Dagmar Leupold
Zugfahren

Zugfahren, genauer gesagt Schnellzugfahren, ist in Russland eine ernsthafte Angelegenheit, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass Seriosität sich durch Neigung zur Uniform und Kontrollwahn ausdrückt. Bereits beim Betreten des Bahnhofs wird kontrolliert, an einigen Bahnhöfen ein weiteres Mal, bevor der Bahnsteig aufgesucht wird. Am reservierten Wagen – Platzkarten sind obligatorisch (und heißen übrigens auch auf Russisch Platzkarten, wer weiß, warum, deutscher Ordnungssinn?) – stehen, in adrettem hellgrauen Kostüm, oder in der Frostversion, dunkelblauem Cape mit feschem Hut, Beamtinnen parat und kontrollieren mit einem Ausdruck latenter Alarmiertheit Pass und Fahrkarte. Dieselbe Prozedur inklusive Abgleich mit der Passagierliste findet dann noch einmal nach der Abfahrt statt, Polizei ist immer an Bord. Die Lautsprecheransagen sind dem Flugverkehr angepasst: Verdächtige Gepäckstücke melden etc., alles ein bisschen paranoid und auch herrlich redundant: Grünen Knopf drücken beim Aussteigen. Alle Durchsagen gibt es auch für die des Russischen nicht Mächtigen, die „dear passengers“ , in feinstem Oxford-Englisch. Wenn alle sitzen kommt die Flotte der dienstbaren Geister, diesmal mit Schürze und bietet neben den üblichen Snacks und Getränken auch Magnete, Spielsachen und Souvenirs feil. Kaum ist man ein wenig eingenickt, kommt die nächste, diesmal erzieherische Durchsage, Lautstärke des Klingeltons betreffend, Mülltrennung etc.pp So ist ein wenig überraschend (und anachronistisch), als auf der Rückfahrt von Petrosavodsk nach St.Petersburg, bei einem Halt in Lodejnole Polje, auf dem Bahnsteig fliegende Verkäufer auftreten: Geräucherten Fisch auf Zeitungspapier auslegen, Moos- und Blaubeeren in Litereimern anbieten. Der Herr vom Sitz schräg gegenüber kauft einen Fisch und verspeist ihn sichtlichem Genuss, wir anderen im Goßraumwagen dürfen olfaktorisch partizipieren.

Nach vier Stunden (Petersburg-Moskau) oder fünf (Petersburg-Petrosavodsk) steigt man überaus belehrt und mit einem halben Geständnis auf den Lippen (ich bekenne, ich habe die falsche Steckdose fürs Aufladen benutzt) aus dem Zug, der, da von Siemens gebaut, verwirrenderweise vertraut schien.