Sinthujan Varatharajah: Literarisches Essay
War es ein albernes Spiel oder nur eine schlimme Erinnerung?
Von Sinthujan Varatharajah
Wir waren zu viert.
Drei davon Schwestern, in derselben Stadt geboren, auf derselben Insel, durch dieselbe Familie mit demselben Nachnamen — und dennoch, zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte mit drei verschiedenen Reisedokumenten: ein sri-lankischer Pass, ein deutscher Pass und ein Reisedokument für UN-Flüchtlinge. Wir standen in einer geschäftigen Menschenmenge, alle hatten sich mehr oder weniger ordentlich vor der langen Reihe an Schreibtischen aufgereiht. Die Geschwindigkeit der Schlangen war quälend langsam. Ein paar Meter weiter vor uns teilte die Schlange sich fast organisch auf. Sie trennte sich in zwei. Wir befanden uns an so einer Stelle.
Die Szene spielte sich an einem namenlosen Flughafen ab.
Bevor wir hier angekommen waren, hatten wir ein Bett geteilt und das Auto, das uns zum selben Flughafen brachte. Die Flugtickets in unseren Händen hatten die Flugnummer gemein, den Namen der Airline und das Ziel. Selbst unsere Sitze hatten benachbarte Nummern. Und dennoch wurden wir in diesem Moment gezwungen, getrennte Wege zu gehen. Als ob wir Fremde wären.
Wir waren an einer Grenze angekommen.
Wir waren zu viert. Die Schwester mit dem deutschen Pass bog widerwillig nach links ab und reihte sich in die EU-Schlange ein. Physisch zumindest. Gefühlsmäßig hatte sie sich nicht einen Zentimeter von dort wegbewegt, wo sie Sekunden zuvor noch gestanden hatte. Mit den Augen verharrte sie in der Alle-anderen-Pässe-Schlange, wo sie ihre Schwestern mit dem sri-lankischen beziehungsweise dem Reisedokument für UN-Flüchtlinge hatte zurücklassen müssen. Ihr war sichtlich unwohl. Sie war besorgt.
Ihre Sorgen konnte man nicht zählen, vermutlich gab es dafür nicht einmal genug Finger an einer Hand, aber man konnte eine Ahnung davon bekommen angesichts der sich vertiefenden Falten, die über ihre Stirn jagten. Man konnte sie selbst von der anderen Alle-anderen-Pässe-Schlange aus sehen. Die drei Schwestern waren nur wenige Meter voneinander entfernt. Sie konnten sich noch immer ohne Anstrengung über die Abspannung hinweg miteinander auf ihrer Muttersprache, Tamil, unterhalten. Und dennoch, obwohl sie einander sehen und miteinander interagieren konnten, lagen Welten zwischen ihnen: Und eine physische Barriere unterstrich diesen Unterschied. Die EU-Schwester versuchte, über die Barriere hinweg, mit ihren Nicht-EU-Schwestern Witze zu machen. Es war ihre Art, zu versuchen, die Anspannung der anderen zu lindern. Über die Jahre hatte sie gelernt, diese besondere Gabe in jeder möglichen Lebenssituation zu meistern.
Auf den ersten Blick unterschieden sich die beiden Spuren nicht sehr voneinander. Nur wenn man genauer hinsah, konnte man beginnen, einige der Unterschiede zu verstehen. Ein sehr wichtiger war, dass sie sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegten. Während die Alle-anderen-Pässe-Schlange aussah, als ob sie einen permanenten Engpass hatte, war die EU-Spur so gut gefettet, dass die Menschen innerhalb weniger Minuten durchgespült wurden.
Die EU-Schwester stach in der EU-Schlange äußerlich hervor. Sie war nicht die einzige, der der Unterschied auffiel. Auch einige der weißen Passagiere bemerkten es und in ihren Augen zeigten sich klare Anzeichen von Irritation und Verärgerung. Es war nicht eindeutig, ob diese Gefühle dadurch verursacht wurden, dass sie sich über die Linie der Trennung hinweg in einer Sprache ausdrückte, die ihnen fremd war und daher die Richtung der Kommunikation umkehrte. Es könnte auch Irritation darüber gewesen sein, was sie überhaupt in derselben schnellen Spur wie sie machte. Vielleicht zweifelten sie an, ob sie das Recht hatte, sich in dieser Spur aufzuhalten, in derselben Spur; ob sie die Bedeutung der Spuren nicht verstanden hatte und drauf und dran war, eine Verspätung in ihrem Reiseablauf zu verursachen. Aber die EU-Schwester hatte keine Zeit, sie zu beachten. Sie wurde in die Schlange gezogen und kam dem Schreibtisch immer näher, viel schneller, als sie gedacht hätte. Es wurde schwieriger, ihre Falten zu verbergen. Aber ihre Augen waren weiterhin auf ihre Schwestern fixiert…
Obwohl ich denselben Pass hatte wie die EU-Schwester, scherte ich aus und blieb mit den Alle-anderen-Pässe-Schwestern zurück. Ich hielt meinen EU-Pass in der einen Hand und die Nicht-EU-Pässe in der anderen. Ich sah vorsichtig alle Reisedokumente der Alle-anderen-Pässe-Schwestern durch. Ihr Material, ihre Farbe und ihr Gewicht waren anders und leicht von meinem zu unterscheiden. Ich legte meinen deutschen Pass auf ihre sri-lankischen Pässe und das Reisedokument für UN-Flüchtlinge und begann, mir letzteres anzusehen: Ich ließ meine Augen über die Ablaufdaten wandern und über die vielen Sticker und Stempel. Es war eine Vorgehensweise, die wir bereits wiederholt hatten, in dem Haus, das wir teilten, im Auto auf dem Weg zum Flughafen, an Board des Flugzeugs, wo wir sie fortführten.
