Das poetische Europa

Beate Tröger Foto: Sabine Schirdewahn & Christian Dinger

Das Lyrikmagazin Örnan och kråkan startete in diesem Jahr die Gesprächsreihe Poetiska Europa, deren Auftakt sich mit der zeitgenössischen Lyrik in Deutschland beschäftigte. In Anlehnung an die Auseinandersetzung mit der modernen deutschen Poesie verfasste Literaturkritikerin Beate Tröger ein Essay, in dem sie Lyriker*innen vorstellt und einen Überblick über die Szene gibt.


 

Beate Tröger studierte Germanistik, Anglistik und Theater- und Filmwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und an der FU Berlin. Sie schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Zeit online sowie für Hörfunk.
 

übrigens, ich habe begonnen, schlimmes zu wollen.
das trifft dich nicht mehr. aber mich trifft es.
ich werde von unterschiedlichen altern durchquert.
in keinem davon macht mir irgendwas etwas aus.
daher sehe ich alles genau so, wie es ist. konturen.
innerlich ausgegossen, vollgesogen mit gift, mit honig,
mit zorn und vor ergebenheit fickrig. keiner versteht.
nur die frauen verstehen. die frauen sind gut.
die frauen sind sogar sehr gut. die frauen sind
auch sehr schön. die frauen haben schöne seelen.
die frauen tragen schöne schuhe. die frauen
werden immer mit mir sprechen. die frauen bleiben,
wenn sie auch das land verlassen. die frauen sind da.
[…]

Monika Rinck: WAS MACHEN DIE FRAUEN AM SONNTAG?

Fragen der Perspektive
I
Die deutschsprachige Gegenwartslyrik beeindruckt mit ihrer Vielfalt an Themen, Tonfällen, Sprachgesten und formaler Spannbreite. Zu beobachten ist ein rege Publikationstätigkeit, eine lebendige Lesungskultur und eine differenzierte Verlagslandschaft, deren Aktivität im Fall der literarischen Königs- und ökonomischen Bettlerdisziplin Lyrik seit etlichen Jahren besonders von Kleinverlagen ausgeht. Im Februar 2024 kritisierte die Berliner Verlegerin Daniela Seel das zögerliche Interesse an Uljana Wolfs neu erschienenem Gedichtband „muttertask“ und fragte: „Gibt es überhaupt noch eine Literaturkritik in diesem Land? Geht diese Entwicklung weiter, wird es in 5 Jahren keine ,Lyrikverlage‘ mehr geben.“ Tatsächlich war die Resonanz auf Wolfs Band bisher verhalten. Doch ganz möchte man Seel hier nicht beipflichten, denn obwohl von Spardirektiven bedroht, existiert noch immer eine vielstimmige Reflexion auf Lyrik in der publizistischen Landschaft in Tageszeitungen, an Universitäten und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Dieser Essay konzentriert sich inmitten einer bei allen Schwierigkeiten insgesamt noch immer lebendigen Lyriklandschaft anhand von Bänden von nach 1980 geborenen Schreibenden, die in den vergangenen beiden Jahren erschienen und von denen zwei auch eher wenig oder garnicht besprochen worden sind, auf Aspekte, die Fragen aus dem Gedicht von Monika Rinck zuspitzen: „Was machen die Frauen am Sonntag“: Wie und als was verorten sich die sprechenden Instanzen in Gedichten im Hinblick auf Weiblichkeitsmuster? Wie wird über Sprache gesprochen, wie das Verhältnis des Ichs zur Welt, wie über Familien-, Freundes- und Liebesbeziehungen? Welche Affekte stehen im Vordergrund?

