Machen wir uns Gedanken über die Grenze als Begriff, erkennen wir sehr bald, dass er sich gleich einem Fraktal bricht und verzweigt in der Vielzahl seiner Aspekte, von natürlichen, geopolitischen und juristischen Grenzen bis hin zu physischen und psychischen sowie kognitiven und metaphysischen. Man könnte meinen, dass der Begriff sich auf paradoxe Weise seiner Definition widersetzt – würde sie doch quasi begriffliche Grenzen bestätigen oder den möglichen Bedeutungen ein „Ende“ setzen“ (wir denken an verwandte Wörter wie „Begrenzung“ und „Demarkation“). In jedem Gespräch über Grenzen schwingen somit mehr oder minder deutlich auch präzisierende Fragen mit, die das Diskussionsfeld umreißen und abgrenzen sollen: „in welcher Hinsicht?“, „welche Art von Grenzen?“, „natürliche oder künstliche?“, „tatsächliche oder metaphorische?“ und „gibt es das denn überhaupt: ‚einfach Grenzen‘?“
Trotz ihrer semantischen Elastizität, die uns mit einiger Ironie in Erinnerung ruft, dass in gewissem Sinne „alles eine Frage der Definition“ ist, bleiben Grenzen, Begrenzungen und Demarkationen wichtig und präsent im alltäglichen Leben eines jeden Menschen – im privaten wie im beruflichen. Dies betrifft nicht nur die Freiheit oder Unfreiheit der Bewegung, bzw. die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Dinge zu tun (wir sprechen hier unter anderem von Menschen mit eingeschränkten physischen Möglichkeiten sowie von ethischen, rechtlichen oder politischen Einschränkungen), sondern berührt auch tieferliegende Ebenen. Schließlich sind unsichtbare und doch real spürbare Grenzen auch in der dialektischen Spannung zwischen Subjekt und Objekt zu finden, zwischen „ich“ und „der andere“, zwischen der autonomen Persönlichkeit mit ihrem Recht auf Privatsphäre und dem Kollektiv, zwischen verschiedenen Ebenen und Wesenheiten der menschlichen Psyche. Mit anderen Worten: jeder Blick auf Grenzen ist dazu verurteilt, begrenzt zu sein.
Rhetorische Slogans der Globalisierungsepoche wiederum – „Grenzöffnung“, „Welt ohne Grenzen“, „Demokratisierung“ – stellen sich als anfechtbar heraus, um nicht zu sagen als trügerisch, eben da sie die Abkehr von einer Grundbedingung des menschlichen Bewusstseins postulieren und dabei die Tatsache ignorieren, dass Grenzen immer wieder neu errichtet werden, neu entstehen, und dass das Problem nicht in ihrer Existenz besteht, sondern in ihrer Starrheit, ihrer Undurchdringlichkeit und ihrer Unüberwindbarkeit.1
Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen scheint es richtig, dass gerade das Phänomen der Grenze den thematischen Vektor für die vom Goethe-Institut Moskau organisierte reisende Kunstausstellung bildet, in welcher die Arbeiten von über zwanzig jungen Autor*innen aus Deutschland, Russland, Osteuropa und Mittelasien vorgestellt werden. Vorauszuschicken ist, dass es sich in den meisten Fällen um Künstler*innen handelt, die in verschiedenen Teilen des postsowjetischen Raums leben oder gelebt haben; eben dort, wo vor einem Vierteljahrhundert rasant und zielstrebig neue Staatsgrenzen errichtet wurden. Ihre Suche nach Identität wird ebenso thematisiert wie ihr Blick auf die aktuelle politische Fragmentierung, das historische Gedächtnis und die neuen sozialen Herausforderungen. Das Format der Wanderausstellung erinnert nicht nur an die russischen Peredwischniki (Wandermaler), sondern im weiteren Sinne auch an fahrende Künstler, Karawanen und mobile Zelte, und unwillkürlich stellt sich die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten des Übertragens und des Übergangs aus einem Kulturkreis in einen anderen. Auch Bilder sind Migranten, in unserem digitalen Zeitalter wohl diejenigen, die sich am leichtesten durch die ganze Welt bewegen. Dies gilt auch für von Künstlern erschaffene Bilder und die ihnen innewohnenden kritischen Botschaften.
