Gespräch
“Deutsch genug?”
Ein Gespräch mit Leila Essa, Maha El Hissy und Adrian Daub über aktuelle Debatten zu Germanistik, Kanon und dem Abbau des Hegemonialen
Euch verbindet die vergleichende Literaturwissenschaft, könntet ihr zum Anfang ein bisschen über euren Weg zu diesem Fach und zu euren derzeitigen Tätigkeiten und Forschungsinteressen sprechen?
Leila Essa: Erstmal freu ich mich, dass du uns über die vergleichende Literaturwissenschaft verknüpfst, obwohl wir auch alle drei als „Auslandsgermanist*innen“ durchgehen würden. I feel seen, as they say, weil ich wirklich zuerst Komparatistin bin. Ich hab meine Studienfachwahl wahnsinnig ernst genommen als Teenagerin, ständig stundenlang im Internet Uniseiten durchforstet und überlegt, was mich am ehesten meinem Ziel näher bringen würde, Spiegel-Chefredakteurin zu werden (lacht). Am Ende waren „War Studies with Film Studies“ und Comp Lit übrig. Zum Glück wollten mich die War Studies nicht - und zum Glück wurde mir dann auch recht schnell klar, dass ich mich nicht zwischen meinen Interessen am Weltgeschehen und an der Literatur entscheiden muss. Meine Doktorarbeit habe ich zu Gegenwartsromanen über die nationalen Teilungen Indiens und Deutschlands geschrieben, gerade im Kontext rechtsnationaler politischer Bewegungen heute. Jetzt entwickle ich ein neues Projekt zu politisch engagierten Autor*innen-Netzwerken in Deutschland und Großbritannien, rolle die alte Frage nach der schriftstellerischen Intention neu auf, indem ich Autor*innen aus marginalisierten Communities in beiden Ländern zusammenbringe – in meiner Forschung und hoffentlich bald auch wieder bei real-life Events. Mir fällt vergleichendes Nachdenken so viel leichter, als bei einem Text oder Kontext zu bleiben. Über die unerwarteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede, auf die ich dabei stoße, wird mir meistens erst richtig klar, was überhaupt das Kernanliegen meiner Forschung ist.
Maha El Hissy: Ich bin eigentlich gar keine Komparatistin. Das heißt, ich habe das Fach nicht studiert und habe auch wenig komparatistische Arbeiten geschrieben. Meine jetzige Stelle an der University of London hat aber in der Tat eine komparatistische Ausrichtung. East London, wo Queen Mary University of London sich befindet, ist bekannt für einen hohen Anteil der BAME-community (Black, Asian and Minority Ethnic). Also waren z.B. meine Muttersprache Arabisch und die Arabistik gefragt. Ich kam aber bereits vorher mit verschiedenen Disziplinen bzw. Philologien in Berührung. Neben der Germanistik habe ich Hispanistik und Arabistik an der Universität Kairo studiert und bin danach für den Masterstudiengang „Literatur und Medien“ nach Deutschland gegangen.
Meine Doktorarbeit habe ich 2010 in Germanistik an der LMU München eingereicht. Sie befasst sich mit Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstler*innen nach dem Mauerfall. Für das Fach, und damit meine ich die sogenannte “Inlandsgermanistik”, an der ich acht Jahre beschäftigt war, zählte das als Nischenthema. Vielleicht bin ich deswegen in bestimmten Situationen der Komparatistik zugeordnet worden? Als ich nach der Promotion ein Seminar über das transkulturelle Kino von Fatih Akin für Studierende der Germanistik an der LMU München konzipiert habe, sah man das Seminar besser für das Fach “Deutsch als Fremdsprache” geeignet. Am Ende fand die Lehrveranstaltung in der Komparatistik statt. Als ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, hatte sich der Begriff der Postmigration noch nicht etabliert. Der Titel meiner Doktorarbeit, der die sogenannten Bindestrich-Identitäten in sich trägt, lud dazu ein, nach Vergleichen zwischen vermeintlich separaten Einheiten zu suchen.
