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Erster Teil des Briefwechsels
Einen Beweis für die Freiheit erbringen

Die Pianistin Joana Gama liest die Partitur von Das Buch der Klänge
Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal

Kurz vor Beginn des Festivals Hans Otte : Sound of Sounds bat die Pianistin Joana Gama, eine der Kuratorinnen des Festivals, die Schriftstellerin Susana Moreira Marques, den Arbeitsprozess zu begleiten und über das Programm zu schreiben. Es war der Beginn eines Dialogs, der sich nicht nur um das Festival und den Komponisten Hans Otte dreht, sondern auch um kreative Prozesse und darum, wie sich die Arbeit in Abhängigkeit von der Zeit, in der sie realisiert wird, verändert.

Von Susana Moreira Marques und Joana Gama

Lissabon, 28. Dezember 2021

Liebe Joana,

schon wieder sitzen wir eingeschlossen zu Hause. Zumindest fast eingeschlossen. Immerhin ist es draußen grau und trist, sogar in Lissabon, wo uns die Sonne nur selten im Stich lässt.

Dieser Zustand, zu Hause zu bleiben, die Isolation, dann wieder hinausgehen zu können, ein bisschen euphorisch sogar – und in deinem Fall wieder Publikum haben zu können –, um sich dann wieder isolieren zu müssen, bestimmt unser Leben nun fast schon seit zwei Jahren. Ungefähr ebenso lang läuft nun auch schon dein Festivalprojekt zu Hans Otte, auch wenn es noch einiges länger zurückliegt, dass dir ein Freund per E-Mail den ersten Satz des Hauptwerks des deutschen Komponisten Das Buch der Klänge geschickt hat.

Ich glaube nicht an Zufälle und du sicher auch nicht. Es war für dich sicher genau die richtige Musik in diesen seltsamen Zeiten, den schwierigen, traurigen Zeiten, aber auch der Zurückgezogenheit und des Hinterfragens selbst der gewöhnlichsten Dinge; eine Zeit der Veränderungen, wenn auch weit unterschwelliger und innerlicher, als man sich das zu Anfang der Pandemie vorgestellt hat.

Während ich das hier schreibe, lärmen meine Töchter im Nebenzimmer und streiten sich. Ich stelle mir vor, dass für eine Person ohne Kinder in Zeiten der Abgeschiedenheit wie gerade jetzt wieder, oder der Isolation, wie wir sie schon hatten, die Stille ein ständiger Begleiter war, so wie für mich der Lärm.

Ich weiß nicht, ob diese Stille – die sich über die Wohnung hinaus verbreitet, dich von überall aus der Welt erreicht, eine verschreckte, erschrockene Stille – deine Art, das Buch der Klänge zu hören, verändert hat und inwiefern diese fast schmerzhafte Nähe, zu der uns diese Pandemie gezwungen hat, deine Beziehung dazu beeinflusst hat. Ich kann mir vorstellen, dass es Momente gab, in denen du aufgeben wolltest – dich nicht mehr mit Absagen herumschlagen wolltest oder gar manches für wichtiger hieltst, als Konzerte zu geben – und wieder andere, in denen du das Gefühl hattest, dass es gerade jetzt wichtiger denn je sei, dieses Stück, dass du dir selbst auferlegt hattest, zu spielen – es zu Ende zu spielen.

Es ist mir nicht verborgen geblieben, dass sich das Stück „Buch“ nennt. Es hat etwas Enzyklopädisches. Eine sehr schöne Enzyklopädie ist das Buch der Klänge, sehr konzentriert auf bestimmte Themen. Keine Erzählung, mehr eine Sammlung, eine Präsentation von Wissen, das dem Buch zugrunde liegt. Wissen, das ebenso nützlich wie innerlich ist. Und wiederum kann ich nur ahnen, was es bedeuten muss, dieses Wissen zu erforschen, während um uns herum alles nach Neubewertung unserer selbst verlangt.

