Matthias Nawrat
Sibirien-Tagebuch

Sibirien-Tagebuch
© Matthias Nawrat

Der deutsche Schriftsteller polnischer Herkunft verbringt im Rahmen des Regionalprojekts „Literarische Leuchttürme“ vier Wochen in Sibirien. Die Hauptstationen der Autorenresidenz sind Nowosibirsk, Akademgorodok und Krasnojarsk. Eine Woche ist seit der Ankunft von Matthias Nawrat in Nowosibirsk vergangen. In diesem Blog gewährt er einen Einblick in seine Erlebnisse und Eindrücke von der sibirischen Metropole.

12.09.
Umstieg in Moskau. Geschäfte mit Parfüm, Spirituosen und Schokolade – alles sieht aus wie in den Flughäfen Zürich, Paris, New York oder Tel Aviv. Einziger Unterschied: Die Ansagen aus den Lautsprechern. Ohne Pause wird etwas durchgegeben, als wollte man den Flugpassagieren keine Sekunde ohne Information zumuten. Etwas ähnliches dann nach meiner Ankunft in Nowosibirsk. Elena, die Projektkoordinatorin vor Ort, hat einen Zeitplan für meinen Monat hier aufgestellt, mit verschiedenen Treffen, Veranstaltungen und Freizeitangeboten. Wir gingen ihn beim Willkommensessen in einem Restaurant Schritt für Schritt durch. Dann noch einmal im Goethe-Institut mit der Direktorin Stefanie Peter. Es scheint auf den ersten Blick keine Lücke darin zu sein. Bei einem zweiten Blick stellte ich fest, dass an zwei Tagen gegen Ende meines Aufenthalts in roter Schriftfarbe steht: Tag zur freien Verfügung.

13.09.
Erste Nacht in der Wohnung. Um sechs Uhr am Morgen aus einem Traum aufgewacht. Ich sollte bei Kabeljau&Dorsch lesen, die Bude war voll, ich hatte verpennt und kam zu spät. Dann wurde ich aufgerufen, bekam es aber nicht mit. Und dann saß ich auf der Bühne und stellte fest, dass mein Text langweilig ist. Vor meinem Fenster liegt Nebel über der Stadt, das Licht schafft es nicht ganz in die zwei Zimmer meiner Wohnung. Ich sehe es nicht kommen, dass ich in die Arbeit finde, ich bin viel zu müde, die Gegenstände um mich erscheinen immer ein paar Zentimeter weiter weg von mir als ich es gewohnt bin, sodass sich immer noch ein Stück Gedankenleere zwischen mich und eine Handlung schieben kann.

14.09.
Überall Wolkenkratzer aus Glas, überall Baustellen. Aus meinem Fenster schaue ich aber runter auf ein einstöckiges dunkelbraunes Holzhaus mit Schnitzereien in den weiß gestrichenen Fensterbögen. Es stammt aus einer Zeit, als die Leute hier am Ob und an seinen Nebenflüssen ihre Häuser noch wild und ohne Genehmigung der weit entfernten Zarenadministration bauten. Direkt dahinter steht ein zweistöckiges türkises Steingebäude mit hohen Fenstern und weißen Kapitälen aus der Zeit nach dem Bau der Transib-Brücke und der Gründung der Stadt 1893. Bei diesem Gebäude könnte es sich um eines der Schulhäuser handeln, für deren Bau die Stadtväter von Nikolaj II. Kredite bekamen. Etwas weiter hinten, ungefähr auf Höhe des mehrspurigen Krasnij Prospekt im Zentrum, kann ich ein graues Gebäude erkennen, das im konstruktivistischen Stil errichtet ist, der auch als russisches Bauhaus bezeichnet wird. Es muss aus der Zeit nach der Oktoberrevolution stammen, als Nowonikolajewsk, wie die Stadt damals noch hieß, von den Bolschewiken zum Regierungssitz für ganz Sibirien gemacht wurde, weil es als wichtiger Knotenpunkt an der Transib-Strecke optimal lag für die Verbreitung von Flugblättern und Truppen. Zur Rechten stößt an das türkise Schulhaus schließlich ein grauer Plattenblock, der als eine Chruschtschowka bezeichnet wird. Nach der stalinistischen Epoche ließ Nikita Chruschtschow in den 1960ern im ganzen Land einheitliche moderne Wohneinheiten für Familien bauen. „Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind in den 80er Jahren in der Bibliothek im Parterre eines solchen Blocks saß und Tom Sawyer und Huckleberry Finn las“, sagte Konstantin, der hier für die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet und von dem ich mein Wissen über die Geschichte seiner Heimatstadt habe. „ Es war schrecklich kalt. Die Bauweise mit den großen Fenstern im Parterre und den dünnen Plattenwänden war gut für Regionen am Schwarzen Meer, aber für Sibirien?“ In der Chruschtschowka neben dem Schulgebäude unter meinem Fenster ist übrigens ebenfalls eine Bibliothek im Parterre, mit einem Bücherregal vor dem Eingang, in dem Leute aus der Nachbarschaft Bücher tauschen können. Sie trägt den Namen Nadeschda Krupskajas, der Ehefrau Lenins. In der Nähe meiner Wohnung stehen eine orthodoxe Kirche mit byzantinischem Kuppeldach, die Kirche der polnisch-katholischen Gemeinde und eine Synagoge, die 2012 gebaut wurde und mit spiegelndem Glas verkleidet ist. Vor dem Holzhaus unter meinem Fenster sitzt auf dem Rasen täglich, wenn ich aus dem Haus gehe, eine alte Frau mit Kopftuch zwischen den Wolkenkratzern und beobachtet den Verkehr. Sie sitzt dort noch, wenn ich am Nachmittag zurückkomme.

