Der Text des Stücks — Uraufführung an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, 2017 — beschreibt die letzten Lebenstage Lenins. Doch im Fokus der Aufmerksamkeit des Dramatikers stehen nicht so sehr die Intrigen der Mitstreiter des Revolutionsführers hinter den Kulissen und die schrecklichen Bilder, die von seinem schwindenden Bewusstsein hervorgerufen werden, sondern die Erforschung des theatralischen Elements des Terrors und der Revolution. Die Erinnerungen der Interpret*innen der Hauptrollen sind hier nicht weniger wichtig als die dokumentarischen Materialien und Memoiren von vor hundert Jahren. Die unterschiedliche Wahrnehmung linker Ideen durch Westdeutsche einerseits und Ostdeutsche andererseits, Angst vor und Begeisterung für den Terror der RAF in den 70-er Jahren, Faszination für die Bilder der Revolution, der Protest gegen die „bürgerliche“ Kunst – die Stars der Schaubühne verwandeln dieses Biopic in einen verbissenen Debattierclub, in dem Stalin und Trotzki wie unsere Zeitgenossen erscheinen.
LENIN — ABSCHIED VON EINEM IDOL MILO RAU IM GESPRÄCH
Die Fragen stellten Stefan Bläske, Anna Jikhareva und Florian Keller. Das Interview erschien im Buch: Milo Rau. Lenin. Verbrecher Verlag, 2017. S. 11–19. www.verbrecherverlag.de
Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution. Warum ein Projekt nicht über die Revolution, sondern über den Menschen Lenin, an dem sich die Geister scheiden?
Mich interessiert gerade die so unterschiedliche Wahrnehmung von Lenin. Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Massenmörder. Es erscheinen ja gerade zahlreiche neue Lenin-Biographien: In der einen steht auf jeder zweiten Seite, Lenin sei jähzornig gewesen, habe keine Ahnung von Kunst gehabt usw. In einer anderen wird schon im Titel Lenin. Vorgänger Stalins der Mainstream deutlich, den es seit einigen Jahren in der Wahrnehmung Lenins gibt: als Prolog zu Stalin. Vor zwanzig Jahren war das noch ganz anders, da wurde mit einer gewissen Offenheit unterschieden zwischen Lenins strategischem Populismus und dem späteren Nationalismus und Imperialismus von Stalin.
Was fasziniert Sie so an Lenin?
Was mich von Anfang an begeistert hat, ist die Brutalität seines Willens — wie sich Wissenschaftlichkeit und Politik vereinigen. Dass Lenin zum Beispiel in der Schweiz Hegelstudien betreibt, um die Ideologie des Bruchs, des Staatsstreichs zu verstehen. Lenin hat, in der Zürcher Zentralbibliothek sitzend, aus Hegel geschlossen, was realpolitisch zu tun war — und dann ist er nach Russland gefahren und hat es umgesetzt, gegen seine ganze Partei. Als er die Aprilthesen veröffentlichte, hat ihn sogar seine Frau, Krupskaja, für wahnsinnig erklärt. Zudem war Lenin ein schlechter Redner, ein schlechter Journalist, ein schlechter Autor. Ich habe es nie geschafft, „Staat und Revolution“ ganz zu lesen. Das Buch ist, wie fast alle Schriften von Lenin, furchtbar langweilig, viel zu wissenschaftlich und zugleich viel zu nah dran an der Tagespolitik, rechthaberisch im unangenehmsten Sinn. Trotzki dagegen — der in LENIN der Erzähler ist — schreibt hervorragend. Er war ja in Wien Theaterkritiker, er schrieb blumig und metaphorisch, war ein wahnsinnig guter Redner. Lenin würde nicht auffallen, wenn er einen Raum betritt, er hatte kein Charisma, auch wenn es ihm später angedichtet wurde. Aber dieser unscheinbare Mann hat die vielleicht größte Revolution der Menschheitsgeschichte durchgeführt. Als er im Frühjahr 1917 nach Russland kam, existierte die bolschewistische Partei praktisch gar nicht mehr. Nur durch seine Beharrungskraft, durch sein dialektisches Ausnutzen der Situation wuchs die bolschewistische Partei vom April bis zur Oktoberrevolution auf über 100.000 Mitglieder, allein in St. Petersburg.
