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Notizen in Begleitung der Proben zu J-Choes – J’ai Faim
Eine universelle Sprache

Margaret Leng Tan und Joana Gama bei Proben im Goethe-Institut in Lissabon.
Margaret Leng Tan und Joana Gama bei Proben im Goethe-Institut in Lissabon. | Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal

Hans Otte, John Cage und Erik Satie treffen sich auf der Bühne zu einem musikalischen Bankett. Das von Ingo Ahmels und Lou Simard ins Leben gerufene Stück J-Choes – J‘ai Faim, wurde über mehrere Wochen hinweg gemeinsam mit Joana Gama und Margaret Leng Tan in Lissabon erarbeitet und wurde im Rahmen des Festivals Hans Otte : Sound of Sounds uraufgeführt. Die Autorin Susana Moreira Marques hat diesen kreativen Prozess begleitet.

Im November 2021 und Anfang April 2022 konnte ich einige Proben für das Stück J-Choes – J’ai Faim im Auditorium des Goethe-Instituts in Lissabon mitverfolgen. Um das Werk besser zu verstehen, sprach ich mit den Interpretinnen Joana Gama und Margaret Leng Tan sowie mit den Macher*innen des Stücks Ingo Ahmels und Lou Simard, vor allem aber versuchte ich, Beobachterin zu sein.

Während Joana Gama die Haltung des deutschen Komponisten Hans Otte einnahm, Margaret Leng Tan den Amerikaner John Cage beschwor, den sie so gut kannte und dessen Werk sie in der ganzen Welt gespielt hat, während Ingo Ahmels in die Rolle von Erik Satie schlüpfte, folgte ich den Regieanweisungen von Lou Simard, der Beziehung zwischen den Geschehnissen auf der Bühne und dem Musikrepertoire. Ich beobachtete, wie Margaret Leng Tan übte, das Piano in kürzester Zeit zu präparieren, und wie sie Joana Gama unterrichtete, damit sie ihr helfen konnte, dies live umzusetzen und John Cage auf dem präparierten Klavier zu spielen. Ich wurde Zeugin von Gesprächen über Gesten und Tempi. Davon wie Ingo Ahmels und Margaret Leng Tan portugiesische Sätze lernten. Vor allem aber konnte ich beobachten, wie die Komplizenschaft zwischen diesen Menschen eine Aufführung entstehen ließ, die selbst von künstlerischen Affinitäten handelt, die wir mit Menschen eingehen, die wir bewundern und die uns räumlich und zeitlich mehr oder weniger nahe stehen. Während ich diesen Prozess begleitete, habe ich einige Notizen gesammelt.

1.
Einer der Sätze des Stücks ist: „Der Künstler arbeitet nicht, der Künstler liebt.“ Aber was liebt der Künstler? Seine Kunst? Die anderen Künstler? In dem Moment zu leben, in dem er Kunst erschafft?

2.
Ich lerne, dass die Musik für ein Musiktheaterstück das Wichtigste ist. Das sollte offensichtlich sein, ist es aber nicht. Es wird erst dann offensichtlich, wenn Musik und Handlungen sich im Laufe einer Probe abwechseln und ich die Musik, die ich bereits kannte, auf andere Art höre. Auf einer Bühne, auf der noch andere Dinge geschehen, ist es so, als käme die Musik aus dem Haus einer Person oder von einem ganz anderen Ort als diesem hier, auf dieser Bühne, in dieser Stadt.

3.
Doch der Satz, der mich an dem Stück am meisten fasziniert – und der eng mit dem buddhistischen Denken verbunden ist, das sowohl John Cage als auch Hans Otte erkundet haben – lautet wie folgt: „Ich habe nichts zu sagen und sage es; und das ist Poesie.“ Es braucht Zeit, diesen Satz zu verstehen. Und nichts zu sagen. Poesie zu erschaffen ohne Intention.