Die Kunst scheint ein besonders geeignetes Medium für die Betrachtung von Grenzen zu sein, bergen sie doch in ihrem Wesen eine eindeutig ikonische Dimension: die Grenze ist gleichzeitig ein naturgegebenes Faktum (Flüsse und Berge, Mauern und Stacheldraht) und ein Bild (eine Vorstellung, ein visuelles Zeichen, eine Linie, eine Markierung).2 Im weiteren Sinne haben wir es dabei auch mit einer Art Verhaltenskodex zu tun, in dem Kontrolle, Transgression und möglicherweise das Entstehen einer spezifischen, grenznahen Kultur eine Rolle spielen.
Für grenznahe Kulturen finden sich zahlreiche Beispiele unterschiedlichster Größenordnung: von den Liedern der Akriten, die im Mittelalter im Grenzgebiet zwischen Byzanz und dem abbasidischen Kalifat aufkamen, bis hin zur Berlin-Trilogie von David Bowie in den späten 1970er Jahren oder zur Frontierthese Frederick Turners, der Ende des 19. Jahrhunderts die grundlegenden Besonderheiten der politischen Kultur der USA darauf zurückführte, dass die amerikanischen Siedler sich stetig über jene Grenzen hinwegbewegten und hinwegbewegen mussten, denen sie auf ihrem Kontinent begegneten. Allen solchen Fällen ist eine eigene Art der „doppelten Perspektive“ zu eigen, die diesen Kulturerscheinungen auf die eine oder andere Weise die Eigentümlichkeit der Hybridität verleiht, der Zugehörigkeit zu beiden Seiten der Grenzlinie.
Tatsächlich ist es gerade diese kulturelle Symbiose, die viele der auf der Ausstellung „Die Grenze“ vertretenen Künstler beschäftigt, doch konzentrieren wir uns auf drei Projekte: die „Kazakh Funny Games“ von Saule Dyussenbina, die „100 Pialas“ von Katya Isaeva und die „Three Borders“ von Alisa Berger. In unterschiedlichen Techniken behandeln sie das Problem der Grenze jeweils aus einem eigenen Blickwinkel, immer bedingt durch die persönlichen Erfahrungen der Künstlerinnen. Doch alle eröffnen sie die Bedeutung der Grenze als konstitutives Element visuellen Denkens.
Die Tapetenornamente von Saule Dyussenbina mit ihrer ironischen Kombination aus europäischen Rocaille-Motiven, russischen Kultur-Klischees (z. B. einem Puschkin-Portrait) und Bildern aus dem Repertoire der offiziellen Ikonographie des modernen Kasachstan (dem Präsidentenpalast in Astana, einem Portrait des berühmten kasachischen Komponisten Kurmangasy Sagyrbajew u. a.) weisen in der einfachsten „Grammatik“ der Repräsentation auf die formgebende Funktion von Grenzen hin. Vor allem das Prinzip der dynamischen Wechselwirkung von Figur und Hintergrund – getrennt, und doch permanent interagierend – ist von entscheidender Bedeutung sowohl für die Ornamentierung, als auch, weiter gefasst, für unsere Wahrnehmungskapazitäten hinsichtlich Unterscheidung und Ordnung der optischen Informationen.
Das Sichtfeld wird durchschnitten von einer Linie (Grenze, Kontur, Horizont), die dem Bild Gestalt gibt. Wir sind diesen Effekt so sehr gewöhnt, dass wir ihn gar nicht mehr bemerken, bis wir uns subversive optische Täuschungen ins Gedächtnis rufen, die mit den Wahrnehmungsnormen spielen und uns an ähnliche Bildkonventionen erinnern. Wir denken an die berühmte Rubin'sche Vase, bei der in Abhängigkeit davon, wie Figur und Hintergrund „geschaltet“ werden, die ambivalente Form entweder als Gefäß oder als zwei menschliche Gesichtsprofile erkannt wird.
