In der letzten Woche der Autorenresidenz wird Matthias Nawrat vom Wintereinbruch überrascht. Während es im kalten Wind in den Straßen von Nowosibirsk ungemütlich wird, erlebt er drinnen in der Gesellschaft interessanter Persönlichkeiten anregende Gespräche und herzliche Begegnungen. In diesem Blogeintrag erzählt Matthias Nawrat von seinem Treffen mit der Nowosibirsker Dichtergruppe „Retschport“, er lernt seinen Zugabteilnachbarn kennen und besucht den Verlag von Swinjin und.seinen Söhnen.
Es gibt keinen Tod
An einem Freitagnachmittag vor zwei Wochen traf ich mich mit Sergey Schuba, Mikhail Moiseew und Dmitrij Koroljow, drei Dichtern der Nowosibirsker Dichtergruppe „Retschport“, was übersetzt Flusshafen bedeutet, Retsch kann aber auch die Rede meinen (den Redefluss). Sergey ist dünn und hat ein rotes Gesicht und schielt, Dmitrij ist groß wie ein Bär und trägt einen dunklen Vollbart und gestikuliert mit den ganzen Armen, wenn er spricht, ohne mir dabei in die Augen zu schauen. Mikhail ist untersetzt und trägt ein oranges Hemd und ein graues Sakko und hat einen roten Hautfleck im Gesicht. Wir trafen uns in einem Sowjet-Nostalgie-Café, in dem das Bier nur 95 Rubel kostet, und er aß gleich ein merkwürdiges Stück Torte, das aus Kartoffeln, Mayo und Roter Beete-Schichtungen bestand. Hier im ersten Stock, auf der Balustrade dieses Cafés, haben sie sich gegründet, erzählt Dima und hebt und senkt die Arme. Er überreicht mir ein Heft mit Gedichten als Geschenk, mit dem Titel „Es gibt keinen Tod“. Es ist die Hommage an einen ihrer Freunde – den Dichter Viktor Ivaniv – der sich vor anderthalb Jahren aus dem Fenster stürzte. Kein Journalist, weder in Zentralrussland, noch in Nowosibirsk hat darüber geschrieben, ruft er und beugt sich vor und zurück und hält sich an seinem Bart fest. Das ist der Grund, sagt Sergey, warum wir beschlossen haben, ein Online-Magazin zu gründen. Auch über unsere Lesungen berichtet kein Kulturjournalist der Stadt. Wenn wir es nicht selbst tun, dann tut es keiner. Alle drei haben sie Berufe, von ihren Gedichten können sie nicht leben. Als ich ihnen von der Förderlandschaft für Schriftsteller in Deutschland erzähle, schäme ich mich, weil dort Bedeutung generiert wird einfach nur durchs Geld – ich bin jetzt hier in Nowosibirsk, und es hat den Anschein, als wäre ich ein relevanter Schriftsteller, aber nur, weil ich aus einem Land komme, das Geld in die Kulturförderung pumpt. Mikhail erzählt von einem Gedicht, das er als Kind geschrieben hat, nachdem ein paar Jungs einen ganzen Wurf Kätzchen auf einem Tisch zum Spaß vergiftet hätten bis auf eines, weil es schwarz gewesen sei und sie es zwischen den anderen übersehen hätten. Das Gedicht, das er uns aufsagt, handelt von dem überlebenden Kätzchen. Ein Junge nimmt sich seiner an und gibt ihm den Namen „Schwarzes Kätzchen“. Monatelang wollten alle Mädchen in der Klasse, sagt Mikhail, dass ich es ihnen aufsage. Ich war für kurze Zeit sehr beliebt. Wir sprechen über Avantgarde, über das Universelle in der Lyrik, über die Metaphysik bei Dostojewski und über Mandelstam und Celan. Wir sprechen über die Frage, warum für die heutige Literatur noch immer der II. Weltkrieg so wichtig ist, wann sie endlich einen Schritt nach vorne macht. Und dann stehen sie alle drei plötzlich auf, wie auf ein geheimes Zeichen, geben mir die Hand und gehen wie sie gekommen sind, verschwinden in der Nacht von Nowosibirsk, auf dem Tisch bleiben die Biergläser und Teller und die selbstgedruckten Bändchen mit ihren Gedichten zurück. Die wilden Detektive tauchen zurück in die Schwärze der Geschichte, aus der sie kurz aufgetaucht waren.
Wohin geht die Reise?
