Kafka-Werbebanner an den Hut oder sonst wohin zu stecken. Je schneller desto besser, denn das „Ding“ sollte am besten sofort verschwinden.
Der lange Prozess gegen Franz
Als danach lange Zeit nichts passierte, klopften eines Tages zwei Wachtmeister an die Tür des Souvenirladens in der verwinkelten Gasse und fragten freundlich, aber bestimmt, warum denn das „Pappdeckelmonster“ noch immer auf der Straße herumspukte. „Das ist eine schwierige Frage“, der Ladenbesitzer kratzte sich am Kopf, „ich kann das Banner nicht entfernen, denn es gehört mir nicht.“ Das wiederum verwunderte die Polizisten. Denn, so argumentierten sie, wenn eine Werbung vor einem Laden stehe und Werbung für ebendiesen mache, könne man daraus doch schließen, dass sie auch zu dem Laden gehöre. Der Besitzer des Souvenirladens sagte, dass man zwar zu einer solchen Schlussfolgerung kommen könne, sie aber nicht juristisch beweisen könne, und was ihn betreffe, könnten die zwei Wachmeister den Pappdeckel-Franz gerne sofort verhaften; er persönlich habe damit nichts zu tun und wolle es auch nicht haben.Aber selbst die Polizei in der hunderttürmigen Stadt konnte Franz Kafka nicht einfach so festnehmen: Es galt erst herauszufinden, wem er eigentlich gehörte. Da die zuständigen Wachmeister den Besitzer aber nicht ausfindig machen konnten, gaben sie auf und wendeten sich wieder an die zuständige Behörde, die wieder mit den Ermittlungen begann. Diese gestalteten sich langwierig und brachten am Ende kein wirkliches Ergebnis. Der Souvenirhändler leugnete, dass der Werbebanner sein Eigentum sei oder je gewesen wäre. Daran konnte auch die Tatsache, dass er gelegentlich gesehen worden war, wie er den Straßenstaub und den Taubenkot von Kafkas Schultern wischte, nichts ändern. Er erklärte dieses Verhalten mit purem Altruismus.
Schließlich riss der netten Behörde, die übrigens am nahe gelegenen Franz-Kafka-Platz ansässig ist, der Geduldsfaden und sie entfernten das Werbebanner eines Tages. Tatsächlich war es jedoch nicht möglich, den drei Meter hohen Pappdeckel-Kafka einfach zu entsorgen. Denn nur weil der Besitzer nicht ausfindig gemacht werden konnte, heißt das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt. Und so wurde Kafka in irgendeinem dunklen Prager Lagerhaus deponiert und dort seinem Schicksal überlassen, wahrscheinlich nicht unähnlich dem Prager Golem, einem künstlichen Menschen, der jahrhundertelang auf dem Dachboden der Altneu-Synagoge geruht haben soll. Wenn man den Werbe-Kafka in hundert Jahren wiederfindet, werden sich vielleicht ähnliche Legenden um ihn ranken wie um den Golem. Zurzeit wird allerdings eine andere Geschichte in Prag erzählt: eine lustige Anekdote darüber, wie es ein frecher Besitzer eines Souvenirladens schaffte, jahrelang kostenlos für seine Ware Werbung zu machen, ohne dafür bestraft zu werden.
Warum erzählen wir Ihnen nun all das? Im Gegensatz zum Pappdeckel-Kafka, zu dem sich keiner zu Wort melden wollte, behauptet fast jeder, gewisse Rechte an dem echten Franz Kafka zu haben. Und mit „jeder“ meinen wir nicht nur seine Lesera: Als deutscher Autor jüdischer Herkunft und obendrein auch noch aus der tschechischen Hauptstadt Prag stammend, machen sich viele Interessensgruppen Kafka zu eigen.
Der berühmte Österreicher
Die Frage, wem Franz Kafka eigentlich gehört, hat viele Köpfe beschäftigt, vielleicht auch mehr, als eigentlich nötig gewesen wären. So sorgte zum Beispiel vor einiger Zeit eine Ausstellung in den Prager Kulturkreisen für großes Aufsehen. Auf großformatigen Tafeln wurden Dutzende berühmte Österreicher, darunter auch Franz Kafka, präsentiert. Auf neugierige (in Prag würde man sagen: nörgelnde) Fragen hin erklärten die Organisatoren, dass sie mit „Österreicher“ eine österreichische Persönlichkeit böhmischer Herkunft meinten, während „österreichisch“ im Sinne von „österreichisch-ungarisch“ zu verstehen sei. Denn – so wurde hinzugefügt – als Franz Kafka am 3. Juli 1883 in Prag geboren wurde, gehörte die Stadt sowie auch ganz Böhmen zu Österreich-Ungarn. So und nicht anders stehe es schließlich in den Geschichtsbüchern. Die Tatsache, dass zum Zeitpunkt von Kafkas Tod das alte Österreich schon niemanden mehr beeindruckte, und Kafka die letzten sechs Jahre seines Lebens tschechoslowakischer Staatsbürger war, sei irrelevant. Schließlich, so fügten die Organisatoren hinzu, sei Kafka in Kierling, Niederösterreich, gestorben, so dass die Bezeichnung „Österreicher“ einfach nicht wegzudenken sei, ganz gleich, wer dies zu behaupten versuche.Der deutschschreibende Autor
Auch im Prager Goethe-Institut hat man kürzlich die Augenbrauen hochgezogen. Das hat sich wie folgt zugetragen: Ein netter tschechischer Lehrer besuchte das Haus am Moldauufer, um sich zu informieren, woran man hier aktuell arbeite und was man ihm anbieten könne. So erfuhr der Lehrer nicht nur vieles über die Sprachkurse, Filmvorführungen und weiteren Veranstaltungen sowie über die Stipendien und Autorenlesungen, sondern auch, dass man hier anlässlich des 100. Todestages Kafkas ein großes Programm vorbreitet. „Was haben Sie denn mit Kafka zu tun?“, fragte der Lehrer mit leichter Irritation in der Stimme: „Er war doch kein Deutscher?!“Nun, im heutigen Sinne des Wortes war Franz Kafka zwar vielleicht kein Deutscher, doch die Frage hat uns trotzdem etwas überrascht. Wir vom Goethe-Institut beanspruchen Kafka nicht für uns und wären auch nie auf die Idee gekommen, dass er in irgendeiner Weise uns gehört. Wir sehen es aber auch als selbstverständlich an, dass der berühmteste deutschsprachige Schriftsteller Prags für das Goethe-Institut nicht nur ein Arbeitsthema, sondern auch eine Herzensangelegenheit ist. Schließlich ist die deutsche Sprache für das Goethe-Institut genauso zentral wie sie es einmal für Franz Kafka war.