Meine Wanderschaft zwischen den Fächern und Disziplinen ging nach der Promotion weiter. Ich landete an der LMU in einem anglistischen Teilprojekt über schottische Nationalliteratur um 1900. Wie kommt man von deutsch-türkischen zu schottisch-englischen Verhältnissen und Angelegenheiten? In meiner Doktorarbeit habe ich argumentiert, warum und wie die postkoloniale Theorie nicht nur in historisch kolonialen, sondern auch in anderen hegemonialen Verhältnissen, zum Beispiel im deutsch-türkischen Kontext, funktioniert. Mit diesem theoretischen Werkzeug habe ich Erkenntnisse aus der schottischen Literatur ziehen können.
Meine Habilitationsschrift, die ich gerade schreibe, dreht sich um Klassiker der deutschen Literatur. Es geht um Goethe, Schiller, Kleist, um die Verschränkung geschlechtlicher, politischer und theatraler Imaginationen und um eine Vergessenspolitik der kopflosen Moderne im Drama nach der Französischen Revolution. Bis auf meinen Namen dürfte bei dieser Arbeit alles sehr inlandsgermanistisch sein.
Wie komme ich nun zur Komparatistik? Ich denke, über die Wanderschaft zwischen den Disziplinen. In wissenschaftlicher Hinsicht habe ich mich während meines zweijährigen Forschungsaufenthalts in der “Auslandsgermanistik” an der University of California, Berkeley am wohlsten gefühlt. Dort fand ich fachlich am ehesten ein Zuhause und war einfach Literaturwissenschaftlerin.
Adrian Daub: Mein Weg in die Komparatistik war relativ geradlinig (mein Weg in die Germanistik hingegen immer ziemlich kompliziert). Ich war immer an Literatur interessiert, aber wollte auch philosophische Fragestellungen, soziale Komponenten und die breitere Kulturlandschaft im Blick behalten. Gerade wenn es ums neunzehnte Jahrhundert ging, war ich immer auch an Musik, bildender Kunst, Philosophie, Populärwissenschaft, usw. interessiert. Und da bot sich, gerade in den USA, Komparatistik einfach an. Ursprünglich wollte ich über Proust dissertieren, dann Henry James, dann war kurz Faulkner angedacht. Schließlich wurden es die deutschen Romantiker und Idealisten. Alles einerseits ziemlich klassische Komparatisik, aber andererseits eben auch mit all den blinden Flecken, die die Disziplin lange auszeichneten: was meinen Kanon anging war ich flexibel, aber in jeder Version meines Dissertationsprojekts war ein toter weißer Mann die zentrale Figur.
Es war eigentlich mein Interesse an Musik, das dann die Gender-Fragen wirklich forciert hat, und meinen Kanon erweitert hat. Während ich an meiner Dissertation schraubte, schrieb ich zeitgleich ein weiteres Buch, zum vierhändigen Klavierspiel im neunzehnten Jahrhundert. Bei dem Thema standen notwendigerweise weniger kanonische Komponist*innen und Autor*innen im Mittelpunkt, stattdessen ging es um Tagebuchschreiber*innen, Klavierlehrer*innen und Autor*innen, die heute weitgehend vergessen sind. Und Fragen von Gender-Konstruktion waren natürlich unglaublich wichtig für das Kunstverständnis, den Markt und den Diskurs um Musik im neunzehnten Jahrhundert. Und umgekehrt ist Musik auch eines der Foren, in denen Gendernormen ihre Gestalt und ihre Plausibilität erhalten.
Ich glaube, ich bin komparatistischer geworden, indem sich meine Fragen verändert haben und mein Kanon mit ihnen. Mich haben Fragen, die man anhand von Proust, Faulkner oder auch Friedrich Schlegel ausreichend beleuchten kann, tendenziell weniger interessiert. Es ging mir immer mehr um Diskurse, Denkfiguren und Problemstellungen, bei denen über Grenzen hinweg gedacht und gelesen werden musste. Bei denen das scheinbar Marginale es erlaubt, die Geschichte von Literatur, Musik, und Philosophie anders zu erzählen.