Warum überhaupt ein Stück über 1917 im Jubiläumsjahr?
Ich warte schon seit meiner Jugend auf dieses Jubiläumsjahr. Im Grunde ist unsere Inszenierung LENIN Teil eines Triptychons: zu LENIN gehören auch die General Assembly — unser Weltparlament mit Abgeordneten aus aller Welt Anfang November 2017 — und natürlich der Sturm auf den Reichstag, den wir genau 100 Jahre nach dem legendären Sturm auf den Winterpalast inszenieren. Aber wie bei all meinen Stücken ist der eigentliche Grund biographisch: Mein Vater war Trotzkist. Er hat mir eine Sichtweise auf die Dinge mitgegeben, die absolut antistalinistisch war. Anders ausgedrückt: Die russische Revolution war für mich immer etwas Universales, das eher zufällig etwas mit Russland zu tun hatte. Meinen allerersten Vortrag mit 13 im Gymnasium habe ich über „Der junge Lenin“ von Trotzki gehalten, ein wunderbares Buch. Damals lernte ich sogar russisch, um Trotzki und Lenin im Original zu studieren, und über die Jahrzehnte habe ich Dutzende, vielleicht Hunderte von Büchern gelesen über die russische Revolution, ihre Folgen, ihre Gründe.
Aber noch einmal: Was will man dem noch hinzufügen?
Wir haben schnell gemerkt, dass LENIN nicht eine weitere Ausstrichelung der bekannten Tatsachen, der bekannten Bilder sein konnte: die Umzüge mit den farbigen Plakaten, Lenin im plombierten Zug, Trotzki an der Front, die Revolutionslieder, der Zar, all diese popkulturellen Commons sind ja künstlerisch völlig durchgearbeitet. Natürlich haben wir das Archiv, wenn man so will, in den Vorproben mit dem Ensemble einmal von vorn bis hinten durchgeguckt und durchgespielt, aber eher, um es loszuwerden. Denn in LENIN gehen wir einen ganz anderen Weg: Das Stück versucht, ein paar Monate, im Grunde einen Tag im Herbst 1923 en détail darzustellen. Es geht um den Innendruck, der in diesem letztlich ja sehr kleinen Gremium der Kommunistischen Partei herrschte. Das kennt man ja auch von der RAF: Die Bolschewiki, das ist eine winzige Gruppe von Menschen, eine Handvoll, die seit Jahrzehnten fast inzestuösen Umgang miteinander haben. Es ist eine unglaublich paranoide, verdichtete Emotionalität am Werk. Ein andauerndes Mobbing ist im Gang, die Allianzen wechseln ständig, bis sich in der Zeit von Lenins Tod alles um die Dichotomie Stalin-Trotzki zu verhärten beginnt. Diese Stickigkeit, die an ein Altersheim oder ein Gefängnis erinnert, diese Tatsächlichkeit der Isolation Lenins in seinen letzten Monaten, die fast in Richtung eines Horrorfilms geht: das hat uns interessiert. Wie fühlt sich das eigentlich an: der Alltag einer Revolution, die am idealistischen Sinn gescheitert ist? Wenn das Hirn der Revolution krank geworden ist?
Viele Ihrer Arbeiten sind als Interventionen in eine politische Wirklichkeit angelegt. Wenn Sie nun noch nicht im Stadium einer klassizistischen Musealisierung angelangt sind — was wäre dann die Wirklichkeit, in die Sie heute mit LENIN intervenieren?