4.
Die Zeit des Musikers ist nicht die der Uhr, sondern die des Metronoms. Es gibt einen Moment, in dem Erik Satie, gespielt von Ingo Ahmels, mit seinem ihn stets begleitenden Regenschirm die Bewegung einer Uhr nachahmt – einer Uhr, die rückwärts läuft. Es ist eine symbolische Form, uns daran zu erinnern, dass alles, was wir tun, in Verbindung zu denen steht, die vor uns gearbeitet haben. Doch alles ergibt noch mehr Sinn, wenn er mit dem Regenschirm das rhythmische, exakte Schwingen des Metronoms nachahmt. Diese Zeit geht weder vorwärts noch rückwärts, sondern existiert durch die Epochen hindurch. In ihr existieren Bach und Schubert neben Cage und Otte.

5.
Eine Probe ist nicht chaotisch, doch die Art, wie die Zeit vergeht, wird von einer anderen Ordnung bestimmt. Man wiederholt, was zu wiederholen ist. Man ändert den Ort in der Chronologie des Stücks, man ändert den Ort auf der Bühne. Das Experimentieren ist das Gesicht dieses Chaos und manchmal auch sein Resultat. Die interessantesten Momente beim Begleiten einer Probe, sind nicht die, in denen alles funktioniert, sondern die, in denen Dinge schief gehen. Wenn beispielsweise Gesten, die eigentlich klein erscheinen, doch exzessiv werden, in einem Stück, in dem weniger die Worte, sondern die Körper der Pianistinnen sprechen.

6.
Das Gegenteil von Einsamkeit ist: nichts alleine entscheiden. Ich denke darüber nach, nachdem Margaret Leng Tan mir erzählt, dass sie bis zu diesem Jahr nie in einer solchen Konstellation gearbeitet hat und plötzlich in einem Jahr Teil zweier Musiktheaterstücke ist. Sie ist daran gewöhnt, alleine zu arbeiten und somit auch alleine zu entscheiden. Sie glaubte, dass sie niemanden bräuchte, weil ein Körper allein ein Orchester sein kann. Nicht nur ein Körper, der ein Instrument spielt, sondern der auch mit dem Mund oder den ineinandergelegten Händen Töne erzeugen kann. Ich schreibe „sie glaubte“, weil sie dies erzählt, um zu erklären, warum sie keine Pianistin für Orchesterkonzerte geworden ist. Und doch glaubt sie wahrscheinlich weiterhin – trotz der angenehmen Überraschung, die es für sie war, Entscheidungen mit anderen zu diskutieren – dass sie alleine ein Orchester ist.

7.
Margaret Leng Tans Hände sind so alt wie sie selbst. Sie wurde 1945 geboren. Doch nicht, wenn sie spielt. Oder wenn sie mit Geschick und Schnelligkeit auf der Bühne das Piano für ein Stück von Cage präpariert, bei dem sich die Töne aller Tasten ändern. 

8.
Margaret Leng Tan bringt mich dazu, den Satz, den sie in ihrem Kopf über die Musik Hans Ottes formulierte, zu Papier zu bringen: "His music is infused with rapture and wonderment at a world made anew by the sound of sounds." Sie sagt, dass sie schon lange darüber nachdenkt, wie sie Ottes Musik beschreiben könne. Und dass ihr erst beim ersten Besuch für die Proben in Lissabon das richtige Wort in den Sinn kam: rapture – Entrückung. Ich notiere das Wort, ich notiere den ganzen Satz. Und ich notiere auch, zumindest in Gedanken, dass das Interessante daran die Zeit ist, die es eine Person, die den Komponisten bereits gespielt hat und ihn sogar persönlich kannte, kostet, die richtige Beschreibung für seine Musik zu finden.

9.
Auf der Bühne kann es in bestimmten Momenten keinen Protagonismus geben. Der Protagonist ist hier stets die Musik – so wie in einem guten Theaterstück der Text oder das Werk selbst der Protagonist ist. Wenn jemand auf der Bühne glänzt, wenn die Pianistinnen sich bewegen und uns mit ihren Gesichtern und Ausdrücken überraschen, die wir normalerweise nicht sehen, glänzen sie, weil sie zu dem Bild beitragen, das wir von ihnen haben, wenn sie später mit dem Rücken zu uns am Piano sitzen.