Kanon ist ein sehr gutes Stichwort, schließlich kommen immer wieder Diskussion über den Nutzen und die Limitationen eines literarischen Kanons auf. Wie blickt ihr als, wie Leila sagt, Auslandsgermanist*innen, die vornehmlich nicht-deutsche Studierende unterrichten, auf die deutschsprachige Kanondebatte? Und wie verhaltet ihr euch dazu als Menschen, die ja selbst gewisse Marginalisierungserfahrungen mitbringen?
Maha El Hissy: Vielen Dank für diese wichtigen Fragen. Wessen Kanon? Und wer führt die Debatte über den Kanon in Deutschland? Das Umdenken des Kanons soll ja Raum für Themen und Narrative öffnen, die nicht nur mit weißen, cis, hetero, able-bodied Personen beschäftigt sind. Sind marginalisierte Personen an der Kanondebatte beteiligt, die homogene Strukturen durchbrechen? Wenn in Deutschland von neuen Perspektiven die Rede ist, dann bedeutet das für viele das Entdecken vergessener Frauenliteratur – und damit meine ich in erster Linie: Literatur von Frauen, die der oben genannten Norm entsprechen: weiß, heterosexuell, etc. Werden dadurch Strukturen nicht mehr reproduziert als durchbrochen? Entsteht hier nicht eher eine Rangliste, die etablierte Hierarchien wiederholt? Funktioniert das Denken jenseits eines etablierten Kanons nicht wieder über den Ausschluss von anderen Stimmen? Das stellvertretende Sprechen über andere Geschichten und andere Narrative entspricht genau der Norm, gegen die das Umdenken des Kanons eigentlich gerichtet ist.
Leila Essa: Ja, immer mal ein neuer als progressiv gefeierter Kanon und wenn jemand den oder seinen Entstehungsprozess dann auch als homogen kritisiert, kommt das selten gut an: irgendwo müsse man schließlich anfangen. Aber wie Maha sagt, gibt es klare Hierarchien und angefangen wird dann doch meist beim theoretischen und praktischen Miteinbeziehen weißer Frauen. Außerhalb Deutschlands habe ich Kanon-Diskussionen hauptsächlich im Zuge von “decolonise the curriculum” miterlebt – also direkt mit einem anderen Fokus. Praktisch reproduzieren sich da aber natürlich trotzdem ausschließende Strukturen, gerade in einer so weiß besetzten Disziplin wie German Studies. Wenn zum Beispiel weiße Wissenschaftler*innen begeistert miteinander darüber diskutieren, wer von ihnen wann welche Schwarzen Autor*innen und Autor*innen of colour “entdeckt” hat, klingt das weniger gut als es wohl soll.
Adrian Daub: Ich würde einwerfen, dass es auch immer eine Frage ist, mit welcher Funktion diese Texte in einen Seminarplan, eine Dissertation oder einen Sammelband einfließen. Ich finde es z.B. immer ermüdend, wenn queere Autor*innen nur sozusagen dabei sind, um ihr Queer-Sein (oder besser noch Queer-Sein “an sich”) vertreten zu dürfen. Und diese Funktionalisierung kann noch einmal ausschließende Strukturen eher verstärken als dass sie sie abschwächte.
Das ist interessant, gerade auch mit Blick auf die Art und Weise, wie in gegenwärtigen Debatten über Identität und Marginalisierung gesprochen wird. Kannst du das kurz ausführen, worauf diese Verstärkung aufbaut? Gerne auch am Beispiel des Queer-Begriffs.
Adrian Daub: Naja, die Sorge wäre die, dass sich Queerness nicht mehr durch eine oppositionelle politische Praxis definiert, sondern einfach etwas ist, was – um beim Kanon und in der Literaturwissenschaft zu bleiben – Autor*innen eignet und sie zu Repräsentanten “ihrer” Gruppe qualifiziert. Intersektionalität ist ja genau dazu entwickelt worden, um da gegenzusteuern. Im Fall von Literaturseminaren oder Kanondebatten würde ich wiederum auf die Funktionsfrage verweisen: warum ist dieser Text hier? Wenn er sozusagen “die Frauen-Woche” oder “die LGBT-Woche” im Seminarplan abhaken soll, dann liegt auf der Hand, dass bei aller Bemühung um Diversität eigentlich nur Erasure dabei rauskommen kann.
