400 km nordöstlich von Petersburg, die Temperaturanzeige im Zug sinkt von 18 Grad bei der Abfahrt auf 11 Grad bei der Ankunft. Der Onega-See, zweitgrößter See Europas, schickt einen ordentlichen Wind zur Begrüßung an den Bahnhof. Wir checken im größten Hotel des Ortes ein, Onega Palace, von den Einheimischen nur Schiff genannt, zurecht: Es sieht aus wie ein riesiger Dampfer, von der Kommandobrücke – dem Restaurant im 11. Stock – hat man einen grandiosen Blick über den See. Der erste Spaziergang am folgenden Morgen bei Nieselregen nimmt nicht sehr ein für den Ort: Ein öder Lenin-Prospekt, mit den üblichen Geschäften, Einkaufszentren und architektonisch einfallslosen, meist auch sehr baufälligen Häusern. Am Nachmittag, die Sonne lässt sich blicken und ich bin nach einer ausführlichen Mittagspause ausgeschlafen, nehme ich auch Schönes wahr: die Seepromenade, den Park unweit des Nationalmuseums, ein altes Holzhaus in zuversichtlichem Gelb gestrichen ganz in der Nähe des Hotel-Schiffs. Auf dem Hauptplatz weist unsere Begleiterin auf die Lenin-Statue, die sich in der Mitte riesig erhebt. Eine der größten, hebt sie stolz hervor, und die einzige, bei der er nicht das obligatorische Schirmkäppi trägt, sondern eine Pelzmütze. Allerdings in der Hand, nicht auf dem Kopf. Marx und Engels sitzen auch in Stein gehauen traut beieinander – überhaupt fällt auf, dass die Straßen hier im Norden noch nach den alten Helden und Wegweisern heißen, im Unterschied zu Petersburg. Eindrucksvoll von außen und innen schließlich das Nationalmuseum, das wir abschließend besuchen und das sehr anschaulich, in gut organisierten Abteilungen, über karelische Archäologie und Geologie, Sitten und Gebräuche, Trachten und bildende Kunst Auskunft gibt. Das Schönste sind die Steine – darunter Marmor und Granit (unter anderem in St. Petersburg verbaut), riesige Findlinge, die aufgetürmt vor bösen Geistern schützen – und die Web- und Stickkünste, feinstes Leinen. Abends, nach der Lesung in der Nationalbibliothek, Einführung in die karelische Küche, Fisch aus dem Onega-See, vorweg Katlitki, eine flache Pirogge aus Roggenmehl, mit unterschiedlichen Füllungen, auch süß, meist Kartoffelpüree, Reis, Fisch oder Gemüse.
Am nächsten Morgen brechen wir auf, Karelien-Blitztour, ein Heilbad und ein Wasserfall sollen besichtigt werden. Am Stadtrand von Petrosavodsk ein Rudel wilder Hunde, die sich gerade zusammenrotten. Als wollten sie die Stadt erobern. Auf Nachfrage sagt der Begleiter: ja, sie seien durchaus ein Problem. Auf den Mittelstreifen zwischen den Fahrbahnen sehe ich noch weitere Aufständische, alle mager, zottig, zornig.
Die Ausläufer der Stadt unbarmherzig hässlich, Bauruinen und Brachland, das in Gewerbegebiete übergeht, Müll markiert den Straßenverlauf, Reklametafeln, Autohäuser – der gesammelte globale Mist. Dann wird die Straße einspurig, noch mehr Schlaglöcher und – ein wunderschöner Mischwald, Birken, Lärchen, Ahorn, Kiefern, säumt nun die Straße, gelegentlich tauchen dazwischen ein altes Holzhaus, eine kleine Kirche auf, mit schönem Schnitzwerk, aber schon halb in Natur übergegangen, bemooste Wände, überwucherte Dächer. Sobald eine Ortschaft sichtbar wird, also der Mensch Hand angelegt hat: siehe oben.
Ganz plötzlich ist die Straße makellos, keine Stoßdämpferherausforderungen mehr über mehrere Kilometer. Das ist so, erklärt unser Begleiter, weil Putin dort – er weist nach links, wo ein breiter Waldweg ins Innere führt – eine Datscha mit allem Drum und Dran, Tennisplatz, Schwimmbad und Fitnessstudio, direkt an einem der abertausend Seen Kareliens gelegen, für sich hat bauen lassen. Mittlerweile wieder verkauft, irgendein Oligarch hat sie erstanden, der Zugang ist nach wie vor für die Öffentlichkeit gesperrt. Und die Straße wird wieder zum Flickenteppich mit tiefen Löchern, denen unser Begleiter virtuos ausweicht. Der Gegenverkehr aber auch.