Die Grundlage des Textes „Five Easy Pieces“ ist die Geschichte des Kinderschänders Marc Dutroux, erzählt von Kindern. Erwachsene Schauspieler*innen laden die Kinder dazu ein, in die Rollen der Opfer, ihrer Eltern, der Eltern des Kinderschänders, der Polizist*innen zu schlüpfen. Die Geschichte der Gewalt entwickelt sich vor dem Hintergrund extremer Ereignisse der belgischen Geschichte – von der Unabhängigkeitserklärung des Kongo bis zur Großdemonstration „Weißer Marsch“, ausgelöst durch den Fall Dutroux. Das Thema Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder und des Staates gegen den Menschen wird verwoben mit dem Thema Gewalt des Regisseurs gegen die Schauspieler*innen und des Theaters gegen das Dokument. So erzählt Milo Rau, ausgehend von den gleichnamigen Klavierübungen Igor Strawinskys, vom Prozess der Geburt der Freiheit aus dem bewussten Widerstand heraus.
„DIE DINGE NOCH EINMAL LERNEN“ MILO RAU IM GESPRÄCH
Das Gespräch führte Dramaturg Stefan Bläske. Das Interview erschien im Buch: Milo Rau. Five Easy Pieces. Verbrecher Verlag, 2017. S. 8–12. www.verbrecherverlag.de
Das belgische Kunst- und Performancezentrum CAMPO ist international berühmt für seine Stücke mit Kindern für ein erwachsenes Publikum. Nach den Inszenierungen von Tim Etchells, Gob Squad und Philippe Quesne hat CAMPO Dich gefragt. Was hat für Dich den Ausschlag gegeben, mit Kindern zu arbeiten?
CAMPO fragt bewusst nur Künstler an, die normalerweise nicht mit Kindern arbeiten. Wobei ich zugeben muss, dass ich sicher die absurdeste Wahl in der bisherigen Reihe bin. Wir haben ja in allen möglichen Ländern gearbeitet, mit Laien genauso wie mit berühmten Schauspielern, mit Massenverbrechern wie mit hochsensiblen Performern, in improvisierten Sälen in Kriegsgebieten genauso wie an voll ausgestatteten Staatstheatern. Wir haben Klassiker adaptiert, Erzählstücke inszeniert, Volksprozesse organisiert — aber nie etwas mit Kindern gemacht. Ich glaube, wie bei all unseren Projekten hat die Lust an der Herausforderung den Ausschlag gegeben: Der Wunsch, etwas komplett Neues zu versuchen.
Bei „Kinderstück“ denkt man schnell an eine besonders im Performance-Bereich verbreitete Vorstellung von Kindlichkeit und Authentizität, nach dem Motto: „Kinder und Narren sagen die Wahrheit.“
Das stimmt. Wir haben natürlich im Vorfeld ein paar Recherchen gemacht und festgestellt, dass Kinderstücke immer die gleichen Register ziehen. Da geht es um Zukunftsvisionen, um die Absurdität des Erwachsenenlebens, um Authentizität, um märchenhafte Poesie. Es werden skurrile Lebensläufe erzählt, Musik wird eingespielt, Unschuld performt. Für uns war klar: Wir wollen was ganz Anderes versuchen. Wir wollen das zeigen, was man von Kindern nicht sehen will. „Five Easy Pieces“ sollte quasi ein unmögliches, ein unerhörtes Kinderstück werden.
Die Arbeit ist inspiriert von dem Fall Marc Dutroux. Der Kinderschänder gilt als Inbegriff des Bösen und meistgehasste Figur Belgiens. Welches Bild würdest Du, nach unseren Recherchen, von ihm zeichnen? Und hast Du erwogen, ihn auf der Bühne darstellen zu lassen?
Auf Dutroux als nationalen Mythos bin ich 2013 anlässlich der Castings zu „The Civil Wars“ in Brüssel gestoßen. Ich fragte damals die Schauspieler: Was ist für euch Belgien, wann habt ihr euch als Belgier gefühlt? Denn Belgien ist eine kulturell zerrissene, eigentlich eine unmögliche Nation, die im 19. Jahrhundert als Puffer zwischen Deutschland und Frankreich gegründet wurde und nie richtig zusammengewachsen ist. Die Schauspieler antworteten: Das war beim Weißen Marsch 1996 — anlässlich jener gegen die eigene Regierung gerichteten Großdemonstration im Rahmen der Affäre Dutroux.
Der wichtigste kollektive Mythos Belgiens ist Dutroux?