  • Behind the curtains Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
  • Partituren Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
  • Auf der Bühne Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
  • Am Piano Foto (Ausschnitt): Vera Marmelo © Goethe-Institut Portugal
10.
Ich weiß, dass die Musik eine universelle Sprache ist und stelle mir vor, dass Musiker*innen aus aller Welt sich verstehen können. Doch das eine ist unsere Vorstellung und das andere ist, dies zu beobachten, wenn man eine Probe mit vier Musiker*innen begleitet, die unterschiedliche Nationalitäten und Sprachen haben – und die Missverständnisse genau deswegen entstehen, weil man eine gemeinsame Sprache, einen Kontext miteinander teilt.

11.
Vielleicht arbeitet der Künstler, weil er liebt. Er arbeitet sogar noch mehr. Auf gewisse Weise sind die Proben – die in ihrer Intensität die Personen am Ende eines langen Tages in einem geschlossenen Raum ausgelaugt zurücklassen – der Beweis für das Gegenteil dessen, was auf der Bühne gesagt wird: dass der Künstler nicht arbeitet, sondern liebt. Vielleicht gibt es in Wahrheit keine Liebe ohne Arbeit.

12.
In einem künstlerischen Prozess ist die Intuition eine wichtige Form der Intelligenz. Lou Simard erzählt mir, dass sie – als sie die Pianistin Joana Gama das erste Mal sah – Ähnlichkeiten mit Hans Otte in ihr sah. Nicht eine körperliche Ähnlichkeit, sondern eine Beschaffenheit in der Art ihres Seins. Etwas, das als „spirituell“ beschrieben werden kann, aber das mit einer gewissen Verfügbarkeit für die anderen zu tun hat. Eine Art des Seins, die sich nicht darüber bestimmt, was man tut, sondern darüber, was man die anderen tun lässt. Lou Simard lernte Otte kennen, als sie nach Bremen zog, und er wurde zu einer Art Ziehvater für sie. Otte schrieb Lieder, die sie während ihrer Auftritte sang. Ein Stück zu schreiben und aufzuführen, das von seiner Musik ausgeht und von den Beziehungen, die diese Musik zu anderen hatte, war vielleicht eine Art, etwas zurückzugeben; ein Geschenk einer Tochter. Doch schon bevor sie Joana Gama das erste Mal sah, muss sie diese Verbindung gespürt haben, die darüber hinaus geht, dass die Pianistin die Stücke des Komponisten spielt – denn diese Verbindung ist von Anfang an Teil des Texts und der Konzeption des Stücks. Die Pianistin als Echo des Komponisten, ohne dass sie sich je kennengelernt hätten, da sie völlig unterschiedlichen Generationen, Nationalitäten und historischen Kontexten angehören.

13.
Wie Journalist*innen es bei Reportagen für gewöhnlich tun, bemühe ich mich, alle Elemente zu notieren, die Teil des Szenarios sind. Ich vergesse auch nicht aufzuschreiben, welche Farben die Objekte und die Kleidungsstücke der Personen auf der Bühne haben, damit die Beschreibung so detailgetreu und lebendig wie möglich ist. Zu manchen Objekten muss eine Geschichte erzählt werden, wie beispielsweise die Fotografie von Hans Otte und John Cage, die der Auftakt des Stücks zu sein scheint, wenn Joana Gama und Margaret Leng Tan auf der Bühne die Haltung und den Ausdruck der Komponisten in jenem Moment der Fotoaufnahme einnehmen. Als Bild ist diese Fotografie kaum interessant, aber sie ist die einzige, die – laienhaft und ohne Anspruch – auf gewisse Art diese Verbindung zwischen den beiden Komponisten einfing. Eine freundschaftliche Beziehung, von gegenseitiger Bewunderung, die doch darüber hinausging. Eine durch Bewunderung und Lernen entstandene Komplizenschaft, trotz des Altersunterschieds, oder vielleicht gerade wegen des Altersunterschieds. Andere Objekte bedürfen keiner Erklärung. Ihre Beschreibung reicht aus, um eine poetische Kraft zu entfalten, die keine Geschichten benötigt. Zum Beispiel der Klavierhocker, der sich öffnen lässt und in dem man Notenblätter entdecken kann. Der sich wieder schließt, um als Tisch zu dienen. Der hinter einer weißen Tafel, in Schatten verwandelt, an ein kleines Klavier erinnert, auf dem Musiker*innen ihre erste Freude am Erzeugen von Klängen wiederentdecken.