Maha El Hissy: Ich frage mich deswegen: Welche Debatten würde man führen, welche Literaturen würde man lesen, welche neuen Perspektiven tun sich auf, wenn marginalisierte Personen am Umdenken des Kanons beteiligt sind? Zur “Dekanonisierung” sowie der “De-Erasure” von Personen aufgrund ihrer Hautfarbe hat sich Bonaventure Ndikung, der das Haus der Kulturen der Welt leiten wird, neulich geäußert. Und weil Adrian die Musik ins Spiel gebracht hat, denke ich jetzt an einen Begriff, den die Postcolonial Studies aus der Musik entlehnt haben: contrapuntal readings. Edward Said wollte mit diesen kontrapunktischen Lektüren oder Analysen auf unzertrennliche, ineinandergreifende Geschichten aufmerksam machen, auf Gegenstimmen und auf die Perspektiven der Anderen, die Hegemonien durchbrechen und damit hierarchische Strukturen aufheben. Die Methode, die nicht nur in den postkolonialen Studien anwendbar ist, schafft Räume für Re-Lektüren und ein Denken jenseits eines festgelegten Zentrums. Und es handelt sich um ein fluktuierendes Umdenken, das dynamisch und immer neu verhandelbar ist. Spätestens nach Black Lives Matter werden mehr Frage dringlich. Warum bleiben die Black German Studies aus? Wieviel afrodeutsche Literatur wird gelesen? Wo bleiben die Diaspora Studies oder die Postmigrantischen Studien? Welche Literatur wird zitiert, wenn man zum bestehenden Kanon arbeitet? Hat man Perspektiven aus dem Globalen Süden, vor allem aus afrikanischen Ländern, einbezogen, als man angefangen hat, über race und Rassismus in Texten der Aufklärung zu sprechen? An den weltweiten Debatten über die Dekolonisierung von akademischen Curricula hat sich Deutschland nicht beteiligt. Die Germanistik hat sich enthalten. Ich merke, wie ich mehr Fragen als Antworten habe.
Leila Essa: Der “decolonise the curriculum” Drive wurde ja wirklich von Studierenden getragen und laut gemacht – ist das in Deutschland weniger passiert oder hatte es nur weniger Einfluss? In German Studies Seminaren hier in Irland merke ich auf jeden Fall immer wieder, wie sehr sich die Studierenden für post- und dekoloniale Perspektiven begeistern und dass sie es aktiv willkommen heißen, wenn man Curricula aufbricht und ergänzt.
Adrian Daub: Auch bei uns hat die Dekolonisierung des Kanons mit den Studierenden zu tun, insbesondere den Doktorand*innen. Es sind ihre Interessen und Gewichtungen, die da enormen Vorschub geleistet haben. Wir Lehrenden spüren schmerzhaft, dass unsere Ausbildung uns nicht unbedingt gut auf diese Fragen vorbereitet hat – obwohl wir natürlich fast alle im Studium mit postkolonialer Theorie zu tun hatten.
Aber zumindest an meiner Universität ging der Impuls auch auf weniger direkte Weise von den Studierenden aus: Es gab früher einmal (insbesondere an der amerikanischen Ostküste und im mittleren Westen) die Situation, dass German Studies den Großteil seiner Absolvent*innen aus einer ganz bestimmten Gruppe rekrutierte: nämlich Studenten, die entweder mit deutsch sprechenden Eltern oder Großeltern aufgewachsen waren, oder zumindest in dem Bewusstsein German American (oder Jewish American, aber aus dem deutschsprachigen Raum) zu sein. Und die wollten eben gerne „ihre“ Kultur kennenlernen, und dafür war German Studies da. Unser Fach war also, etwas drastisch gesagt, Identitätspolitik für weiße Deutsche.