Tatsächlich ist das Ornament ursprünglich auch ein rhythmisiertes System von Grenzen, immer auftretend als eine Form der Mediation3, Form der symbolischen Vermittlung zwischen Betrachter und abstrakter Fläche. Es ist ein visueller Code, der leicht über die Grenze der Umrandung heraustreten und sich ins Unendliche fortsetzen und so für eine beständige Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses sorgen kann. Trotz des bewusst integrierten absurdistischen Effekts, der aus dem Aufeinandertreffen von ethnographischen und medialen Klischees in schmissig-kitschiger Tonart entsteht, stehen Dyussenbinas Tapetendesigns angesichts ihrer durchdachten ornamentalen Struktur metaphorisch nicht nur für die Spannung zwischen den unterschiedlichen kulturellen Elementen, sondern auch für die Verbindung zwischen ihnen: wundersam und Patchwork-artig und existent nicht nur in Kasachstan, sondern auf der gesamten Weite des großen postsowjetischen Raums.
Die Installation „100 Pialas“ von Katya Isaeva erinnert ebenfalls an kulturelle Gemeinsamkeit. Zu Sowjetzeiten, die die heute längst in Moskau lebende Künstlerin als Kind im heimatlichen Karaganda erlebt hat, standen Pialas für den Alltag und die Traditionen der „östlichen“ Regionen des Landes. Sie wurden – wie Isaeva uns deutlich veranschaulicht – in Keramikfabriken überall in der UdSSR hergestellt (davon zeugen Markierungen auf den Böden); heute sind viele dieser Fabriken geschlossen. Pialas waren bekannt und vertraut für Menschen, die hunderte und tausende von Kilometern weit entfernt voneinander lebten. Viele der ausgestellten Pialas haben ihre eigene Geschichte und tragen Erinnerungen ihrer ehemaligen Besitzer. Einige davon wurden der Künstlerin in persönlichen Gesprächen und Briefen anvertraut und leben weiter als Teil ihres Werks.
Für Isaeva ist die sowjetische Piala nicht etwa Symbol für die kolonialistische Aneignung von exotischem Geschirr mittels industrieller Maschinen. Nach dem Prinzip pars pro toto wird sie zum positiven Relikt, beinahe zum archäologischen Zeugnis eines weitläufigen Kulturraums, der zwar durch den sprichwörtlichen „Eisernen Vorhang“ abgeschirmt war, jedoch nicht durch hermetische innere Grenzen zerteilt. Die Künstlerin ermittelte die Identität ihrer Pialas und bewahrte sie sorgsam auf. In Isaevas Kunstwerk erinnern sie nun weniger an aktuelle politische Grenzen, als vielmehr an Stereotypen und jene inneren Grenzen, die unwillkürlich und unerbittlich auf den geistigen Karten der Menschen erscheinen.
Natürlich werden Grenzen in ihrer ikonischen Dimension fest mit Karten assoziiert – mit Linien und Figuren, die erkennbare Umrisse von Regionen, Ländern und Kontinenten bilden, die ebenfalls nach dem Prinzip „Figur und Hintergrund“ betrachtet werden. Nicht zufällig hat die Anordnung der Pialas in Isaevas Installation Ähnlichkeit mit Kartensymbolen und Raumdiagrammen, die auf einfache, aber überzeugende Art das Gefühl von kolossalen Entfernungen zwischen ortsfesten Produktionszentren vermitteln. Durch Variation von Farbe und Muster, die die typologisch ähnlichen Objekte voneinander unterscheiden, werden Ort und Zeit ihrer Entstehung sowie charakteristische stilistische Besonderheiten der einzelnen Schauplätze angezeigt.
Es fällt auf, dass in der Installation von Katya Isaeva eine Vielzahl von Grenzen zu sehen ist – dabei jedoch keine festen Rahmen, sondern Vektoren, Achsen eines Koordinatensystems, versehen mit Reihen von umgedrehten Pialas (die an Kuppelarchitekturen oder einen Sternenhimmel erinnern) in verschiedenen Kombinationen, „Rhythmen“ und Bemalung. Auf wirklichen Karten dagegen sind Grenzen ein überaus deutliches und konventionelles graphisches System, obwohl sie wie jede andere Abbildung auch immer Raum bieten für Doppeldeutigkeit und freie Interpretationsmöglichkeiten. Man nehme nur die Anzeige strittiger Gebiete und Pufferzonen bei Google Maps. Ihre Umrisse ändern sich bekanntlich (z. B. von gepunkteter Linie auf durchgezogene Linie oder von heller Farbe auf dunkle) in Abhängigkeit davon, in welchem Land die Karte geöffnet wird.