14.
Alle Theaterstücke, mit mehr oder weniger Text, leben vom Rhythmus. In diesem gibt es den Rhythmus der Musik. Aber auch den Rhythmus der Interpretinnen, wann immer sie nicht spielen, sondern noch die Momente der Ruhe zu zählen scheinen. Diese Idee von Rhythmus – der vielleicht der Poesie näher ist als dem dramatischen Text – ist der Grund, warum Lou Simard so sehr daran glaubt, dass Musiker*innen viele andere Dinge auf der Bühne tun können.

15.
Arbeitet der Künstler, der liebt, weiterhin, wenn die Probe zu Ende ist?

16.
Während der Probe werden Papiere zerrissen, die Partituren großer Werke der westlichen Musikgeschichte sein sollen. Doch dann werden tatsächlich Partituren zerrissen. Die Noten werden in Schüsseln gelegt, aus denen sie später mit Stäbchen herausgenommen werden. Der Akt des Essens wird imitiert und der, in dem wir zu dem werden, was wir essen. Es erinnert daran, wie der brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade Brasilien als eine anthropophagische Kultur beschrieb, in der viele andere Kulturen verschlungen werden. Doch Künstler gingen schon immer in dieser Bewegung des Verschluckens anderer voran. Die Liebe beginnt nicht aufgrund der Sache an sich, sondern aufgrund der anderen, die bereits das gleiche getan haben. Wir lernen das Lieben von denen, die vor uns geliebt haben.

17.
Ich nehme mir vor, eine Art Probentagebuch zu führen und Uhrzeiten für bestimmte Momente und Ereignisse aufzuschreiben, aber die Unterschiede innerhalb eines Tages sind nicht groß genug, um etwas hervorzuheben. Die Arbeit im Laufe eines Probentages ist immer die gleiche, sie ist repetitiv. Und doch steht am Ende des Tages der Eindruck, dass das Stück vorangekommen ist. In diesem Sinne unterscheidet es sich nicht so sehr von der Tätigkeit eines Musikers, der allein zu Hause probt. Der bestimmte Abschnitte ein ums andere Mal wiederholt und der doch an einem gewissen Punkt das Gefühl hat, das ganze Stück besser verstanden zu haben.

18.
„Musiker sind auch Dichter“, sagt die Regisseurin Lou Simard, um zu erklären, warum bestimmte Texte von Musiker*innen gesprochen werden können und andere vielleicht nicht. Der Satz ist kein Zitat von John Cage oder Hans Otte wie viele andere des Stücks. Er wird nie auf der Bühne gesagt. Aber er könnte gesagt werden.

19.
Nachdem ich eine Zeit lang beobachtet habe, wie diese vier Personen bei den Proben arbeiten, wird mir klar, warum ich gerne bei Proben zuschaue, auch wenn ich einen Teil des Geschehens nicht verstehe. Auch wenn nichts weiter passiert, als dass eine Szene sich unentwegt wiederholt. Denn denen zuzuschauen, die ihre Arbeit lieben, lehrt auch mich, das zu lieben, was ich tue. Und das bedeutet, beim Arbeiten mehr über den Ausgangspunkt als über das Ziel nachzudenken.
 

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