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Berichten aus dem Exil: „Wir müssen uns immer noch an die journalistischen Grenzen halten“

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts "Unprejudiced" mit Unterstützung des Östlichen Partnerschaftsprogramms und des Auswärtigen Amts im Herbst 2022 erstellt.
Autorin: Sophia Averesch

Berichten aus dem Exil: „Wir müssen uns immer noch an die journalistischen Grenzen halten“

Seit der russischen Invasion der Ukraine sind mehr als neun Monate vergangen. Journalist:innen aus der Ukraine berichten seitdem Tag für Tag über den Krieg und sind als ukrainische Bürger:innen von den Folgen auch unmittelbar betroffen.

Maria Grynewych ist Miteigentümerin und Chefredakteurin der ukrainischen Nachrichtenplattform Socportal.info. Die Nachrichtenseite berichtet mit sozialpolitischem Fokus über die Ukraine, in ukrainischer, russischer und englischer Sprache. Wegen des Kriegs arbeiten fast alle Redakteur:innen von Socportal.info inzwischen aus dem Exil – aus sechs verschiedenen Ländern Europas.
In dem Interview spricht Grynewych über das Arbeiten im Exil, den Kampf, über einen Krieg zu berichten, in den man selbst verwickelt ist, und die Notwendigkeit eines professionellen Journalismus.


Was hat sich in Ihrer Arbeit bei Socportal.info nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 verändert?

Was sich geändert hat, war natürlich das, worüber wir schreiben. Wir haben uns vor dem Krieg nie auf militärische Fragen konzentriert. Unser Fokus war auf Soziales. Wir lebten ein normales Leben und hatten eine normale Arbeit. Als der Krieg angekündigt wurde und die Invasion begann, verließen mehrere meiner Kolleg:innen Kiew noch am selben Tag, weil sie Kinder haben und beschlossen, dass sie nichts riskieren konnten. In der ersten Woche habe ich im Grunde allein gearbeitet, weil sie Zeit brauchten, um umzuziehen. Sie zogen mehrmals um. Ich war 24/7 im Dienst: Ich berichtete, was und wo etwas passierte.

Ich habe versucht, unsere russischen Leser:innen zu erreichen, wir hatten vor dem Krieg einen ziemlich großen Anteil an russischen Leser:innen. Ich habe versucht, in sozialen Netzwerken in Russland zu posten, aber als ich anfing, sie zu erreichen, bekam ich täglich Drohungen auf meine E-Mail, auf mein Handy...einfach Tonnen davon.

Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?

Unsere Website wurde in Russland in der zweiten Woche gesperrt. Wir haben immer noch einen winzigen Anteil russischer Leser:innen. Ich weiß nicht, wie sie uns lesen, wahrscheinlich über VPN. Ich habe einen Brief von Roskomnadzor (Anm. d. Red.: Russischer Föderaler Dienst für die Aufsicht über Kommunikation, Informationstechnologie und Massenmedien) erhalten, dass ich etwas Gefährliches poste. Ich meine, ich bin in der Ukraine registriert, ich bin Einwohnerin der Ukraine, aber sie schrieben mir immer noch, insgesamt drei Briefe, in denen stand, dass ich alles löschen sollte.
Und dann schrieben sie plötzlich auch meinen Server-Besitzern: Sie kontaktierten mein Rechenzentrum in Deutschland und sagten, wenn man die Website nicht blockiert, werden sie alle Websites blockieren, die der Betreiber in Russland hostet. Dies hätte enorme geschäftliche Probleme für das Rechenzentrum bedeutet. Alle Daten meiner Website wurden daraufhin in die Ukraine übertragen: Das Rechenzentrum ist zwar in Deutschland, aber es hat auch Server in der Ukraine. 

Im Moment wohnen und arbeiten Sie aus dem Exil in Deutschland. Wann haben Sie sich entschieden, Kiew zu verlassen?

