- kein ambitionierter Essay, der ein umfassendes Modell der gegenwärtigen Theaterszene in der Schweiz, Österreich und Deutschland liefern will;
- kein analytischer Text mit detaillierter Erörterung der Gründe für die Auswahl dieses oder jenes Textes;
- keine systematische Einordnung der ausgewählten Texte nach Genre, Stellenwert oder Rating.
In diesem Geleitwort wollen wir keinen objektiven, strukturierten und festgelegten Blick auf das wechselvolle und sehr lebendige Ökosystem des deutschsprachigen Theaters werfen. Der weit schweifende Blick des Kurators über Formen und Themen versucht, das Wichtigste zu erhaschen – den Zeitgeist. Alle übrigen Faktoren – Bekanntheit wie auch Nicht-Bekanntheit der Autoren, „Verdaulichkeit“ der Texte, ihr Potenzial für die Bühne – sind zweitrangig.
Diese Textsammlung ist keine Führung durch ein Museum für zeitgenössische Dramaturgie, in dem jedes Exponat in eine Hierarchie exakt eingeordnet und beschriftet wird, sondern eher ein Waldspaziergang in der Hoffnung, dem Unbekannten zu begegnen.
Uns steht bevor, uns zu bewegen und Übergänge zu bewältigen von Feminismus und Ökologie zu Waffenhandel und Gewaltproblemen, von Lenin und Trotzki zu einer einsamen Schildkröte, von einem Drama für zwei Schauspieler zu Serienstücken, vom Versuch der Selbsterkundung zur Beobachtung der Gespräche von Tetrisblöcken.
Wir haben es hier mit Texten zu tun, die die gegenwärtige Theaterszene dokumentieren. Die Texte von Milo Rau „Lenin“ und „Five easy pieces“ ebenso wie „Versuch über das Sterben“, eine der letzten Arbeiten von Boris Nikitin, sind eigentlich nicht zur Lektüre gedacht – sie sind ein Transkript existierender Theateraufführungen. „Rimini Protokoll Situation Rooms“, ist überhaupt eher eine Anleitung für eine Theateraufführung als ein Theatertext.
Die Textsammlung enthält auch Stücke in traditionellerem Format: Daniel Kehlmanns eleganten detektivischen Dialog „Heilig Abend“; „Die Abweichungen“, das Stück von Clemens J. Setz über eine Putzhilfe und Künstlerin; „Fünf gelöschte Nachrichten“, Falk Richters Lockdown-Monolog eines Mannes. Sowie Texte quasi aus einem Paralleluniversum: die Lebensgeschichte des einsamen George, einer Riesenschildkröte, die schon einige tausend Jahre alt ist und partout nicht sterben kann – Bonn Parks „Traurigkeit & Melancholie oder Der aller aller einsamste George aller aller Zeiten“. Von Miroslava Svolikova, der Königin des Absurden, stammt das Stück „Rand“, in dem sich die Schicksale von Tetrisblöcken, dem letzten Einhorn, Mickey Mouse, Kakerlaken und einem Priester miteinander verflechten. Wolfram Höll ist der Autor des Theaterstücks „Disko“, das aussieht wie die Logdatei einer Tonspurmischung.
Erweitert wird die Theaterlandschaft noch durch Episodenstücke: Thomas Köcks „paradies fluten“ über die ökologische Katastrophe; Sibylle Bergs „UND JETZT: DIE WELT! Oder: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“ über Frauen, Gesellschaft, Moralvorstellungen, Normen, Kapitalismus.
Es fiel uns leicht, diese Texte auszuwählen, uns selbst und einander vertrauend. Natalia pickte aus der Raritätenschatulle ein Stück über eine Putzhilfe und Künstlerin heraus, die Modelle der Wohnungen ihrer Arbeitgeber bastelt und sich dann das Leben nimmt. Alexej erzählte von einem seltsamen jungen deutschen Stückeschreiber koreanischer Herkunft, Maria schickte den persönlichsten Text ihres Lieblingstheaterregisseurs. Dann nahmen wir uns Dutzende Texte vor, ließen sie alle auf uns wirken, um schließlich die Endauswahl ihrer gemeinsamen Bestimmung zuzuführen – das pulsierende Chaos historischer und künstlerischer Prozesse abzubilden. Ein Chaos, in dem es selbstbewusste und zerbrechliche Stücke gibt, aber auch Stücke, die gar keine sind.
Wir hoffen, manche Leser werden sich des Erfolgs einer Aufführung „genau dieses einzig lohnenden Stücks“ sicher sein, andere ihre Verletzlichkeit spüren und wieder andere einfach Gefallen am zeitgenössischen deutschsprachigen Theater finden.
Philologin, Übersetzerin, Dozentin an der RGGU Moskau (Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität, zuvor Koordinatorin deutschsprachiger Projekte beim Internationalen Tschechow-Theaterfestival. Seit vielen Jahren begeisterte Übersetzerin zeitgenössischer deutscher Dramatik.
Theaterwissenschaftler, Kurator, arbeitete bei den größten Theaterinstitutionen Petersburgs: beim Theaterfestival „Baltijskij Dom“ (Baltisches Haus), am Towstonogow-Dramentheater (BDT), am Alexandrinski-Theater. Programmdirektor, Kurator und Jury-Mitgliedbei einer Reihe von internationalen Theaterfestivals. Seit vielen Jahren mit wechselndem Erfolg bemüht, Institutionelles mit Informellem zu kombinieren, ist ihm anscheinend die Lust daran abhandengekommen. Sein besonderes Interesse gilt allen Grenzformen in der Kunst.
Kuratorin, Kulturmanagerin. Arbeitet zurzeit an Projekten der Majakowski-Bibliothek, des Wachtangow-Festivals für Theatermanager sowie der provisorischen Vereinigung „Chronotopos“ in Petersburg und Moskau. Versucht immer wieder, sich vom Theater zu lösen, studiert momentan „Data Science“.
Beschäftigt sich mit offenen, kritischen und riskanten Formen in der performativen Kunst, der Entwicklung kollektiver Verfahren, mit dem Thema Datensphäre sowie mit ihren Pflanzen auf der Fensterbank.