Damit wird auch einer Anthologie aus dem Jahr 2020 Tribut gezollt, die intensiv diskutiert wurde: „Frauen êLyrik. Gedichte in deutscher Sprache“ der Literaturwissenschaftlerin Anna Bers. Frauen | Lyrik enthält mehr als 500 Gedichte aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart und versteht sich als Beitrag zur noch immer unterpräsentierten Literaturgeschichte von, mit, über und gegen Frauen. Bers arrangiert die Gedichte unkommentiert in chronologischer Reihung. Sie schlägt vier Blickwinkel auf das Phänomen Frauen | Lyrik vor, bei der sich benachbarte Gedichte widersprechen oder in ihrem Bedeutungshorizont bereichern können. Durch die chronologische Anordnung der Gedichte werden Kontraste, Lücken, Brüche hergestellt, Dialoge angeregt und Fragen aufgeworfen. Zur Wahl der vier Perspektiven „Kanonische Texte von Frauen“, „Emanzipatorische Texte“, „Literaturgeschichtlich typische Texte von Frauen“, „Weibliche Perspektiven in den Gedichten von Autoren“ bemerkt Bers: „Sie sind nur so lange als Abbild einer viele Jahrhunderte alten Lyrikgeschichte relevant, wie Gedichte schreiben und Gedichte lesen für männer und Frauen unterschiedlichen – genauer: ungerechten – Voraussetzungen unterliegen. In einer Welt, die mehr als zwei Geschlechter kennt und die Künstler*innen aller Geschlechter die gleichen Chancen einräumt, sollte dieses Buch nur noch ein Beleg für Überkommenes sein.“

Bers‘ performative Anthologie wurde in zahlreichen Kritiken gefeiert und auch im akademischen Feld breit rezipiert. Die Literaturkritikerin Insa Wilke sprach auf Deutschlandlandfunk Kultur in ihrer Rezension „Eine Anthologie als Debattenbuch“ von einem „Epochenwerk“, sie nannte den Band „ein kulturgeschichtliches Porträt, eine Zäsur, was geschlechterspezifische Betrachtung von Autorschaft angeht“. Der Literaturwissenschaftsprofessor und Kritiker Christian Metz kam in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Schluss mit dem Ideal der artigen Dame“ zu einem vergleichbar positiven Urteil. Der 2023 verstorbene Kritiker Michael Braun dagegen, jahrzehntelang die Galionsfigur der deutschsprachigen Lyrikkritik, kritisierte bei aller Anerkennung, die er dem Band zuteil werden ließ, in einem Gespräch mit Insa Wilke und dem Autor, Kritiker und Übersetzer Jan Wilm als gendertheoretisch „beinhart“ und machte dies unter anderem fest an Bers‘ Äußerung: „In einem weiten Verständnis ist außerdem jeder Text, der nicht von einem Cis-Mann geschrieben wurde, so lange ein emanzipatorischer Text, wie Frauen und andere Geschlechter nicht in einem gerechten Maß in der Publikationslandschaft registriert werden.“

Dieser Kritik möchte sich dieser Essay nicht anschließen. Im Gegenteil regt das produktive, progressive, ja provokative Moment von Bers‘ Anthologie in einer Weise zum Nachdenken an, dass die Wahl des Schwerpunktes maßgeblich auch auf dies Anthologie zurückgeht. Denn wenngleich sich Frauen inzwischen im Literaturbetrieb deutlicher behaupten und präsentieren, bleibt interessant, wie sie die eingangs umrissenen Fragen im Medium der lyrischen Sprache verhandeln.

Auch in diesem Essay werden die Bände in der Chronologie ihres Erscheinens dargestellt, anders als in Bers‘ Projekt werden sie jedoch, nicht zuletzt aufgrund der wenigen ausgewählten Positionen, kommentiert. Die vorgestellten Autor*innen sind nicht mit Gedichten in Bers‘ Anthologie vertreten, doch wären Gedichte von Ricarda Kiel (*1983), Lisa Goldschmidt (*1993) und Sirka Elspaß (*1995) ohne weiteres darin denkbar. Denkbar gewesen wären auch Gedichtbände von Sandra Burkhardt (*1992), Katja Sophia Ditzler (*1992), Mara Genschel (*1982), Dagmara Kraus (*1981), Frieda Paris (*1983), Rike Scheffler (*1985), Sibylla Vričić Hausmann (*1979) oder Judith Zander (*1980), um nur einige zu nennen. In ihrem Schreiben setzen diese Autor*innen etwas fort, das in der deutschsprachigen Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg in Gedichten von beispielsweise Ingeborg Bachmann (1926-1973), Christa Reinig (1926-2008), Ursula Krechel (*1942), Barbara Köhler (1959-2021), Ulrike Draesner (*1962), Monika Rinck (*1969), der Autorin und Verlegerin Daniela Seel, die sich auch als Verlegerin des Kookbooks Verlages leidenschaftlich für Lyrik einsetzt (*1974) oder Uljana Wolf (*1979) in Gang gehalten wurde: den im Medium des Lyrischen verhandelter Diskurs über weibliche Identität insbesondere unter dem oder auch gegen das Klischee „Mutter“ bzw. „Frau“ und entsprechende Momente des Angriffs oder der Dekonstruktion damit verbundener Stereotypen.