Das Interessante an 1917 ist für mich die Erkenntnis, dass es nicht bleiben kann, wie es ist. Das System ist todgeweiht, Reformen ändern nichts daran, alles muss anders werden. Das ist die leninistische Grundidee: dass man den Gefrierzustand der Gedanken, die geheime Ideologie des Kapitalismus, dass es so und nicht anders geht, sogar um den Preis der totalen ökologischen und humanen Katastrophe, auf die wir ja gerade zuschlittern — dass man mit all dem brechen muss, dass man das totale, absolute Nein dagegen setzen muss. Das interessiert uns in unserer Inszenierung: dieser Hass auf alles Halbe, Abwartende, das die Unterdrückungs- und Ausbeutungszustände schönredet. Bei Lenin hat dieser fast ins Wahnsinnige gesteigerte Hass auf den lauwarmen Humanismus der Besitzenden auch private, quasi pathologische Gründe: Gerade weil sein Wille nachlässt, weil er aus dem Zentrum der Macht rutscht, wird er zum Kritiker der Macht und gleichzeitig zum Fanatiker des Willens. Er merkt, dass er von Stalin isoliert wird. Auf seiner Datscha klingelt das Telefon nicht, er bekommt keine Briefe, keine Sitzungsprotokolle mehr, das ZK lässt ihn durch seine Sekretärinnen und seine Wachmannschaft überwachen, die Delegationen, die zu ihm durchdringen, sind abgerichtete Äffchen, die Parolen plappern. Aber wie gesagt: Diese Düsternis, dieser Pessimismus wäre ohne das gleichzeitig an der Schaubühne stattfindende Weltparlament und ohne den Sturm auf den Reichstag unerträglich und, dialektisch gesprochen, unvollständig und damit falsch gewesen. Das Weltparlament und der Sturm sind interventionistisch, LENIN hingegen ist eher eine Form Museum der Gesten und Worte. Aber wie Gramsci so schön sagte: Pessimismus des Verstands, Optimismus des Willens.
Ausgerechnet in einem Stück über die großen Revolutionäre wählen Sie eine besonders bürgerliche Ästhetik, einen Realismus fast wie in Peter Steins Inszenierung der „Sommergäste“, die ja auch an der Schaubühne entstanden ist.
Das stimmt: Wir haben Lenins Datscha auf eine Drehbühne bauen lassen, jede Regung wird mit zwei Kameras gefilmt, wir huldigen einem Extremnaturalismus, von Lenins Morgenwäsche bis zum finalen Schlaganfall. Gleichzeitig, denke ich, setzt LENIN an einem völlig anderen Punkt an als Peter Stein, der in seinen „Sommergästen“ ja tatsächlich einen Text aus der Epoche in Kostümen der Epoche in Intérieurs der Epoche nachspielt, ganz impressionistisch und hellwach sich in den Text hineinfühlend. Wir hingegen pflegen eher einen zombiehaften Umgang mit den Quellen und Texten: Es ist, als wäre das Ensemble der Schaubühne in ein alptraumhaftes Haus geraten, eben Lenins Datscha, in der die Schauspieler gezwungen sind, Lenins Ende zu spielen, in den Worten der Zeitgenossen zu sprechen, in der ganzen Klebrigkeit, Gemeinheit, Brutalität und Langeweile eines frühstalinistischen Nachmittags — die nur ab und zu durchwirkt ist von den Blitzen des Humors, der Improvisation, der Hoffnung und der Zärtlichkeit. LENIN ist eine Art Gruselfilm in historischen Kostümen. Das Dokumentarische, Naturalistische, Gefühlige, dieses überdreht Russische mit all den Förmlichkeiten, Landärzten, der Kunstbeflissenheit und den Vatersnamen, das bei Peter Stein ja so völlig 1:1 abgespult wird, ist hier nur Zutat, nicht Endzweck. Etwa so, wie man einen Lynch-Film auch zur Zeit der Französischen Revolution ansiedeln könnte: das Historische, Objektive wird im Privaten, Heimlichen angesiedelt und dadurch wieder, so denke ich, in seine eigentliche Unheimlichkeit zurückversetzt. Und hier liegt wohl auch der Grund, warum wir uns entschieden haben, das Stück von unserem Dokumentaristen, Gleb J. Albert, annotieren zu lassen: um sichtbar zu machen, was eben an der scheinbar völlig phantasmagorischen, allegorischen Erzählweise von LENIN im Kern historisch ist. Und wie man unter Vermeidung aller popkultureller Klischees bzw. durch das Spiel mit ihnen ein Historiendrama eigentlich heute schreiben kann. Und das ist auch der Grund, warum in unserem Stück der Kulturfunktionär Lunatscharski auftritt — jener Mann, der zuerst Futurist ist und dann, unter Stalin, die Retraditionalisierung der russischen Kulturszene vorantreibt. Man ist also, wenn man Lenin inszeniert, unhintergehbar beeinflusst von den bereits existierenden Bildern, den popkulturellen genauso wie den künstlerischen und den von „Wissenschaftlern“ gezeichneten.