Das hat sich mittlerweile verschoben: das Profil unserer Majors ist nicht mehr das von vor zwanzig Jahren. Und natürlich hat sich das Erscheinungsbild jener deutschsprachigen Menschen, mit denen unsere Student*innen auf dem Campus zusammentreffen, stark verändert. Und in dieser Situation wurde die Weiß-heit des Kanons zu einem enormen Problem. Da konnte es schon mal vorkommen, dass einem afrodeutschen Studenten von einer amerikanischen Person of Color gesagt wurde, er “sehe nicht besonders deutsch aus.” Die Kids haben sozusagen dieselbe Presumptive Whiteness, die sie in den USA sofort kritisiert hätten, im deutschen Kontext als unproblematisch supponiert. Und teilweise eben gerade wegen dem Bild Deutschlands und seiner Kultur als Monolith, die wir in unseren Kursen präsentiert haben. Und da wollten ich und meine Kolleg*innen halt nicht als Helfershelfer dienen.
Maha El Hissy: Ich habe einen sehr ähnlichen Blick auf German Studies in meinem Department wie Deinen, Adrian. Ich war sehr überrascht zu sehen, dass das Curriculum vor allem die Namen Marx, Nietzsche, Brecht, Freud, Kleist und Heine ins Zentrum stellt. Es ist ein weißer, männlicher Kanon, den England importiert hat. Es stimmt schon, dass die Dekolonisierungsdebatte von Studierenden initiiert wurde. Unsere Student Society Decolonise QMUL ist sehr aktiv, wobei die Arbeitsgruppe immer wieder auf unveränderbare Strukturen stößt. Eine Sache fand ich an ihrer Decolonise-Forderung besonders wichtig: Sie haben den Klassismus immer in die Debatte miteinbezogen. Dies scheint tatsächlich mit der Lage der Uni in East London zu tun zu haben, das als weniger posh gilt als andere Stadtteile von London. Das Department an Queen Mary musste zum Beispiel schnell auf die Kritik reagieren und die Initiative aufgreifen, nachdem die Uni letzten Sommer wegen mangelnder Berücksichtigung der Dekolonisierung im Guardian kritisiert wurde. Ich muss aber auch sagen, dass die Diskussion in England sich nur auf die Inhalte und die Textlektüren fokussiert und weniger auf die Tatsache, dass BAME-Wissenschaftler*innen beispielsweise in den Literaturwissenschaften fehlen. Wer dekolonisiert hier? All-white Departments.
Adrian Daub: Es ging uns nicht darum, den Kanon auf Teufel komm raus zu erweitern, aber zumindest für mich machte es sehr Sinn, die Grenzen dieser Kanonkonzeption aufzuzeigen und zu zeigen, dass es in Deutschland noch ganz viel andere Kultur gibt, die die Student*innen kennen sollten – queere Texte, Texte von Frauen, Texte von BPoC, Texte, die nicht auf Deutsch sind, aber auch Musik und Genres, die nicht in einer traditionellen Germanistik Platz hätten, in einem Uni-Seminar aber halt doch. Genau wie Leila beobachte ich, dass eine solche Erweiterung von Seiten der Student*innen sehr begrüsst wird. Dass sie es verlangen würden, habe ich noch nicht erlebt. Was an sich auch bemerkenswert ist – ich hätte da längst mehr Kritik erwartet, aber da sind die Student*innen bisher äußerst nachsichtig.
Das wäre, sagen wir, die positive Lesart. Die zynische hingegen wäre natürlich, dass die Disziplin sich einen dekolonisierten Anstrich verpasst, ohne aber an den etablierten Machtstrukturen wirklich zu rütteln. Und häufig fällt auch auf, dass die Departments zwar diverser werden, aber vor allem weil sie anderen Disziplinen gegenüber offener sind. So ist z.B. Tiffany Florvils grandioses Buch Mobilizing Black Germany zwar eindeutig German Studies, aber kommt eben von einer Historikerin. Das birgt das Risiko, dass unsere Debatten zwar diverser werden, aber das Verständnis dessen, was angeblich den Kern von German Studies ausmacht, dabei nicht tangiert wird.
Und ich sollte dazusagen, weil Du, Asal, ja auch unsere eigenen Marginalisierungserfahrungen mit in die Frage eingebunden hast, dass ich mich in dieser Hinsicht als Teil des Problems sah und sehe. Denn als weiß gelesene Person ohne Migrationshintergrund (naja, ohne Migrationshintergrund, der in der deutschen Nomenklatur als solcher zu Buche schlüge) bin ich natürlich nicht unbedingt der beste Gegenbeleg gegen die “presumptive whiteness” der German Studies. Weit gefehlt: Ich bin noch so ein Arztsohn mit Bildungsbürgernamen und runder Brille. Und so wichtig mir LGBTQIA-Perspektiven auch sind, und so sehr ich sie betont sehen möchte: wenn es denn eine “presumptive cisheterosexuality” im deutschen Kanon gibt, dann ist das meines Erachtens ein weitaus diffuseres und geringeres Problem, als die “presumptive whiteness.”