Alles schien in Ordnung zu sein, aber das war nicht genug für die Alle-anderen-Pässe-Schwestern. Sie blieben angespannt. Fast, als ob sie selbst nicht an die Gültigkeit ihrer eigenen Reisedokumente glauben würden. Es half nicht, dass sie kaum ein Wort Englisch sprachen. Vielleicht verschlimmerte es alles sogar. Ihre zarten Körper zitterten. Und trotzdem versuchten sie, ihre Nervosität hinter einem falschen Lächeln zu verbergen. Ein nervöser dunkelhäutiger Passagier ist kein erwünschter Passagier, sie wissen das. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber auch ich war mir nicht komplett sicher, ob am Ende alles gut ausgehen würde. Zumindest für sie.
Während die EU-Schwester diese Grenze bereits innerhalb von Minuten erfolgreich überquerte, warteten die Alle-anderen-Pässe-Schwestern und ich gegenüber, auf der anderen Seite und sahen sie dabei neidisch aus der Entfernung an. Die EU-Schwester sah uns an, mit ihrem Kopf andeutend, dass sie uns auf dieser Seite sehen würde. Der weiße Grenzwächter, der sie noch Minuten zuvor durchgewunken hatte, sah sie ärgerlich an; wie sie im Weg stand, wie sie anderen den Durchgang blockierte, während sie versuchte, mit uns in der anderen Schlange zu kommunizieren. Sie hielt die Schlange auf und verärgerte eine Reihe von weißen EU-Reisenden hinter ihr, die eindeutig nicht verstehen konnten, warum sie mit jemandem aus der anderen Schlange sprach; warum eine Familie sich auf zwei verschiedene Passkontrollen verteilte. „Wir sehen dich auf der anderen Seite“, flüsterten wir ihr zu. Sie konnte uns nicht hören.
Im Gegensatz zur EU-Schlange, war die Alle-anderen-Pässe-Schlange weniger weiß. Sie sah ein wenig so aus, wie man sich die EU vorstellen könnte. Es dauerte eine Weile, bis wir endlich an der Reihe waren, dem bleichen Mann unsere bunten Pässe zu zeigen. Der Grenzwächter ließ uns nicht als Dreiergruppe passieren. Er deutete mit seinen Fingern an, dass nur eine Person zur Zeit durchkommen konnte. Die Alle-anderen-Pässe-Schwestern waren entsetzt. Meine Übersetzungshilfe war keine Hilfe mehr. Schnell drückte ich ihnen ihre Dokumente in die Hände und schob sie vor mich. „Wenn sie etwas fragen, komme ich und helfe. Habt keine Angst“, sagte ich. Ich stand hinter ihnen. „Habt keine Angst, ich bin hier“, sagte ich in dieser Sprache, die die Grenzwächter nicht sprachen oder verstanden. Er nahm keine Notiz von uns.
Es dauerte mehrere Minuten, bevor sie beide durchgelassen wurden. Jedes ihrer Dokumente wurde gescannt, geprüft, ihre Gesichter mit ihren Passfotos abgeglichen und dann abgesegnet. Mit den Augen folgte ich ihren Schritten, bis ich selbst von dem weißen Mann gebeten wurde, weiterzugehen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich passiert hatte — wenige mehr als für einen weißen Europäer. Die Prozedur war fast dieselbe für uns alle drei und dennoch unterschied sie sich sehr in ihrer Geschwindigkeit und ihrer Qualität.
Meine Tanten warteten schon am Einwanderungsschalter auf mich. Sie standen dort, dem Anschein nach völlig verloren, fast, als wären sie von jemandem verlassen worden. Ich nahm ihr Handgepäck und ihre Reisedokumente, die ich wieder in meine Jackentasche steckte. Wir gingen auf die EU-Schwester zu, die an der elektronischen Tür auf uns wartete, die zum Abfertigungsbereich führte. Sie sah noch angespannter aus als zuvor. Als sich ihre Blicke trafen, änderte sich plötzlich bei allen der Gesichtsausdruck. Sie begannen, ein schüchternes Lächeln zuzulassen: „Wir sind durch“, sagten sie, wischten Ängste weg, die sie noch Momente zuvor besetzt hatten.
War es ein albernes Spiel oder nur eine schlimme Erinnerung?
Foto: Lilian Scarlet Löwenbrück
Sinthujan Varatharajah ist politische*r Geograph*in und Essayist*in mit einem Forschungsschwerpunkt auf Staatenlosigkeit, anti-kolonialem Widerstand und Machtgeografien. Varatharajahs Ausstellung „how to move an arche“ war Teil der 11. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst (2020) und beschäftigte sich mit dem geteilten Berlin als Transitpunkt durch das geteilte Berlin. Varatharajahs erste Publikation erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2021 im Hanser Verlag.