II
Ricarda Kiel (*1983) dichtet und ist im Bereich Webdesign tätig. Auch eine Goldschmiedeausbildung ist unter den beruflichen Qualifikationen Kiels zu finden. Um die eigene Genderneutralität zu betonen, steht unter den E-Mails von Kiel:

„Ich verwende ri als Pronomen („Mag ri dunkle Schokolade?“ – „Oh ja, das ist ris Lieblingssorte“). Anreden kannst du mich zum Beispiel mit „Hallo“ oder „Hi“ oder „Ahoi“ oder jeder anderen genderneutralen Anrede, die dir gerade einfällt.“

Auch der Gedichtband „Tante Alles“ findet Strategien, binäres Denken zu unterlaufen. Sein Titel spielt mit der Wendung „Mädchen für alles“, die im Deutschen eine Person bezeichnet, die für alle Arbeiten zu gebrauchen ist, in der Regel für nicht qualifizierte Tätigkeiten. Bezeichnenderweise gibt es zum „Mädchen für alles“ kein männliches Pendant.

Indem Kiel aus dem „Mädchen für alles“, die „Tante Alles“ macht und „Alles“ substantivisch gebraucht, erfährt die Idee der universellen Einsatzfähigkeit einer ungelernten weiblichen Person eine Um- und Aufwertung. Tanten stehen meist zu mehreren Familienmitgliedern in Beziehung, haben mit unmittelbarer Sorgearbeit, die der Mutter im Verhältnis zum Kind traditionell zugeschrieben wird, wenig zu schaffen. Die Tante ist ausgestattet mit der „Freiheit sich zu verschwenden“, wie mit der „Freiheit sich zu binden“. „Tante ist die andere Seite von Mutter“, heißt es. Ihre Rolle kennzeichnet eine freie Wahlverwandtschaft, sie erlaubt Anarchie, Schrulligkeit, Extravaganz, Distanznahme und Nähe. Solidarität und Diskretion zeichnen sie aus, sie leistet Beihilfe zum Bruch mit Mustern:

„Tanten bringen Nüsse
aber das ist nur Ablenkung
[…]
Tanten beobachten Mütter und ergänzen sie

damit niemand alleine perfekt sein muss
brechen wir die Verantwortung wie ein sehr krümeliges Brot
ein kilometerlanges Brot“

Der Ton der Gedichte ist unprätentiös. Eine andere als die Geschlechterdichotomie wird motivisch eingesetzt: die von Leere und Fülle bzw. Gefülltsein, es ist die Dichotomie von Mutterschaft, dem Verzicht oder dem Unvermögen, es zu werden. Weiblich zu sein kann bedeuten, voll zu sein: Voll von Blut, Milch, von Eiern, die befruchtet werden können. Es kann andererseits Leere bedeuten, wenn Kinder ausbleiben. Diese Leere kann aber wiederum produktiv gefüllt werden.

ich kann sagen mach mal hinne Gebärmutter
und sie kann antworten hier bin ich ich lieb dich
und trotzdem leer bleiben
so ist es leer so ist es voll so ist es wieder leer

Die Offenheit, mit der Kiels Gedichte Weiblichkeitsmuster, -bilder, und zugehörige Projektionen unter die Lupe nehmen und für Zuschreibungen, Konventionen und die biologis(tis)chen Dimensionen dieser Muster eine Sprache finden, schließt an Texte der zweiten Frauenbewegung an, die sich für eine Selbstermächtigung von Frauen einsetzten. Kiels Band kommt aber ohne Essenzialismen aus. Stereotypen von Weiblichkeit werden unterwandert von märchenhaften, surrealen Momenten, wie etwa Gespräche mit einer Krähe, dem Unglücks- und Todesvogel, mit der sich das Ich identifiziert und zwischendrin zum Habicht mutiert. In ihrer Ambivalenz als Naturwesen und Kunstgeschöpf wird die Krähe zur verfremdeten Projektionsfläche des Ichs und symbolisiert auch eine mutmaßliche Fehlgeburt.