In seinem Buch Sound of Sounds, stellt Ingo Ahmels - früherer Assistent von Hans Otte und dein Ko-Kurator des Festivals – eine bemerkenswerte Verbindung zur Geschichte und insbesondere jener Zeit her, in der Hans Otte aufwachsen musste. Ahmels sagt, die Musik sei für ihn ein Weg gewesen, sich aus dem totalitären Umfeld – und der Grausamkeit – in der er aufwuchs, zu lösen. Anders gesagt: ein Weg, frei zu sein. Aber ist das nicht jede Musik, jedes kreative Schaffen: ein Weg, frei zu sein? Die Freiheit der Interpretin liegt, nehme ich an, also darin, die Freiheit des Komponisten unter Beweis zu stellen, mithin den Beweis zu erbringen für die Freiheit an sich.

Gut gefallen hat mir, als ich dich damals – in der Woche, als du mit Margaret im Culturgest das herrliche Ocidente:Oriente gespielt hast mit Stücken von Otte und Cage, organisiert von Ingo Ahmels – im Gespräch mit Ingo  und Margaret Leng Tan sagen hörte, du hättest, bevor du das Buch der Klänge zum ersten Mal aufgeführt hast, auf dem Weg zur Bühne zu dir selbst gesagt, wie eine Art Mantra gegen die Nervosität: „Es geht nicht um mich, es geht um Hans Otte“. Bezeichnenderweise hatte auch er, soweit ich es verstanden habe, erkannt, dass es nicht um ihn ging. Tatsächlich geht es zum Glück immer um etwas, das ein Stückchen größer ist als wir selbst.

Ich habe in letzter Zeit oft darüber nachdenken müssen, dass es wohl etwas geben muss, von dem wir glauben, dass es größer ist als wir selbst und sich sogar über den Lauf der Geschichte erhebt.

Viele reagieren auf die Pandemie, indem sie darüber schreiben, sprechen, sich künstlerisch mit ihr auseinandersetzen oder mit vergleichbaren historischen Situationen. Und so zu reagieren ist wichtig. Aber vor kurzem habe ich einige Glossen verfasst, in denen ich mich betont nicht auf die Pandemie beziehe. Ich beschreibe die Welt, wie ich sie davor kannte und wie sich sie mir danach vorstelle. Beides unterscheidet sich gar nicht so sehr, jedenfalls was meinen Alltag angeht, meinen Umgang mit Menschen, die mir nahe sind und meine Distanz zu anderen, meine Zweifel, Gewissheiten, Sorgen in all den flüchtigen Augenblicken, aus denen die längsten Stunden eines jeden Lebens bestehen.

Und dann lässt mich das Erleben von Werken wie das Buch der Klänge, sehen, wie du die ganze Zeit über daran gearbeitet hast, ab und zu mitzuerleben, wie du es irgendwo im Land spielst, glauben, dass alles, was wichtig ist, sich gar nicht so sehr verändert. Es lässt mich glauben, dass es von Bedeutung ist, Zeit damit zu verlieren, nach einem genauen Wort zu suchen, auch wenn die Welt auseinanderzufallen scheint, so wie es wichtig ist, den genauen Ton zu treffen, wie es Hans Otte vorgemacht hat. Wie wichtig es ist, den genauen Ton so genau zu spielen, wie nur du es kannst. Vielen Dank dafür.

Ich warte auf Nachricht von dir, hoffe, es geht dir gut in diesen letzten Tagen des Jahres.

Herzliche Grüße
Susana


Porto, 10. Januar 2022

Liebe Susana,

Ich schreibe dir nun fast zwei Wochen, nachdem dein Brief angekommen ist. Als er mich erreichte, war ich gerade in einem kleinen Dorf in Asturien, wo ich ein paar Tage mit Freunden verbrachte. Daran, mich dort an den Computer zu setzen, war nicht zu denken, umso mehr, in der Küche zu stehen, Essen zu machen und an der frischen Luft spazieren zu gehen. Dass ich es konnte, war schön, nach so intensiven Monaten der Planungen und Umsetzungen. [Manchmal habe ich das Gefühl, ich sollte einmal ein paar Monate lang gar nichts tun, nur um das in mich aufzunehmen, was ich alles getan habe und das, wenn es fertig ist, einfach aus meinem Leben verschwindet, um dem, was noch nicht ist, Platz zu machen.]