15.09.
Heute führte mich Sofja, meine persönliche Assistentin vom Goethe-Institut, die sehr gut Deutsch spricht, in eine Bar mit Stahlträgern unter der Decke. Wir tranken selbstgebrautes Bier, es gab acht Sorten, unter anderem IPA und Rauchbier. Wir unterhielten uns über True Detective, Harry Potter, Game of Thrones, Hannibal, die Bücher der Strugatzki-Brüder, und sie empfahl mir Ulitzkaja und Rubina. Mir fiel an ihrem Handgelenk ein Silberarmband mit vielen kleinen Anhängern auf. Einer hat die Form einer Brezel, er erinnert sie an ihre Praktikumszeit bei Landshut, sagte sie. Ein anderer hat die Form des Brandenburger Tors, sie hat ihn sich in Berlin gekauft. Mich berührte die Art und Weise, wie sie jeden einzelnen der kleinen Silbergegenstände zwischen die Finger nahm, als wären sie sehr kostbar. Dann erzählte sie mir von einem Theaterstück, das sie schon zwei Mal gesehen habe. Es sei ein Dialog zwischen zwei Dichtern, die sich nie kennen gelernt hätten. Und nun sprächen ihre Gedichte miteinander.

16.09.
Irina, ruft eine der Damen im unterirdischen Durchgang unter der Kreuzung am Krasnij Prospekt und schlurft von ihrem Kiosk, in dem Damenunterwäsche ausliegt, zu ihrer Nachbarin schräg gegenüber, die in der Tür ihres Glaskastens steht und die vorbeidrängenden Passanten beobachtet. Vor einem Laden, in dem die Kleider und Hemden bis unter die Decke hängen, hat sich eine Gruppe von Verkäuferinnen versammelt und plaudert miteinander, während eine Tupperdose mit Weintrauben herumgeht. Alle Verkäuferinnen hier unten tragen Hausschuhe. In dem engen Gang gibt es auch mehrere Geschäfte, die Backwaren verkaufen und den Kaffeekiosk „White Rabbit“ mit einer raumschiffartigen Espressomaschine. Vor einem Kiosk mit Schminkutensilien lässt sich eine junge Frau an einem Tischchen von einer Verkäuferin die Fingernägel lackieren. Die Leute gehen im Gänsemarsch an den Auslagen vorbei, sie haben gerade Mittagspause oder müssen zu einem Termin, und der Durchgang unter der Erde ist die einzige Möglichkeit, die mehrspurige Kreuzung zu überqueren. Er verzweigt sich auf beiden Seiten, und wenn man nicht aufpasst, kommt man auf der falschen Seite der Kreuzung raus und muss wieder runter und sich wieder in die Menge reihen und in die gegenüberliegende Abzweigung zu kommen versuchen. Bis 24 Uhr ist der Durchgang geöffnet, ich habe noch nicht herausgefunden, wie man danach über die Kreuzung kommen soll. Abends sind die Gänge leer, nur an ihren Verzweigungspunkten sitzt jeweils ein Wachmann auf einem Plastikstuhl und tippt auf seinem Telefon herum oder gießt sich Tee aus einer Thermoskanne ein. Manchmal gehe ich dann ganz allein an den schlafenden Schaufenstern vorbei und kann bis ans Ende des von Leuchtröhren beleuchteten Gangs schauen, und über mir rauscht die Straße. Oder aber es ist so still, dass ich die eigenen Schritte hören kann. Dann komme ich auf der anderen Seite der Treppe hoch, und zu mir dringt die Musik aus dem Park, ein Paar geht lachend vorbei, an der Ampel fahren die Autos wieder an, und ich gehe das letzte Stück nach Hause, zu meiner Wohnung.