Leila Essa: “Presumptive whiteness” – ich habe schon viel über die merkwürdig überschwänglich überraschte “oh you’re not German-German?”-Reaktion nachgedacht, die mir im Uni-Kontext manchmal begegnet. Fast, als solle ich dieses komplette Ignorieren von Aspekten wie beispielsweise meinem Namen als positiv auslegen und als sage dieses Ignorieren nichts über die Erwartungshaltung aus, wer da mit im selben Raum sitzen könnte. Aber wichtiger ist mir natürlich, genau wie dir, Adrian, die eigene Position mitzudenken: Es ist kein Zufall, dass ich mit diesem Durchgehenkönnen mit im Raum sitze und andere nicht. Der momentane diversity drive in German Studies bei, genau, unveränderten Machtstrukturen hat auf jeden Fall oft einen schalen Beigeschmack. Ich möchte wirklich nicht, dass sich eine ansonsten weiße Gruppe als divers feiert, nur weil sie mich noch mit reingeholt hat. Und genauso wenig möchte ich einem white gaze ausgesetzt sein, der zu messen versucht, ob mein “Diversitätsgrad” für die verspätete Legitimierung einer solchen Gruppe reicht. Zum Glück gibt es aber auch in der Wissenschaft ganz andere Gruppen und zwar solche, die aus Solidarität entstanden sind und sich nicht erst im Nachhinein darum bemühen.
Aber da sind wir ja auch schon beim Schreckgespenst der importierten Debatten, das ja auch gezeichnet wurde, als der offene Brief der auf die Nominierungen des diesjährigen Leipziger Buchpreises reagierte. Ihr drei habt den Brief mitunterzeichnet. Er nutzte zum Anlass, dass unter den fünfzehn Nominierten keine Schwarzen Autor*innen und Autor*innen of Colour waren, um die Ausschlüsse des deutschen Literaturbetriebs zu thematisieren und Ansätze vorzuschlagen, wie ihnen wirksam begegnet werden könne. Die Kritik am Brief schoss sich recht schnell darauf ein, dass viele der Unterzeichnenden im Ausland lebten und unterrichteten. Wie habt ihr das wahrgenommen? Und wie bewertet ihr diese Vorstellung importierter Diskurse und Theorien, die schädlich auf deutsche Universitäten wirkten?
Maha El Hissy: Ich kann mich erinnern, dass ich mehr über die Kritik am Brief twittern musste als über den Brief selbst. Die Kritik hat mich ziemlich schockiert. Zum Offenen Brief muss man vielleicht zunächst sagen, dass es sich um einen Text handelt, in dem eine Hand ausgestreckt wird und die Unterzeichnenden konkrete Vorschläge für den Literaturbetrieb machen, den wir als #AllzuWeiss bezeichnet haben. Eine Möglichkeit wäre ja, dass die Rezeption des Briefes sich mit dem Inhalt und den konkreten Vorschlägen befasst. Stattdessen, so scheint mir, hat man eine Liste von Namen herunter gescrollt und die Kritik schnell abgetan, da viele der Unterzeichnenden an ausländischen Universitäten arbeiten. Im Prinzip hat die Kritik am Brief Personen wie mich ausgebürgert. Zu Anfang habe ich versucht, meine Position und meine Unterschrift zu rechtfertigen und schrieb z.B. auf Twitter darüber, dass ich deutsche Staatsbürgerin bin und meinen Wohnsitz in der Bundesrepublik habe. Ich habe aber im Nachhinein viel über diese Rechtfertigung nachgedacht. Muss ich, Expertin für Literaturwissenschaft und für deutsche Literatur, Deutsche sein oder in Deutschland wohnen, um Kritik am deutschen Literaturbetrieb zu äußern? Ich bin außerdem der Meinung, dass ich – und andere Unterzeichner*innen – schnell ausgeschlossen oder als nicht-dazugehörig betrachtet wurden, da unsere Namen nicht deutsch genug klingen. Und auch hier merke ich, wie ich etwas Privates – meine Staatsangehörigkeit – ausstellen muss, um zu begründen, warum mein Name auf der Liste der Unterzeichner*innen steht. Das ist absurd. Mir brennt die Frage auf der Zunge, was diese notion of Germanness meint. Ab wann wird man deutsch genug? Zählen der Name? Der Wohnsitz? Ausweispapiere? Der deutsche Arbeitgeber? Und warum soll das eine Rolle spielen, wenn wir, Expert*innen für deutsche Literatur, uns zum Literaturbetrieb äußern?