Diese Woche beginnt der Aufbau der Ausstellung zum Festival Hans Otte: Sound of Sounds am Zentrum für Kunst- und Architekturangelegenheiten CAAA in Guimarães, der Institution, die von Anfang an mit dabei war und unser erster Partner des Festivals, als ich damals 2012 zum ersten Mal mit dem Goethe-Institut Portugal in Kontakt getreten bin. Daher rührt das gute Gefühl des Zurückkommens an einen Ausgangspunkt nach einer langen, ausgedehnten Reise. Aus unterschiedlichen Gründen konnte das Festival 2014 nicht stattfinden und nun auch 2020 nicht … Wie du dir vorstellen kannst, war es jedes Mal alles andere als einfach, mit der Enttäuschung umzugehen, aber jetzt denke ich, dass es gut war, und wie sehr das Festival trotz der Pandemie vom Warten profitieren konnte. Beim Prozess dieses „Warten Lernens“ war Ingo Ahmels sehr wichtig, der in seiner Freundlichkeit und Klugheit immer wieder gesagt hat, wir sollten es nicht eilig haben, es würde sich alles finden und es lohne sich auf den besten Moment und die besten Bedingungen zu warten.
Margaret Leng Tan, Joana Gama und Ingo Ahmels bei Proben im Goethe-Institut in Lissabon. Margaret Leng Tan, Joana Gama und Ingo Ahmels bei Proben im Goethe-Institut in Lissabon. | Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
Zum Beispiel habe ich Margaret Leng Tan 2012 im CAAA kennengelernt bei der Ausstellung zu Cage … conceptualizing Cage now, wo Margaret ein Konzert auf dem Toy Piano gespielt hat mit Werken von John Cage, Phyllis Chen, Philip Glass, Erik Griswold James Joslin, John Kennedy, Stephen Montague, António Pinho Vargas und Naftali Schindler. Seitdem waren wir in Kontakt und trafen uns mehrmals in New York auch bei ihr zu Hause, aber nie war dabei eine gemeinsame Arbeit in Aussicht, auch weil sie die GROSSE Margaret Leng Tan war und ich nur die kleine Joana Gama. [Ein Augenzwinkern in Richtung dessen, was Ingo Ahmels in der Broschüre des Festivals anspricht: Aus den Worten „ein-atmen-aus“ lässt sich kaum zufällig Innen und Außen der Welt herauslesen, Alpha und Omega, zwischen denen der Hauch des Lebens pulsiert, alles getragen wird und sich verändert. „Ahmels und Otte“, wie Otte stets mit einem Lächeln bemerkte. „Das kleine a und das große O“, wie ich erwiderte.] Deswegen schöpfte Ingo, als alles noch schwieriger und noch unwahrscheinlicher zu werden schien, Hoffnung und entschied sich, Margaret in zweierlei Hinsicht zum Festival einzuladen - und sie nahm die Einladung an. Im November 2021 fand in der Culturgest Oriente:Ocidente – Cage:Otte statt, wo Margaret Werke von John Cage für präpariertes Klavier spielte und ich Klavierwerke von Hans Otte. Ingo sorgte für die Verstärkung. Es war ein denkwürdiger Tag, zwei Konzerte vor Publikum, ausverkauftes Haus, die Stimmung feierlich und doch verhalten, zwei weit auseinander stehende Klavieren, unser Altersunterschied, das so unterschiedliche wie verschworene Repertoire, der Ton, der unter dem Zuschauerraum herauskam …