Was war für Sie besonders einflussreich?
In erster Linie haben wir Quellen aus jener Zeit verwendet: Trotzkis Schriften, die Erinnerungen anderer Bolschewiki und ZK-Politiker die Biographie von Lenins Frau Krupskaja, dann natürlich die Aufzeichnungen der Sekretärinnen und Ärzte, der Künstler wie Gorki oder Lunatscharski, die Lenin bis zum Ende gekannt haben. Es gibt unglaublich viel Material, vor allem auch zu Lenins letzten Jahren, was ja auch nicht verwundert. Und natürlich haben wir extrem verdichtet, gerafft: Viele Gespräche, Begegnungen fanden später oder früher statt, nicht an diesem Nachmittag 1923 in Lenins Datscha. Der in unserem Stück thematisierte Shift von der Politik der Weltrevolution zum Sozialismus in einem Land, von der Neuen Ökonomischen Politik zur Kollektivierung, von futuristischen Formexperimenten zu sozialistischem Realismus und schließlich vom anarchistischen Habitus (zu dem auch die freie Liebe gehörte) zur stalinistischen Bürgerlichkeit — das alles erstreckt sich natürlich über Jahre. Und ähnlich wie in unserer Produktion „Hate Radio“, einem Stück, für das ein ähnlicher Verdichtungsvorgang stattgefunden hat, arbeiten wir mit einem szenischen bzw. kommunikativen Archetypus: bei „Hate Radio“ war es das Radiostudio, jetzt sind es die privaten Räumlichkeiten eines sterbenden Diktators. Und was das quasi-metaphysische Unheimliche des Privaten angeht, gibt es in Russland eine ganze Reihe von Meistern, von Tarkowski bis zu Sokurow, der sich in „Taurus“ dem Tod Lenins widmet. Und in Bezug auf Lenins Leben speziell gibt es natürlich Hunderte von Filmen, von Theaterstücken, die aber größtenteils in Vergessenheit geraten sind. Aber von den 30er Jahren bis in die 80er waren Darsteller geradezu spezialisiert auf die Darstellung von Lenin in all seinen Lebensaltern.
In der Inszenierung verwandelt sich Ursina Lardi in Lenin. Mit der Schweizer Schauspielerin haben Sie an der Berliner Schaubühne schon in „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ gearbeitet. Was ist der Gedanke dahinter, Lenin von einer Frau spielen zu lassen?
Lenin ist ja, wie alle historischen Figuren, zugleich Mensch und Symbol, Verkörperung — und am Ende ja einbalsamierte Ikone, eine Mumie im Kristallsarg. Die Überführung der russischen Revolution von einem Aufbruch, einer Verbindung identitätspolitischer und ökonomischer Kämpfe, einer Explosion der Herzen und einem Blutbad in ein gleichförmiges Mausoleum der Gedanken, Gesten und Leistungsgrenzen: diesen Übergang wollen wir in LENIN anhand des Kampfes Lenins (und Krupskajas) gegen die Einbalsamierung seiner Gedanken und schließlich seines Körpers erzählen. Dazu kommt eine ästhetische Sache, oder eher eine Herausforderung: Man kann kein naturalistisches Drama inszenieren, in dem die Hauptfigur Lenin eine Halbglatze hat. Das hätte Peter Stein noch machen können, heute wäre es zu albern. Oder anders ausgedrückt: Was mich gerade interessiert, auch schon in Anführungszeichen, ist eher, wie dieser Pakt zwischen Schauspieler und Figur, zwischen Erscheinung auf der Bühne und Zuschauer eigentlich zustande kommt. Das ist im Grunde ja eine politische Frage: Wie kann es sein, dass ein so gewöhnlicher, uncharismatischer Mann wie Lenin zum Führer über Millionen wird? Wie kann es sein, dass eine blonde Schweizerin einen russischen Revolutionär spielt? Und was geschieht, wenn sie sich, wie alle Figuren in LENIN, sukzessive, spielend, diesem Mann immer