Im Gegensatz zu solchen „wechselnden“ Grenzlinien werden in manchen Regionen unserer Welt Mauern errichtet, die eine Grenze manifestieren und sie so dicht und undurchdringlich wie möglich machen sollen. Neben dem archetypischen Beispiel der Großen Chinesischen Mauer fallen uns heute Absperrvorrichtungen ein wie jene zwischen Mexiko und den USA oder zwischen Israel und dem Westjordanland sowie die Grenzanlagen rund um Ceuta oder im Süden Marokkos. Die kartographischen Bilder mit all ihren Zeichen und Symbolen werden in diesen Fällen verdrängt von der brutalen Architektur der Kontrollsysteme (die „uns“ von „den anderen“ trennen und vor ihnen schützen sollen), die den Grenzen über viele Kilometer über Täler und Hügel, Wüsten und Siedlungen hinweg ihren Stempel aufdrücken und die vermutlich die ausdrucksstärkste politische Landschaft unserer Zeit sind.
Während die oben beschriebenen Grenzen räumlicher Natur sind, lädt der Film von Alisa Berger „Three Borders“ ein, darüber nachzudenken, wie sich Barrieren in der Dimension der Zeit verhalten. Die Arbeit besteht aus Fotos und Videoaufzeichnungen aus dem Familienarchiv der Künstlerin und aus zufälligen Bildern und Textfragmenten. Zu sehen sind zehn Geschichten aus dem Leben von Verwandten Bergers aus drei verschiedenen Generationen und ethnokulturellen Zusammenhängen. Es geht dabei vor allem um die Momente, da menschliche Schicksale sich überschneiden und sich Begegnungen ereignen, die die nicht einfache Identität der Künstlerin prägen (diese Identität ist übrigens beispielhaft für viele Menschen, die in der UdSSR geboren wurden) – Alisa Berger besitzt koreanische und jüdische, russische und ukrainische, deutsche und dagestanische Wurzeln.
Die Archivlogik macht die Familienfotos hier zu Sachzeugnissen: eingefangene Momente, die aus dem lärmenden Strom des Lebens herausgegriffen wurden. Ergänzt durch Audiokommentar, der ironisch und nach Art der „Oral History“ in den Film eingebettet ist, fügen sich die Bilderreihen zu rührenden persönlichen Erzählungen zusammen, die ihrerseits nur Teile eines noch größeren sozialen ethnischen und sprachlichen Mosaiks der spätsowjetischen und postsowjetischen Realität sind. Im Übrigen weicht die Künstlerin gelegentlich von der analytischen Dokumentar-Optik ab und gibt der Videoreihe eine traumgleiche Note, fragil und instabil. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die unfassbare Distanz zwischen den Erinnerungen aus den Archivbildern und dem Hier und Jetzt, auf die Grenzen zwischen Gestern, Heute und Morgen und auf die dennoch existenten Bande, die die Lebensläufe der gezeigten Menschen untrennbar mit Meilensteinen der Weltgeschichte verbinden. Die Episoden aus ihrer Erzählung sind deutlich vorstellbar als Grenzmarkierungen einer Zeitleiste, einer timeline.4
Für ihre Arbeit mit den Komponenten Erinnerung und Zeit wählte Berger ganz konsequent das ihr vertraute hybride Instrumentarium der Kinematographie mit digitalisierten Videoband-Aufnahmen, statischen Abbildungen und Text. Auch Saule Dyussenbina und Katya Isaeva kombinierten in ihren Arbeiten verschiedene Medien: schablonenhafte Ornamentierung und sogenannte Angewandte Kunst mit ihrem breiten Spektrum von Materialien und Gewerbe- und Industriepraktiken bei der einen, eine Installation in Form eines räumlichen Arrangements „gefundener“ und moderierender Gegenstände bei der anderen. Es ist eine Art Poesie aus Überlagerung und Polyphonie, die in den Arbeiten der drei Künstlerinnen nachhaltig zutage tritt, formal unterstützt durch „permanent kombinierte“ Techniken.