Beunruhigenderweise scheint es so. Wenn man dann genauer hinsieht, erkennt man tatsächlich viele Kreuzungslinien: Dutroux, der die ersten Jahre in der ehemaligen belgischen Kolonie Kongo lebte, der seine Verbrechen im heute verödeten Bergbaugebiet um Charleroi beging, dessen Prozess fast zur Implosion Belgiens und zum Aufstand der Zivilgesellschaft gegen die eigenen korrupten Eliten führte — das ist beinahe eine Allegorie auf den Abstieg der westlichen Kolonial- und Industriemächte. An ihm und durch ihn ließe sich eine Geschichte Belgiens erzählen. Dazu kommt natürlich: Jeder Belgier hat seinen Blick auf diesen Menschen, schon Kindern ist er ein Begriff. Deshalb steht er auch nicht „selbst“ auf der Bühne: Denn wie in „Breiviks Erklärung“ interessiert uns nicht der Mörder und seine Psyche, Dutroux selbst bleibt Leerstelle, Gravitationsfeld. Der Fall wird von Menschen erzählt, die wir während der Recherchen getroffen haben: Dutroux’ Vater, den Eltern eines der Opfer, von einem Polizisten u. a.
Wie kann man mit Kindern zwischen 8 und 13 Jahren solch ein Thema angehen, ist das nicht zu grausam, zu unverständlich, zu schockierend für die Kinder?
Zu unserem Team gehört — neben zwei Betreuern — auch eine Kinderpsychologin. Die Eltern sind eng in den Probenprozess integriert. Und wir haben mit wesentlichen Betroffenen der realen Affäre Dutroux Kontakt aufgenommen. Worum es der Inszenierung aber eigentlich geht, ist nicht der Horror an sich, sondern die hinter dem sehr spezifischen, letztlich erbärmlichen Fall Dutroux lagernden Großthemen: Der Zerfall eines Landes, die nationale Paranoia, Trauer und Wut, die auf die Verbrechen folgten. Das Stück beginnt mit der Unabhängigkeitserklärung des Kongo von Belgien und endet mit der Beerdigung der Opfer von Dutroux — dazwischen liegt das Verfliegen mehr oder weniger aller Illusionen, die man sich als Belgier in den letzten Jahrzehnten hatte machen können: die Illusion der Sicherheit, des Vertrauens, der Freiheit, der Zukunft. Die „Five Easy Pieces“ sind eine negative Erziehung des Herzens, und die Titel der fünf monologischen Mini-Reenactments sind denn auch entsprechend: In einem Stück beispielsweise geht es um die Verzweiflung eines Vaters, dessen erwachsener Sohn — Dutroux — zum Mörder wird. In einem anderen Stück geht es, recht direkt, um Gewalt und Missbrauch. Ein drittes Stück behandelt die wohl tiefste, dunkelste aller Emotionen — die Trauer von Eltern um ihr Kind. Alles basiert auf Originaldokumenten oder Gesprächen, die wir mit Beteiligten am Fall Dutroux geführt haben.
Der Mensch ist, wie schon Aristoteles schrieb, ein mimetisches Wesen. Kinder lernen durch Nachahmung. Was heißt es, als Kind mit der Grausamkeit der Erwachsenenwelt konfrontiert zu werden?
Am Anfang der Proben haben wir mit den Kindern Ausschnitte aus „Szenen einer Ehe“ von Ingmar Bergman nachgespielt. Das war eine seltsame Erfahrung: Denn die Kinder verstehen intellektuell und auch spielerisch, was in Bergmans menschlich hochkomplexen Szenen geschieht — ohne aber die eigentlichen Emotionen, die existenzielle Verzweiflung dahinter zu kennen. Es gibt eine Selbstverständlichkeit der Bühne, die es im Leben so nicht gibt. Für mich war das als Regisseur sehr interessant: Wie funktioniert Figurenrede mit Schauspielern, die weder über die Techniken noch über Lebens- oder Berufserfahrung verfügen, um die es in den Szenen ja geht? Wie entsteht Konzentration, Genauigkeit mit einem Ensemble, das per se nur herumrennen, herumspielen will? Deshalb der Titel, der Titel eines Piano-Lehrbuchs, also die Bezeichnung eines systematischen Lernvorgangs: „Five Easy Pieces“. Wie können Kinder verstehen, was Erzählen, was Einfühlung, was Verlust, Unterwerfung, Alter, Enttäuschung, Wut auf die Gesellschaft, Rebellion bedeutet? Und was geschieht mit uns, wenn wir ihnen dabei zusehen, wie sie das auf der Bühne herausfinden?