weiter angleicht — sich gleichsam bei der Angleichung von außen beobachtend? Wie können wir, in der Geschichte lebend und sie machend, uns selbst dabei zusehen? Was heißt eigentlich diese totale Neuerschaffung der Welt im künstlerischen Akt der Revolution — und was heißt dieses darauf folgende, genauso totale, ja physische Scheitern in der Mimikry, der Einbalsamierung des Revolutionären in seinem äußerlichen Leichnam? LENIN ist für mich deshalb ein fast schon materialistisches Drama: Auf der einen Seite ist da die Bühne, komplett zugestellt, es herrscht ein ständiges Halbdunkel, ein ständiges Rauschen, Brummen, Surren der Technik und der Natur. Und auf der anderen Seite haben wir diesen Körper, der wenig mehr als ein Körper ist — Hegel wird hier in Marx überführt, Geist in Materie, gegen den Willen Lenins. Das hat mich fasziniert: dieser totale, finstere Albtraum, in dem man quasi-gelähmt zusehen muss, wie ein Monster — in diesem Fall Stalin — sich deines Lebens bemächtigt. Das finde ich grandios, und das Morbide habe ich ja schon immer gemocht. Denn zu alldem kommt: diese Datscha hat es, anders als Twin Peaks, wirklich gegeben.
Wie hat sich Ihr Blick auf Lenin durch Ihre Arbeit an LENIN verändert? Sind Sie von der früheren Enttäuschung über die Lenin-Rezeption inzwischen bei der Enttäuschung über Lenin angelangt?
Ja, aber auf eine friedvolle Weise. Lenin war ja, bei seiner ganzen bürokratischen Vernageltheit, bei seiner ganzen Theorie- und Herrschsucht, ein sanfter, lustiger, ironischer Mensch. Seine Gespräche mit Krupskaja, mit Kollontai etwa — die zeigen einen ganz anderen Menschen, nicht immer sympathisch, in den Vorurteilen der damaligen Zeit gefangen, fast ein wenig ödipal, auch aufgrund seiner Hirnschläge, aber eben menschlich. Dem geben wir in LENIN großen Raum. Doch von dieser Menschlichkeit, die ja jeder irgendwo hat, abgesehen: Ich habe zu viel über die Details von Lenins Leben geforscht, über seine extreme Gewalttätigkeit, als dass er als ikonische Figur noch tragbar wäre. Was die Rezeption angeht, so denke ich, dass das Lenin-Bild fixiert ist, und zwar im Negativen. Für unser Weltparlament arbeiten wir ja mit Hunderten von Aktivisten, NGOs und linken und liberalen Basisgruppen zusammen. Unser erster Satz im Konzept war: „100 Jahre nach der russischen Oktoberrevolution gibt das Weltparlament den Unterdrückten, den Nicht-Repräsentierten, dem globalen Dritten Stand eine Stimme.“ Die jungen Linken antworteten darauf: „Ja, aber die Oktoberrevolution war doch eigentlich das Ende der Repräsentation, das Ende der Sowjets.“ Natürlich haben sie recht: Das erste, was Lenin und Trotzki taten, war, die Konstituierende Versammlung zu schließen und ihre Mitglieder verfolgen zu lassen. Für den sprichwörtlichen Abfallhaufen der Geschichte, auf den Trotzki Anfang 1918 die Demokratie werfen ließ, brauchte er keinen Stalin. Lenin hätte unser Weltparlament sofort schließen lassen, es wäre ihm als lächerlicher, verlogener kosmopolitischer Spießer-Traum erschienen — wie ja auch einigen unserer Experten, die wir eingeladen haben, damit sie uns aus leninistischer Perspektive kritisieren. Aber wie man weiß, gibt es zwei Wege aus dem Leninismus. Der erste führt in den frühvergreisten Kulturpessimismus, bei einigen sogar in den Faschismus. Der andere führt in den demokratischen Anarchismus. Man verlässt Lenin nach rechts oder nach links. Ich glaube, ich bin dabei, den zweiten Weg zu gehen.