Adrian Daub: Die Reaktion hat mich schon ein wenig geschockt, aber dann wieder auch nicht: diese Art Überreaktion auf das, was Maha, meines Erachtens ganz richtig, gerade als “ausgestreckte Hand” bezeichnet hat, scheint derzeit in Deutschland, wenn es um Diversity und Inclusion geht, ziemlich gut eingeübt. Und auch die Vorstellung, dass da was aus “dem Ausland” aufoktroyiert werde, ist natürlich ziemlich klassisch. Ich mache einmal im Jahr eine Vorlesung in Stanford, die etwas ironisch “Germany in 5 Words” heißt – “Ausland” ist eines der fünf Worte, und die zwei Wochen, die wir darauf verwenden reichen kaum aus die metaphysische Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken dieses Begriffs durchzudeklinieren. Und wenn man sich anschaut, wie Gender Studies in Deutschland (auch nach französischem Muster) als anglo-amerikanische Verschwörung diffamiert wird, dann merkt man schnell, welche ziemlich alten (und ziemlich gefährlichen) Muster da aktiviert werden. Also, ich würde sagen da treffen sich guter alter deutscher Provinzialismus, Identitätspolitik für Deutsche “ohne Migrationshintergrund” und etwas sehr viel Gruseligeres.
Leila Essa: Ja, dass gerade diese Abwehrreaktionen so oft wie schlecht auf deutsch synchronisierte Versionen der talking points prominenter right wing Kommentator*innen “aus dem Ausland” klingen – oh well. Im Zusammenhang mit der Dynamik, die Maha beschreibt, kam auf Twitter auch der Impuls auf, dass die Liste der Unterzeichnenden auch Anlass für interessantere Fragen hätte sein können: Wieso nicht darüber nachdenken, dass gerade Wissenschaftler*innen, deren Namen auch diesmal als Ausschlusskriterium für die Kategorie deutsch gelesen wurden, sich für Stellen im Ausland entschieden haben? Für meine eigene wissenschaftliche Laufbahn spielte das keine Rolle, weil ich bisher ohnehin noch nie im deutschen Uni-System war, aber andere haben es bewusst verlassen. Dank der unermüdlichen Arbeit von Leuten wie dir, Maha, schauen die Medien auf die Erfahrungen von marginalisierten Menschen in der deutschen Wissenschaft ja im Moment im Zuge der #IchBinHanna-Aktion zumindest ein wenig mehr.
Ist für euch etwas aus dem Brief und der Diskussion erwachsen, das ihr als positiv empfunden habt? Seht ihr generell Entwicklungen, die euch Hoffnung geben oder euch in eurem Fach motivieren?
Adrian Daub: Ich will jetzt nicht den weißen Dude geben, der hier am Ende doch alles positiv sieht, aber: es ist doch klar, dass solche Veränderungen in einer Disziplin aus hunderttausenden Einzelentscheidungen bestehen: was gelesen und unterrichtet wird, was auf Leselisten und Kanonlisten kommt, und das entscheidet ja dann irgendwann (hoffentlich), wofür es Professuren gibt usw. Das ist alles nicht automatisch, aber nur weil die Reaktion erst einmal negativ ausfällt, heißt das ja nicht, dass Einzelne nicht umdenken. Denn in Kanonfragen fängt ja Umdenken erst mal mit Merken an: es fällt einem auf, dass der eigene Kanon (oder die eigene Fakultät!) sehr monochromatisch ist und fühlt sich angesichts dessen zu Veränderung angespornt. Das heißt für mich nicht, dass ein Brief wie dieser falsch war oder verpufft ist, sondern dass es immer wieder solche Aktionen geben muss.