Du bist bekannt für Deine detailgenauen, perfektionistischen Inszenierungen. Wie passen Kinder in diese Art der Arbeit und wie viel hat das mit „Drill“ und „Dressur“ zu tun?
Es gibt ja, wie Bergman in seiner Autobiografie erzählt, zwei gegensätzliche Arten zu inszenieren. Entweder man stellt die Szenen gleich am Anfang penibel durch und gibt den Schauspielern dann alle Freiheiten. Oder man macht es genau umgekehrt, also man improvisiert bis kurz vor der Premiere und fixiert dann in der letzten Probenwoche alles. Eigentlich mag ich es, die Rahmenbedingungen zu fixieren und dann den Schauspielern die Verantwortung zu überlassen. Für „Five Easy Pieces“ aber habe ich den umgekehrten Weg versucht, wir haben in den ersten Wochen viel improvisiert. Mein Fazit: Bei Kindern funktioniert beides nicht. Oder ästhetisch ausgedrückt: Der Drill, die Dressur bleibt immer sichtbar, ganz egal, wo im Arbeitsprozess sie stattfindet. Ich habe nie ein Stück mit Kindern gesehen, bei dem das eigentliche, spürbare Thema nicht gewesen wäre, dass es einen „Regisseur“ gegeben hat, der den Kindern eben einen Rahmen gesetzt hat. Und hier wird es interessant, thematisch wie formal.
Inwiefern?
Kindertheater für Erwachsene ist — im ästhetischen Bereich und natürlich im metaphorischen Sinne — was Pädophilie beziehungstechnisch ist: Keine gegenseitig verantwortliche Liebes-, sondern eine einseitige Machtbeziehung, zu der sich der schwächere Teil, also die Kinder, verhalten müssen. Anders ausgedrückt: Beim Kindertheater für Erwachsene kommt die postmoderne Vorliebe für Medienkritik zu ihrem ursprünglichen Angriffspunkt: Sie wird wieder Wirklichkeitskritik. Theater mit Kindern zu machen, heißt Begriffe wie „Figur“, „Realismus“, „Illusion“ und eben „Macht“ existenziell in Frage zu stellen. Diesen Vorgang wollen wir auch bei „Five Easy Pieces“ zeigen, indem die „Stücke“ immer schwieriger werden: Was mit Rollenspielen beginnt — also mit der guten alten Cindy-Sherman-Frage: Wie können wir Patrice Lumumba oder den Vater Dutroux auf der Bühne nachmachen? — führt zu grundsätzlichen Fragen über inszenatorische Gewalt. Aus naturalistischer Mimikry, aus dem gruseligen Spaß am Nachäffen wird nach und nach eine Art Meta-Studie zur Performancekunst und ihren Verwandlungs-, Unterwerfungs- und Rebellionspraktiken.
„Five Easy Pieces“ ist also ein Stück nicht nur über Marc Dutroux und die Frage, wie man sich mit Kindern den menschlichen Abgründen nähert, sondern auch eine grundlegende Reflexion dessen, was es heißt, Theater zu machen?
Wir machen ja seit bald 15 Jahren Theater und Filme. Von der minimalistischen Performance über die politische Aktion bis zur ironischen Gesellschaftsrevue und dem Erzähltheater haben wir alles Mögliche gemacht — dazu Hörspiele, Videoclips, Filme, Bücher, Tribunale, Ausstellungen. Und obwohl man sich natürlich vornimmt, sich jedes Mal neu zu erfinden — irgendwann fragt man sich: Warum eigentlich das Ganze? Es war der richtige Zeitpunkt, ein Projekt zu machen, in dem es um völlig grundsätzliche Dinge geht. Was heißt es, „jemand anderes“ zu sein auf der Bühne? Was heißt „nachmachen“, „einfühlen“, „erzählen“? Wie geht man damit um, angeschaut zu werden? Wie erklärt und wie macht man das? Und diese grundsätzliche Befragung des Theaters ist ja keine intellektuelle Entscheidung: Dinge, die für erwachsene Performer völlig selbstverständlich sind, sind mit Kindern moralisch oder technisch unmöglich. Die ganzen kleinbürgerlichen Stanislawski-Tricks, den ganzen Intensitäts-Mythos der Performance-Tradition kann man wegschmeißen. Bevor wir das erste Mal zu den Proben nach Gent gefahren sind, sagte ich scherzhaft in einem Interview: Das macht mir mehr Angst als ein Trip in den irakischen oder kongolesischen Bürgerkrieg — wo wir fürs „Kongo Tribunal“ und für „Empire“ hingefahren sind. Und es war tatsächlich so.