Auf der Rückfahrt von Krasnojarsk sitze ich in einem Abteil mit Pawel. Er will sein Englisch üben. Ich war zwei Tage lang in Krasnojarsk, sagt er und schaut vor jedem dritten Wort nach oben, ringt mit den Händen, lacht und sagt dann doch manchmal ein russisches, das ich mit meinem Polnisch ab und zu verstehe. Meine Firma verkauft Elektrobauteile. Bist du verheiratet? Nein. Hast du eine Freundin? Er nickt und lacht verlegen. Er wohnt bei seinen Eltern. Ich kann mir keine eigene Wohnung leisten – die Krise. Anders als seine ehemaligen Schulfreunde habe er aber Glück, für seine Firma durfte er einmal sogar nach Moskau fliegen. Am liebsten würde ich nach Europa reisen. Er fragt mich, wo ich schon überall gewesen bin. Und wie es in Deutschland mit den Flüchtlingen sei, denn er wisse, dass man hier im Fernsehen vermutlich angelogen werde. Matthias, wohin würdest du gern als nächstes reisen? Ich würde gerne mit dem Auto durch die USA fahren, sage ich. Ja, das würde ich auch gerne!, ruft er und lacht wieder. Dann wird sein Gesicht ernst. Russland exportiert nichts außer Öl und Holz. Der Ölpreis fällt, und sofort ist der Rubel nur noch die Hälfte wert. Ich weiß nicht, wovon wir in Zukunft leben sollen.
Winter is coming
Ein kalter Wind weht von einem Tag auf den anderen durch die Straßen. Er schlägt dir gegen die Stirn, terrorisiert dich. Die Sonne scheint, aber sie schafft es nicht mehr, dich zu wärmen, wenn du auf einem Platz oder an einer Kreuzung stehen bleibst. Jetzt, da es ungemütlich wird, fällt mir auch die Ungastlichkeit der Architektur um mich auf. Beton, Glastürme, Plattenbauten – und immer wieder ein rohes Skelett, das in den Himmel ragt. Es hat schon etwas Asiatisches. Die Gebäude scheinen nur praktische Zwecke zu erfüllen, die Verspiegelung der Glastürme soll im Winter Licht in der Stadt sammeln. Die Straßen sind mehrspurig, der Verkehrslärm löscht dir für Momente alle Gedanken aus. Riesenmall, Sushi, „Traveler`s Coffee“. Als Passant geht man durch Holztunnel an Blechzäunen entlang. Und immer dieser Wind. Kein Wunder, dass hier niemand auf der Straße freundlich schaut. So herzlich man zueinander ist, wenn man in einer Bar oder bei jemandem zu Hause sitzt, so unnahbar ist man im Freien, in der Welt der Kälte und der Beton- und Glasriesen, die nicht gebaut wurden, damit sich jemand zwischen ihnen wohlfühlt.
Swinjin und Söhne
Wir haben ein Buch über Menschen und ihre Lebensgeschichten gemacht, von denen nur ein Satz bekannt ist, als Sprichwort zum Beispiel, ohne dass sie selbst bekannt wären. Wir planen ein Buch über einen Diplomaten und Freund Puschkins, der Europa und Amerika bereiste und gegen Napoleon kämpfte und unbekannte Künstler förderte. Der alte Swinjin steht vor dem Buchregal im Arbeitszimmer der Wohnung und erklärt die Geschichte des Verlags, der von einer Gruppe von Freunden gegründet wurde, vor 13 Jahren. Seit meine Frau gestorben ist, sagt er, ist vieles schwer geworden, sie hat viele Bücher geschrieben, sie war die treibende Kraft hinter allem, die Inspirationsquelle. Der junge Swinjin, der als einziger beim Verlag angestellt ist – sein Vater ist Physiker und arbeitet bei einer Geologiezeitschrift – geht aus dem Raum, man hört ihn mit den Kindern sprechen. Er kommt wieder mit Gebäck und Tee. Das Zimmer ist überwärmt, die Möbel sind dem Zerfall nahe, scheinen noch aus der Sowjet-Zeit zu stammen. Darf ich fragen, warum ihr hier seid, fragt irgendwann der alte Swinjin. Ich wollte wissen, wie ein Verlag in Russland überlebt, sage ich. Eigentlich gar nicht, sagt der junge Swinjin und lächelt. Er will den Verlag irgendwann übernehmen. Es gibt Bücher, die gemacht werden müssen, auch wenn sich nur wenige für sie interessieren, denn diese wenigen interessieren sich für sie dafür sehr.