Andererseits ist eine mal leise, mal ostentative (Selbst-)Ironie im Ton der Sprecherinstanz hörbar, mit der die Binaritäten aufgebrochen und ausgehebelt werden, vor allem aber in Wandlungsfähigkeit und der schöpferischen Potenz, mit der sich „Tante Alles“ selbstbewusst in ihrer Freude über ihre Autonomie und in ihrer Trauer über Verlust und Einsamkeit ausstattet und aus der heraus die Gedichte entstehen:

Ich hielt jahrelang
Gedankenkindern die Händchen
und einmal trug ich etwas
das ein Kind hätte werden können
und eine Weile danach
gebar ich mich selber neu
ich bin jetzt eine männliche Tante
und ein weiblicher Onkel
und eigentlich ein Mond
der jede Nacht woanders aufgeht.

III
Einen anderen Ton schlagen die Gedichte von Lisa Goldschmidt an. Goldschmidt, 1993 in Freiburg im Breisgau geboren, wechselte von einem Studium der Freien Kunst zum Fach Psychologie. Sie lebt heute als Dichterin und Psychotherapeutin in Ausbildung in Wiesbaden. In ihrem zweiten Gedichtband „Ursprünge“ (2023), der auf „Tage Fragmente“ (2019) folgt und aus vier Kapiteln besteht, wirft sie mit Rückgriff auf Konzepte der psychoanalytischen Theorie Fragen nach Grenzen und Möglichkeiten der (poetischen) Sprache auf. Dies gilt insbesondere für den titelgebenden Zyklus „Ursprünge“. Die Gedichte fokussieren auf Übergänge zwischen Körper und Sprach- bzw. Textkörper, auf das Somatische.

Der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel hat 1974 im Aufsatz „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ dargelegt, dass wir nie wissen können, wie es sich beispielsweise für eine Fledermaus anfühlt, Schmerzen zu haben. Wir können es selbst dann nicht, wenn wir wissen, was in deren Gehirn im Moment der Schmerzempfindung vor sich geht. Eine völlige Assimilation an bzw. die Adaption der Perspektive ist auch zwischen Artgenossen nicht möglich. Nagel bemerkt: „Das Problem ist nicht auf exotische Fälle beschränkt; es besteht nämlich auch zwischen zwei Personen. Der subjektive Charakter der Erfahrung einer taub und blind geborenen Person ist mir z. B. nicht zugänglich, und wahrscheinlich ihr auch der meinige nicht. Dies hält keinen von uns davon ab zu glauben, dass die Erlebnisse des anderen einen subjektiven Charakter haben.“ Bewusstsein bleibt also an eine ganz bestimmte Perspektive gekoppelt. Ob es einem Außenstehenden möglich ist, sie einzunehmen, sich ganz in sie zu versetzen, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden.

Vor diesem Hintergrund setzen sich Goldschmidts Gedichte ins Werk. „Ursprünge“ beginnt mit einer Geburt bzw. mit einer Phantasie über die Vorgänge im Körper während einer Geburt:

„selbstvergessenheit, die in den zellen dieses körpers verborgen liegt,
die niemals erwacht, wenn sich ihr erbe verdoppelt“.