Ich bekam diese Drohungen und Kiew stand unter Angriff. Es war drei Wochen nach Kriegsbeginn und meine Freund:innen beobachteten die Situation sehr genau und sie hatten einige Quellen im Militär. Sie haben mich angerufen und gesagt: „Wenn du willst, geh jetzt, weil sie nach Kiew durchbrechen können, und wenn Kiew blockiert wird, kannst du nicht tun, was du willst, und du wirst keine Möglichkeit mehr haben“. Ich bin geflohen, weil ich die Chefredakteurin und Miteigentümerin der Plattform bin. Ich bin im Grunde eine Bedrohung für meine Familie, wobei sie anfingen, Journalist:innen zu jagen. Journalist:innen sind eines der Nummer 1-Ziele in diesem Krieg. Also entschied ich mich zu gehen und ich ging nach Lwiw und blieb dort für mehrere Wochen. Ich ging dann mit einem Journalist:innen-in-Residence-Programm für ukrainische Medienschaffende nach Deutschland.
Wir haben seitdem ein neues Projekt auf unserer Website gestartet, es heißt „War in Ukraine. The Storybook“. Hier wurden die Geschichten von Geflüchteten, von Freiwilligen und von Überlebenden veröffentlicht. Ich hatte viele Interviews mit Deutschen und ukrainischen Geflüchteten. Das Programm war tatsächlich eine Chance für mich, an einen sicheren Ort zu kommen und mit Menschen in Europa eng über den Krieg zu sprechen. 

„Nutzen“ Sie Ihren Exil-Status für Ihre Arbeit?

Jetzt planen wir, eine deutsche Version der Website mit etwas anderem Inhalt zu eröffnen. Denn wie ich hier sehe, braucht Deutschland dringend eine Erklärung, warum der Krieg stattfindet. Man denkt noch immer an unsere Nation und fragt sich: „Ihr müsst euch nur ergeben, warum kapituliert ihr nicht, warum müssen wir leiden?“. Vor allem in Ostdeutschland gibt es viele Putin-Bewunder:innen und Familien ehemaliger Migrant:innen, die nicht verstehen, was passiert, und sie sind ziemlich feindselig. Es ist also eine große Herausforderung, ein großes Problem. Ich hatte im August ein Interview mit dem sächsischen Medienminister und er sagte, die Leute seien müde vom Krieg. Aber ich meine, natürlich sind sie müde, aber das bedeutet nicht, dass wir ihnen nicht erklären sollten, was passiert. 

Was ist das Schwierigste an der Arbeit im Exil?

Meine Kolleg:innen sind alle in anderen Ländern – sie arbeiten aus Deutschland, Österreich, Tschechien, der Republik Moldau,  Kosovo und zwei von ihnen sind Wehrpflichtige und arbeiten noch von Kiew aus. Wir alle müssen auch einen anderen Job annehmen, weil wir als Journalist:innen nicht genug verdienen, um im Ausland zu leben. Die meisten meiner Kolleg:innen haben jetzt zwei Jobs. Manchmal sind sie einfach zu müde und sehen bei Meetings wie Zombies aus – es ist ein hohes Arbeitspensum und die Nachrichten machen teils auch sehr emotional. Zum Beispiel arbeitet der Journalist und die Nachrichten sind wirklich schlecht. Und dann sehe ich, wie sie oder er von einer bloßen Berichterstattung zu einer sehr emotionalen Arbeit übergeht. Die Titel, die Untertitel...sie lassen starke Gefühle im Schreibprozess mit einfließen, und ich muss sie anrufen und sagen: „Bitte, ich weiß, es ist schwer, aber du musst atmen und dich jetzt deiner Emotionen enthalten, denn die Nachrichten dürfen nicht mit superemotionalen Schlagzeilen überschrieben werden. Das ist kein Journalismus“.

Denn Journalismus ist kein Aktivismus.

Das ist es, was ich dann normalerweise sage: „Wir sind keine Aktivist:innen. Wir können sicherlich Aktivist:innen in unserem täglichen Leben sein, wir können ehrenamtlich arbeiten, als Freiwillige unterstützen, spenden, und vieles mehr. Aber unser Job ist unser Job. Wir müssen Journalismus machen: Wenn man emotional wird, wenn man nicht überprüft, was man schreibt, kann der Inhalt sehr schädlich sein. Wir müssen uns immer noch im Journalismus und in seinen Grenzen halten.”
 

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