Der böhmische Zionist
Und logischerweise bekennen sich auch die Tschechen zu Franz Kafka. Sie würden üblicherweise vielleicht nicht behaupten, dass Kafka Tscheche war, viel mehr würden sie sagen, dass er Böhme war. Und wenn auch das Klischee, dass Kafkas Werke auf der Zerrissenheit des Autors zwischen dem Deutsch-, Jüdisch-, und Tschechischsein beruht, weit verbreitet ist, sind die Tschechen in der Regel stolz auf ihren Prager Landsmann und betrachten ihn als einen der ihren. Oft vergessen sie dabei auch nicht, darauf hinzuweisen, dass all die Absurditäten und Peripetien mit den Behörden allerlei Art, die zum Beispiel in Der Process geschildert werden, den typischen Glanz beschreiben, der auf dem tschechischen Beamtentum liegt und der auch heute noch häufig in Prag anzutreffen ist (wie eben auch im Anfang dieses Textes). Auch Kafkas Nachname ist tschechisch: Kafka, so die gängige Deutung, ist die phonetische Schreibweise des tschechischen Vogelnamens „kavka“, was auf Deutsch „Dohle“ bedeutet.Natürlich gibt es eine direkte Verbindung zwischen Kafka und der jüdischen Gemeinde, und zwar nicht nur der Prager Gemeinde. Obwohl Franz Kafka nicht zu den eifrigsten Synagogenbesuchern zählte, bekannte er sich zum Judentum und spielte einige Jahre lang sogar aktiv mit zionistischen Ideen und dem Wunsch, nach Palästina auszureisen, wenn auch wahrscheinlich eher aus gesundheitlichen als aus religiösen Gründen. Jedoch lässt sich nicht bestreiten, dass die Prager jüdische Gemeinde und Franz Kafka zusammengehören. Aber wollte Kafka auch zu ihr gehören? Es wäre wahrscheinlich vermessen, sich in diesem Punkt eindeutig festzulegen; tatsächlich scheint es, dass Franz Kafka selbst keine Antwort auf diese Frage hatte und dass er sie sein ganzes Leben lang suchte. So schrieb er am 8. Januar 1914 in seinem Tagebuch: „Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, dass ich atmen kann, in einen Winkel stellen.“
Wem gehört also Franz Kafka? Darüber, dass er nicht wollte, dass sein Werk überhaupt jemand anderem als ihm gehört, muss nicht lange spekuliert werden. Kafkas Wunsch, den er am 29. November 1922 im Fieber an seinen Freund Max Brod schrieb, war mehr als eindeutig geäußert: Von all seinen Schriften sollten nur Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung, In der Strafkolonie, Ein Landarzt und die Erzählung Ein Hungerkünstler erhalten bleiben. Alle anderen Werke sollten nach seinem Tod ausnahmslos verbrannt werden.
Max Brod hat sich, wie wir wissen, nicht an Kafkas Willen gehalten. Genauso wenig wie sich bis heute die Deutschen, Tschechen, Österreicher und Juden sowie der Besitzer eines Souvenirladens in einer verwinkelten Prager Gasse oder der Rest der Welt daran halten. Sie alle drucken, verkaufen und (glücklicherweise auch) lesen nicht nur Werke von, sondern auch Werke über Kafka. Auch noch hundert Jahre nach seinem Tod gleicht das Geschehen um den berühmten Prager Schriftsteller einem Wettlauf, bei dem Literaturwissenschaftler*innen selbst die kleinsten Details aus Kafkas Leben unter die Lupe nehmen. Heißt das aber, dass Kafka allen gehört? Bis zu einem gewissen Grad vielleicht – so ist das Schicksal der Prominenten, auch der die sich nie gewünscht haben, berühmt zu werden. Doch wenn Kafka überhaupt jemandem gehört, dann in erster Linie sich selbst. Auch wenn er wahrscheinlich selbst daran zweifeln würde.
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