Vonstatten geht eine Annäherung an einen pränatalen Zustand, indem imaginiert wird, was ein Kind im Mutterleib wahrnimmt:

„ein körper, der blind in einem andren heranreift, was spürt er?
er hört die stimme der mutter, die singt: nein, gar nichts,
nein ich bedauere nichts.
dieses nichts dringt ein ins vakuum des bauches.
mit einer hand, die sie darauf legt,
berührt sie die fremde in sich.“

heißt es im dritten Gedicht. Im von der Mutter in deutscher Übersetzung nachgesungenen Chanson von Edith Piaf „Je ne regrette rien“ das „rien“, verwandelt das „Nichts“ in ein paradoxes, das als Nichts in das Vakuum des Bauches eindringt. Eine doppelte Negation liegt vor, besser gesagt, eine reziproke: Wie die Mutter das ungeborene Kind als zugleich extrem nah und fern/fremd empfindet, so ist auch das Wesen im Inneren vom Außen vollkommen abhängig und zugleich von ihm geschützt.

Das in den Bauch eindringende Nichts im Gedicht kann als sich herausbildendes Bewusstsein aufgefasst werden. Dieses befindet sich wie der Uterus, der noch nichts von der Welt jenseits des Mutterleibs weiß, zunächst noch in relativem Dunkel, in völliger Abhängigkeit von dem Körper, der ihn nährt, schützt und hervorbringen wird, auf seine unabhängige Menschwerdung wartet. Gleich dem Uterus, der aus der Hülle drängt, kommt das Bewusstsein zur Sprache.

Goldschmidt begreift ihr Schreiben auch als Gegenbewegung zu ihrer therapeutischen Praxis. Derzeit setzt sie sich in dem in Entstehung befindlichen Langgedicht. „Narben, Stille und ein Gesicht“ auseinander mit der Situation der Analytikerin im Verlauf einer Analyse. Die Rolle des Analytikers wird durch die Spiegelungen im Anderen unter Umständen gefährdet. Aus dem fremden Schmerz des Analysanden kann ein schöpferisches Moment erwachsen:

Wie sich einsammeln, sich besinnen, wo eine Narbe
über den Rücken
der Stille wächst. Eine Narbe
wie eine Unterschrift, geschrieben von einer Hand, die nichts
mehr hält und
die Zeit wie ein Reptil in die Öffnungen des Körpers kriecht. Sie
höhlt ihn aus und brütet
bis ein Hügel aus meinem Inneren erwächst als M u t t e r b a u c h.

IV
In dem 2022 erschienenen Lyrikdebut „ich föhne mir meine wimpern“ von Sirka Elspaß sucht die sprechende Instanz nach Koordinaten, die ihr dabei helfen fertig zu werden mit der Wut über die Geworfenheit der eigenen Existenz, mit dem Schmerz, den es bedeutet, als eine in ihrer Rolle oft verunsicherte Frau in der Welt zu sein.

In vier Kapiteln, von denen Mutter I und Mutter II auf ein problematisches Mutter-Tochter-Verhältnis fokussieren, setzt dieses Ich sich in Beziehung zu den Phänomenen des Alltags in einer analogen und digitalen Welt, in der sich ein Widerspruch zwischen Überhütetheit und Kontrolle und dem Risiko jeder Existenz abzeichnet:

und wenn die welt von anfang an genau so wäre
wie sie wirklich ist wer würde bleiben wollen ich sicher
nicht und wenn die welt nicht wüsste wie man
zu kindern ist:

ein kind sitzt mit helm im kinderwagen
es hat keine lust mehr roller zu fahren
es fragt was schlimmer ist
beine brechen oder arme

Auch hier wird das Schreiben zur Strategie der Selbstbehauptung:

„es ist so schwer ein mensch zu werden / aber ich will es unbedingt.“

Die Forderung nach Unbedingtheit hat in der Dichtung Tradition. Novalis‘ berühmter erster Satz aus dem Blütenstaub-Fragment lautet: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ Elspaß‘ Gedichten wohnt noch etwas von der romantischen Sehnsucht eines Novalis inne, die Dingwelt erweist sich als ein steter Stachel im Fleisch, erweitert um die paradoxerweise ungreifbare Dingwelt innerhalb des digitalen Raumn.