Jedes Gespräch über Grenzen im Bereich der Kunst trifft früher oder später den wunden Punkt der westlichen Trendtheorie, wenn nämlich das Konzept der „Spezifizität des Mediums“ angesprochen wird, der Beachtung maßgeblicher Eigenschaften und Beschränkungen, die die jeweilige Kunstgattung, das Material oder die gewählte Technik vorgeben. Im vergangenen Jahrhundert bestand die Haupttriebkraft für progressive Logik in der Kunst zum einen in der Suche nach natürlichen, d. h. allein vom Material bzw. der Kunststruktur diktierten Mediengrenzen und zum anderen in der Notwendigkeit der Reinigung eines Werks von „von außen angelegten“ Methoden und Ausdruckselementen (darstellerische, narrative und multidisziplinäre Qualitäten, Ununterscheidbarkeit etc.) – man denke nur an Alfred Barrs „Stammbaum“ der Kunstrichtungen auf dem Katalogumschlag für die Ausstellung „Cubism and Abstract Art“ (1936).
Jene Epoche aber, die um das Jahr 1989 begann (d. h. gerade als jenes System zerfiel und jene Gemeinschaft endete, die viele der auf der Ausstellung „Die Grenze“ vertretenen Künstler retrospektiv thematisieren), kennzeichnet eine gewaltige Kulturwende hin zu einem anderen Blick – einem globalen Blick, offen für alternative Geschichten und „Multiple Modernities“ – und zur Akzeptanz dessen, dass Geschichtszeit verschiedene Zentren hat, die über die ganze Erde verteilt liegen, und dass sie in unterschiedlichen Tempi, Rhythmen und räumlichen Laufbahnen verläuft, die keinesfalls miteinander vergleichbar sind. Bei unvoreingenommenem Blick führt dies nicht zwangsläufig zum dominanten, vom Kunstmarkt kanonisierten Chronometer der westeuropäischen und nordamerikanischen Moderne. Doch obwohl all dies richtig ist in der Theorie, ist es doch nur schwer umsetzbar in der Praxis, in welcher sich das Wirtschaftssystem des Neoliberalismus immer expansiver entwickelt und sich unaufhaltsam über die Grenzen von Staaten und von lokalen Gemeinschaften hinweg ausbreitet, stets eifersüchtig bestrebt, die eigenen institutionellen Hierarchien zu schützen.5
Sprechen wir von den unsichtbaren Barrieren innerhalb der Kunst, kommen wir nicht umhin zu bemerken, dass zumindest im modernen Russland eine recht ausgeprägte institutionelle Polarisierung existiert, nicht nur zwischen der „traditionellen“, „realistischen“ und „klassischen“ Kunst einerseits und der „modernen“ und „aktuellen“ Kunst andererseits, sondern auch zwischen Künstlern, Kunsthistorikern, Kuratoren, Kritikern und Publikum, die sich der einen oder anderen disziplinären, geschmacksabhängigen oder weltanschauungsbezogenen Kategorie anschließen müssen, wobei die bestehenden Kategorien bei Weitem nicht einwandfrei sind und zudem bestrebt, sich voneinander abzugrenzen. Und so ist es erstaunlich, dass die Ausstellung „Die Grenze“, die in Partnerschaft mit dem Moskauer Museum für Moderne Kunst präsentiert wurde, ihren Weg in der Kunstgalerie von Surab Zereteli begann, die wiederum Teil des Museums- und Ausstellungskomplexes der Russischen Akademie der Künste ist. Sie setzte damit ein Zeichen für einen Dialog zwischen Künstler-Gemeinschaften und Generationen und wurde zur Geste, die
ästhetische Grenzen nicht in einer Stimmung des Bildersturms verwischt, sondern Anknüpfungspunkte aufzeigt.
