Musa Okwonga: Leseprobe
In The End, It Was All About Love.
Was hat dich nach Berlin verschlagen?
Alle fragen dich das. Du reagierst lässig – du seist hierhergekommen, um vier Dinge zu tun: tagsüber zu schreiben, abends deine Freund*innen zu treffen, dich zu verlieben und verliebt zu bleiben.
Aber das ist nicht der eigentliche Grund. Du bist hierhergekommen, um zu verschwinden. Während der ersten paar Monate in Berlin bist du weitgehend unsichtbar oder wenigstens so unsichtbar, wie es ein Schwarzer Mann mit dunkler Haut in einer überwiegend weißen Stadt sein kann. Die Farben deiner Kleidung imitieren jene der Stadt: Beton, Asphalt, Gips. Du möchtest so bemerkenswert wirken wie das Kopfsteinpflaster.
Der Beginn deines Lebens hier ist verdächtig reibungslos ausgefallen. Vielleicht ahnt Berlin, dass es dich zunächst schonen sollte, dass du noch nicht kampfbereit bist. Wie durch ein Wunder mietest du die allererste Wohnung, die du besichtigst. Sie liegt im ersten Stock, in einer ruhigen Straße im zentrumsnahen Osten der Stadt; warme Holzböden und Buttermilchwände und all sowas – dein eigenes Stückchen Honigwabe. Deine Vermieterin, eine freundliche, zurückhaltende Strickdesignerin, weiß, wie schwierig es für Afrikaner*innen ist, hier eine Mietwohnung zu finden. Sie erzählt dir die Geschichte von ihren drei marokkanischen Freund*innen, alle in gutbezahlten Jobs, die einen Monat lang in Berlin zu Besuch waren und in dieser Zeit kaum die Gelegenheit erhielten, eine Wohnung zu besichtigen. Ich glaube, sagt sie lächelnd, dass meine Wohnung bei Ihnen gut aufgehoben sein wird.
Du fühlst dich hier sicher. Es ist nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, und doch haben nur wenige, die außerhalb deines Kiezes wohnen, vom dir nächstgelegenen Bahnhof gehört. Du bist hier erst seit ein paar Monaten und zu deiner Freude beginnst du bereits zu verschwinden.
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Ein nie enden wollendes Silbengestöber.
Seit du in Deutschland angekommen bist, haben viele Lebensmittel dein Interesse geweckt, aber das faszinierendste von allen ist sicher das Schnitzel. Das Schnitzel beeindruckt dich, denn es ist weniger eine Mahlzeit als ein gehöriger Angriff auf die Idee von Hunger an sich. Die dünnliche, von Semmelbröseln ummantelte Scheibe Fleisch ist ein riesiges Ding und füllt typischerweise zwei Drittel deines Tellers. Das größte, das du gesehen hast, war unwesentlich kleiner als eine Gehwegplatte.
Das Schnitzel ist österreichisch, aber die Deutschen haben es sich mit dem gleichen Nachdruck angeeignet, mit dem die Engländer ihr Curry liebgewonnen haben. Es zählt zu den etlichen Immigranten an den Esstischen Ostberlins – die jüngsten Neuankömmlinge sind italienisch, libanesisch, syrisch, kolumbianisch, portugiesisch und sudanesisch – setzt sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von ihnen ab: Man verzehrt es gewöhnlich ohne Soße. Das ist etwas, was du nicht verstehst – dieses Gericht ist kekstrocken aber viele Deutsche essen es und befeuchten es mit nichts weiter als einem Spritzer Zitronensaft.
Die erschreckende Trockenheit des Schnitzels entspricht der offenbar robusten Einstellung der Deutschen gegenüber Unannehmlichkeiten. Als du zum ersten Mal in dieser Stadt einen Kater hast, gehst du Sonntag früh auf die Suche nach Schmerztabletten, nur um festzustellen, das alle Apotheken in deiner Gegend bis morgen geschlossen haben. Es fühlt sich wie eine Strafe dafür an, dass man sich besoffen hat. Als du das nächste Mal einen Kater hast, hast du natürlich längst in Schmerzmittel investiert – aber dann stellst du fest, dass sie nicht so stark sind wie die, die es in Großbritannien zu kaufen gab, und du trotzdem erhebliche Schmerzen zurückbehältst, so als wolle man dich für deine Trunkenheit noch ein wenig leiden lassen.
Die deutsche Bürokratie lässt dich auch für sich schuften. Du hast gelernt, jede neue Verwaltungslawine als weitere Station in einem Hindernislauf zu betrachten, an dessen Ende du die Integration in die deutsche Gesellschaft erreichen wirst. Die Sprache erscheint manchmal wie ein nie enden wollendes Silbengestöber, sogar für jemanden, der sie in der Schule gelernt hat. Aber langsam, behutsam bahnst du dir deinen Weg, kümmerst dich um die Künstlersozialkasse, erlangst deine Anmeldungsbestätigung. Jeden Monat bestehst du einen neuen Test; jeden Monat schwindet der Ort, von dem du geflüchtet bist, aus dem Blickfeld.
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Du wünschtest, deine Haut wäre ein Visum.
Du wünschtest, deine Haut wäre ein Visum, denn es gibt etliche Orte, an die sie nicht reisen kann. Sie kann nicht in gewisse europäische Städte fahren, denn tut sie es, gehen womöglich einheimische Jugendliche auf sie los, die sich provoziert fühlen vom selbstbewussten Gang deiner Haut durch ihre Straßen. Sie kann gewissen Vorstandsetagen keinen Besuch abstatten, gewissen Herzen. Was für eine Zeit, um einen Migranten-Körper zu haben. Was für eine Zeit, um in diesem furchterregenden Vehikel zu leben, dieser dunklen Masse.