Maha El Hissy: Ich denke auch, dass ein gewisses Umdenken in einigen Fällen zu spüren ist. Natürlich wünsche ich mir öfters, dass manches schneller läuft, von größeren Gruppen getragen wird, nicht auf viel Widerstand stößt, aber langsam tut sich etwas auf. Die größte Entwicklung, die ich gerade erlebe, sind die Allianzen, die sich bilden. Immer mehr Personen bekunden ihre Solidarität, setzen sich gemeinsam gegen hegemoniale Strukturen ein und wünschen sich einen grundsätzlichen Wandel. Ich muss jetzt an zwei Texte denken, die ich in letzter Zeit gelesen habe und mich – bzw. wahrscheinlich uns – eine ganze Weile begleiten werden: Shida Bazyars Roman Drei Kameradinnen und Fabian Wolffs Essay Judentum: Nur in Deutschland. Es gäbe sicherlich mehr Beispiele, aber ich habe diese zwei gerade präsent. Der Titel von Bazyars Roman reflektiert ein kleines ‚Wir‘, das in schweren bis katastrophalen Situationen zusammenhält und nur auf diese Weise Gravierendes aushält. In Fabian Wolffs Text geht es zum Beispiel auch explizit um Gemeinschaften und Bündnisse, die sich im Kampf gegen Rassismus formieren. Diese Formen von Solidarität, die dynamisch sind, machen mir Hoffnung. Und das sind zwei Texte, die ich sicherlich auch im Seminarraum behandeln werde.
Leila Essa: Besonders hoffnungsvoll finde ich, dass diese Bildungen von Allianzen sich nicht von Uni-Strukturen begrenzen lassen, dass es dabei auf gegenseitiges Getting It ankommt, nicht auf institutionelle Zugehörigkeit und Position. Ich denke, Aktionen wie der offene Brief machen es neben allen anderen wichtigen Gründen und Effekten auch einfacher zu sehen, mit wem man sich gern zusammen tun, mit wem man wachsen möchte – selbstverständlich gerade auch durch Differenzen. So müssen wir die hunderttausend Einzelentscheidungen, die die großen Veränderungen ausmachen, nicht alleine abwarten oder fällen. Und bei all dem lernen sich sowohl Wissenschaftler*innen als auch Autor*innen und Organisers kennen, und viele, auf die mehrere oder alle diese Beschreibungen zutreffen. Es entstehen Konstellationen, in denen die politische Dimension von Literatur nicht erst mühselig durch “ja/nein/vielleicht” erörtert werden muss, sondern direkt ganz andere Gespräche stattfinden können. Und natürlich entstehen neue und wichtige literaturwissenschaftliche Erkenntnisse – aber eben auch noch viel mehr.
Im Gespräch mit Asal Dardan:
Leila Essa ist Literaturwissenschaftlerin am Trinity College Dublin, wo sie innerhalb der Germanic Studies lehrt. Nach ihrem Studium in London und Cambridge hat sie am King's College London zu Gegenwartsliteratur über geteilte Nationen promoviert und konnte währenddessen mehrere Gastaufenthalte an der Jawaharlal Nehru University in Delhi verbringen. Jetzt forscht sie zu postmigrantischen Autor*innen-Netzwerken in Deutschland und Großbritannien. Neben ihren Beiträgen zu wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sind ihre Texte auf Zeit Online erschienen – und auf Twitter schreibt sie unter @LeilaEssaI.
Adrian Daub ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Universität Stanford (USA). Er ist Direktor des Michelle R. Clayman Institute for Gender Research und forscht, lehrt und publiziert zur Literatur und Kultur des neunzehnten Jahrhunderts, zu Gender-Fragen und zur Geschichte der Sexualität.
Maha El Hissy studierte Germanistik in Kairo, Bayreuth und München. Seit September 2020 ist sie Lecturer in German and Comparative Cultural Studies an der Queen Mary University of London. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.