Als Objekt der Analyse für Kuratoren birgt die „Grenze“ natürlich zweifelsfrei auch ihre eigenen, inneren Beschränkungen. Dies sind dann Grenzlinien methodischer und ideologischer Art. Doch waren es Inke Arns und Thibaut de Ruyter selbst, die diese kritisch aufwarfen. Sie beschlossen, eigens entworfene Verpackungsbehältnisse als wandelbares Expositionsmodul für jede Arbeit zu verwenden. Diese Kisten sind inzwischen zum Symbol der Ausstellung geworden. Sie ermöglichen es, spektakuläre Installationen als eigene Einheit zu errichten und vereinfachen zudem die Logistik. Gleichzeitig schaffen und kennzeichnen sie gewissermaßen „Komfortzonen“ für die Ausstellungsstücke, geben Maße und technische Konzepte vor und trennen die Werke schließlich auch klar voneinander ab. Außerdem bieten die Container vor dem Hintergrund der großen rhetorischen Frage aus dem Begleittext der Ausstellung („Wo endet Europa, wo beginnt Asien?“) einen sehr anschaulichen Hinweis auf die Praktiken kolonialer Sammelleidenschaft und transkontinentalen Handels.6
Beobachtungen dieser Art erklären sich durch die dialektische Natur des auf der Ausstellung thematisierten Begriffs: um über Grenzen zu sprechen muss man Grenzen errichten. Die Kisten, in denen die Ausstellungsstücke verpackt waren, können als bizarrer Meta-Kommentar der Kuratoren betrachtet werden; und diese versuchen gar nicht erst, die Widersprüchlichkeit des gewählten Themas oder ihres eigenen Diskussionsansatzes zu verbergen, sondern sind ganz im Gegenteil bereit, jene Grenzen plastisch hervorzuheben, die auf vielen Ausstellungen über ähnlich komplizierte und weitgefasste Themen unsichtbar bleiben. So steckt im Ausstellungsbild von „Die Grenze“ – einprägsam und vieldeutig – ein spannender und brisanter Aspekt. Es wird zum kraftvollen „Trigger“ für weitere Überlegungen, Zweifel und Erkenntnisse. Denn um eine Aussage zu treffen und Überzeugung werden zu lassen, ist es vor allem nötig, ihr deutliche Konturen zu verleihen.
Andrey Yegorov (geb. 1984): Kunsthistoriker, Kurator, seit 2012 Leiter der Wissenschaftsabteilung des Moskauer Museums für Moderne Kunst (MMOMA), korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Künste. Studierte Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Moskauer Lomonossow-Universität (Abschluss im Jahr 2006). Verfasser des MMOMA-Sammlungsführers „Kunst der neuen Medien“ (Meier, 2014).
Anmerkungen
1 In der „postsozialistischen“ Kunst sind Strategien entstanden, die das Gedankengebilde der Demokratie in ihrer modernen geopolitischen Bedeutung einer wahren Belastungsprobe unterziehen; nachzulesen in der unlängst erschienenen Monographie von Anthony Gardner Politically Unbecoming. Postsocialist Art against Democracy. Cambridge, MA, 2015.
2 Diese Dualität von Definition und Wahrnehmung der Grenze beschreibt W. J. T. Mitchell: „Es existieren grundsätzlich zwei Arten von Grenzen: tatsächliche und virtuelle, buchstäbliche und metaphorische, materielle und imaginäre. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese zunächst evident erscheinende Unterteilung in verschiedene Arten durchlässige Grenzen hat. Reale, materielle Grenzen können abgebaut werden, virtuelle und metaphorische Grenzen können Realität werden.“ Mitchell, W.J.T. Border Wars. Translation and Convergence in Politics and Media // Image Science: Iconology, Visual Culture, and Media Aesthetics. Chicago, p. 167 – Übersetzung des Autors
3 Diesen Begriff verwendet der bekannte Historiker für islamische Kunst Oleg Grabar in seinem Buch The Mediation of Ornament. Princeton, 1992.
4 Faszinierende Versuche der Visualisierung von Zeiträumen finden sich bei D. Rosenberg und A. Grafton Cartographies of Time. A History of the Timeline. New York, 2010.
5 Eine umfassende Analyse der Spaltung und Spannung zwischen der dominanten und der lokalen Geschichtszeit sowie der autonomen, ästhetischen Zeit im Erleben eines Kunstwerks ist nachzulesen bei Keith Moxey: Moxey, K. Visual Time: The Image in History. Durham, NC, 2013.
6 Eine interessante Analogie sind die drei großen Transportcontainer, die als Teil der Dauerausstellung des regionalen Zeeuws Museum in Middelburg mit dem Namen „De Wonderkamers“ („Die Wunderzimmer“) sinnbildlich die Geschichte europäischer geographischer Entdeckungen, Kolonisierung und Kollektionierung verkörpern. Der Zuschauer begibt sich hier ins Innere der Container, wo die unterschiedlichsten Artefakte aufbewahrt werden, sortiert nach den Themen „Heim und Handel“, „Leben und Tod“ sowie „Prunk und Macht“.