Was für eine Zeit, um in einem Migranten-Körper zu stecken. Als ihr in Hamburg zu mehreren in einem bestimmten Zugwaggon sitzt, eine Gruppe von Männern mit dunkler Haut und afrikanischer Herkunft, beginnst du zu denken: Sind hier zu viele von uns, als dass sie sich wohlfühlen würden? Ihr seid zu fünft und sitzt in benachbarten Platznischen. Fünf! Die anderen Männer sind Fremde, aber sie sind gerade in den gleichen Zug eingestiegen und mit ihrer Kleidung – Daunenjacken, Hosen in Übergröße und Turnschuhe – sind sie von dir nicht zu unterscheiden. Vielleicht würden sich die anderen Menschen im Wagen sicherer fühlen, wenn du dich nicht so kleiden würdest wie diese Schwarzen Männer, dass du nicht Teil einer Gruppe bist. Vielleicht würdest du dich sicherer fühlen, denn man würde dich nicht als einen von Denen sehen.
Schau dir nur an, wie du jetzt über dich selbst denkst: Afrikaner. Dunkle Haut. Migrant. Vor fünfzehn Jahren warst du einfach britisch, Teil eines allem Anschein nach florierenden Ganzen. Aber jetzt wird, mit jedem Jahr, das verstreicht, deine Identität zergliedert und jeder Bestandteil zunehmend gefährlicher.
Manchmal vergisst du, dass du in diesem Migranten-Körper steckst, und dann erinnern dich die Nachrichten daran. Du bist unterwegs von Hamburg zurück nach Berlin, müde aber in bester Stimmung, denn du hast den Tag damit verbracht, neue Musik aufzunehmen, als du bestürzendes Filmmaterial siehst, das in den sozialen Medien geteilt wird. Ein Schwarzer Mann liegt auf der Straße in einem der geschäftigsten Stadtteile Berlins und die Polizei –anstatt ihn einfach für irgendein von ihr wahrgenommenes Vergehen festzunehmen – schlägt ihn. Du schickst eine Textnachricht an eine*n Freund*in und fragst, ob ihr einen trinken gehen wollt, wenn du wieder in der Stadt bist, und wenn ihr euch an diesem Abend trefft, bittest du sehr darum, diese Nacht mit zu ihnen gehen zu dürfen, denn du willst gerade jetzt nicht allein in deiner Wohnung sein: allein mit dem Gedanken, wie sehr man dich hasst in diesem Migranten-Körper.
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Berlin ist keine Blase.
Berlin ist keine Blase. Viele werden es so nennen, sogar jene, die es besser wissen sollten. Es ist keine Blase. Eine Blase ist eine sorgfältig abgeschlossene Welt, deren Bewohner*innen nicht bemerken, was außerhalb von ihr passiert. Berlin ist etwas anderes. Es ist ein Zufluchtsort, eine Enklave, ein sicherer Hafen. Wenn Berlin deine Blase wäre, würde das bedeuten, dass du gegenüber all dem, was in anderen Teilen der Welt geschieht, gleichgültig wärst. Aber dir ist dieses Geschehen äußerst bewusst, und deswegen bist du hier. Sehr wahrscheinlich bist du hier, weil du vor den tatsächlichen Blasen unserer Gesellschaften geflüchtet bist: den kleinen Vororten und Dörfern, wo du aufgewachsen bist, wo dein Anderssein bestenfalls toleriert wurde. Sehr wahrscheinlich werden diese Orte, diese Blasen, dir übelnehmen, wie du sie jetzt siehst, werden sie deine Distanz als elitär und versnobt auslegen, anstatt darin einen lebenswichtigen Akt des Selbstschutzes zu erkennen. Diese Orte, diese Blasen, werden nicht innehalten und darüber nachdenken, was sie dir angetan haben, dass du so traumatisiert warst, du musstest bei der ersten dir sich bietenden Gelegenheit fliehen.
Berlin ist keine Blase, denn das würde bedeuten, dass es irgendeine Art von schützendem Kraftfeld um diese Stadt gäbe, und das gibt es nicht. Wenn du dir die Geschichte anschaust, wenn du dir die Stolpersteine anschaust – diese bronzefarbenen Platten, die die Türeingänge markieren, aus denen Juden*Jüdinnen verschleppt wurden – begreifst du, dass diese Stadt nicht allen Schutz geboten hat.
Hinweis: Auszug aus dem Buch In The End It Was All About Love (Englisch, Übersetzung: Marie Isabel Matthews-Schlinzig). Mit der freundliche Genehmigung des Verlags Rough Trade Books.
Musa Okwonga (geboren 1979 in London) ist ein britisch-ugandischer Schriftsteller, Journalist und Musiker. Okwanga verfasste zahlreiche Essays und Kommentare über Kultur, Rassismus, Gender, Musik, Sport, Politik und Technik. Seine Texte erschienen unter anderem in The Economist, The Guardian, The Independent, The New Statesman und The New York Times, aber auch in der ZEIT und der TAZ. Über Fußball hat er zwei Bücher veröffentlicht, sein erster Lyrikband Eating Roses For Dinner erschien 2015.
Seit 2014 lebt er in Berlin-Friedrichshain.