Es gibt einiges an Symbolik rund um das Festival und auch rund um meine persönliche - private wie öffentliche – Beziehung zum Buch der Klänge von Hans Otte. Seit ich das Stück 2010 kennengelernt habe, will ich es spielen, doch anders als viele andere Pianist*innen studiere ich selten etwas ein ohne die Aussicht, es auch vor Publikum spielen zu können. Deswegen und obwohl ich bereits die Partitur hatte – in der bearbeiteten und der handschriftlichen Version – wartete ich … bis der richtige Zeitpunkt da war: der Lockdown 2020. Die Leichtigkeit zu erreichen, die der Komponist anstrebt, war ein langer und nicht immer leichter Prozess, nicht nur zu Hause, sondern auch auf der Bühne. Daher ist es durchaus angebracht, zu erwähnen, dass das am meisten ausgereifte Konzert das am 3. Dezember 2020 im Auditório Mateus d’Aranda in Évora war, denn bis dahin hatte ich das Stück schon auf mehreren Bühnen, auf unterschiedlichen Klavieren und in unterschiedlicher Dauer gespielt [in seinen einleitenden Bemerkungen zur Partitur sagt der Komponist selbst, dass er dem Interpreten die Freiheit gibt, es auf unterschiedliche Weise zu spielen]. Dieses Konzert war aus zwei Gründen (und einem weiteren) besonders: Zufällig war es auf den Geburtstag des Komponisten gelegt worden, was mich sehr bewegte, als ich das Stück an dem Tag spielte. Ein weiterer Zufall war, dass das Piano dort ein Bösendorfer Imperial ist, genau wie das, auf dem Hans Otte das Stück komponierte, und auf dem es, wie ich finde, bis jetzt am besten klang. Vorher schon hatte mich Silvia Otte, die Tochter des Komponisten, eingeladen, irgendwann einmal bei ihr zu Hause das Stück auf dem Piano zu spielen, auf dem der Vater es komponiert hat. Das empfinde ich als besondere Ehre und hoffe, jetzt da ich mit dem Stück ein wenig vertrauter bin, es eines Tages auch zu tun. [Der Dritte Grund war, dass Ingo beim Hinausgehen nach dem Konzert am Haus gegenüber die Hausnummer 95 fand, das Alter, das Hans Otte an diesem Tag erreicht hätte …]

Das Buch der Klänge live zu spielen war sehr bewegend, aber ich will nicht unerwähnt lassen, welchen Effekt die Ausstrahlung des Stücks auf RTP2 hatte, eine wunderbare Aufzeichnung im Gewächshaus des Botanischen Gartens von Coimbra. Die Aufzeichnung fand im April 2020 statt, das ganze Land war bereits im Lockdown. Ich habe die Leute vom Team zunächst mit Maske kennengelernt und konnte sie erst beim Mittagessen lächeln sehen. Monate zu Hause üben, aus dem Haus gehen, um das Stück aufzuzeichnen, am Abend wieder nach Haus zu kommen und es erst nach sechs Monaten veröffentlicht zu sehen. Ich war sehr ergriffen davon, wie viele Leute mir daraufhin schrieben, dass sie es gesehen, gehört und dass es ihnen gefallen hatte. Wie gut, dass es weiterhin online ist, jetzt auf RTP Palco, und dort immer noch erlebt werden kann. Aus Gründen der Reverenz sage ich immer dazu, dass auch Hans Otte es eingespielt hat und dass die Aufnahme noch immer erhältlich ist. Was nicht immer der Fall ist – manchmal spielen Interpreten besser als der Komponist selbst –, aber hier ist die Interpretation des Komponisten besonders schön und intim. Ohne den Anspruch, über allem zu stehen, verdient sie, gehört zu werden.

Ich möchte mich auch für den Text bedanken, den du nach dem Gespräch mit Silvia Otte geschrieben hast. Was ich über die Jahre gelesen habe und der Kontakt zu Ingo Ahmels haben mir Hans Otte näher gebracht, und dieser sehr vertraute Bericht hat mir geholfen ihn noch besser kennenzulernen – und noch mehr zu bewundern.

Liebe Grüße
Joana

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