Elspaß, die Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien u. a. bei Monika Rinck studiert hat und heute in Wien lebt, setzt sich in ihren Gedichten prononciert mit den neuen Nähe- und Distanzverhältnisse auseinander, die verbunden sind mit der Nutzung dieser Medien und social media-Kanälen, die die Autorin Elspaß selbst regelmäßig bespielt:

jetzt steht da eine stille
die der videocall nicht überbrücken kann
es ist unmöglich
sich in die arme zu fallen wir würden
stürzen
ich ziehe eine menge pullover
übereinander an es hat etwas seltsames
sich gegenseitig dabei zuzusehen wie
wir die mikrofone testen

Die Testhaltung, die in diesem Gedicht beschrieben wird, erinnert an einen Aufsatz Walter Benjamins. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935) dachte er nach über den Verfall der Aura als „einmaliger Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag“, und darüber, wie die Reproduktion des Kunstwerks dessen Einmaligkeit und die damit verbundene Wirkung aushebelt.

Im potenziell unendlichen Raum des Digitalen, der in Elspaß‘ Gedicht im Rahmen eines Videocalls betreten wird und damit auch auf eine durch die Corona-Pandemie beförderte Kulturtechnik anspielt, wird die physische Nähe zwischen Individuen unterminiert. Was Benjamin über das Film schrieb, dass nämlich die Einfühlung des Publikums in den Darsteller über den Apparat von Projektor und Leinwand vermittelt stattfindet, kann auf die Situation des Video-Calls übertragen werden. Die Testhaltung, die im digitalen Raum aus dem Zusammenfallen des Eindrucks von Entfernung bzw. Körperlosigkeit und dem Umstand, ein leibliches Wesen zu sein, wird hier als „seltsam“ attributiert. Immer wieder finden sich in Elspaß‘ Debütband Wendungen, die auf die entfremdete Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit zielen:

„einen körper zu haben bedeutet enorme verantwortung“,

In extremster Distanznahme zum eigenen Körper und hoch schambehaftet heißt es Blick auf eine verletzende Missbrauchserfahrung, die in digitalen Foren zwar überspielt werden kann, doch bestehen bleibt:

„so I ask google the thing you do not ask in public
how to curse your rapist?
es gibt foren dazu.“

Affekte wie Scham und Einsamkeit, die in „ich föhne mir meine wimpern“ und schneidend in Verse gefasst sind, werden Alltag vom sprechenden Subjekt stark empfunden. Doch mit seinem Sprechen hält es dagegen mit Humor und einem Pochen auf Nähe und Nahbarkeit:

„niemand steht über den dingen   
wir alle stehen mittendrin.“

So gelingt es dem Gedichtband auch ein jüngeres Publikum anzusprechen, das der„digital natives“, die permanent mit medial vermittelten Körperbildern und Identitätsentwürfen umzugehen haben.

V
„es ist so schwer ein mensch zu werden / aber ich will es unbedingt“, heißt es bei Elspaß. Die Utopie einer Welt, die mehr als zwei Geschlechter kennt und die Künstler*innen aller Geschlechter die gleichen Chancen einräumt, die ein Unterscheiden verzichtbar macht, die Anna Bers in „Frauen ½ Lyrik“ skizziert hat, ist noch immer ein U-topos, ein Nicht-Ort. Doch tragen die vorgestellten Bände dazu bei, diesen Ort sichtbar zu machen. Sie sprechen von Zweifeln, aber auch von Solidarität, zeugen von Sensibilität und schöpferischer Kraft und befördern kritische Hinterfragen des derzeitigen Status quo im Blick auf Geschlechterverhältnisse und Rollenmuster differenziert und auf undogmatische Weise. Sie zeigen, welche Ambivalenzen entstehen, wenn emanzipatorische Ansätze umgesetzt werden. Nicht nur Bers‘ Anthologie, auch die hier vorgestellten Bände stehen vor dem Dilemma, Zuschreibungen, die dekonstruiert werden sollen, noch einmal derart zu perpetuieren, als sie herrschende Stereotypen zunächst benennen oder zumindest voraussetzen zu müssen, um sie dann aufzubrechen.
Vor ähnlichen Ambivalenzen stehen auch die sprechenden Instanzen in den Bänden jüngerer postmigrantischer Lyriker*innen, wie in den in schneller Folge und im self publishing veröffentlichten Bände von Lütfiye Güzel (*1972), dem Band „Mein Prinz ich bin das Ghetto“ von Dinçer Gücyeter (*1979), in „Gedanken zerren“ von Özlem Özgül Dündar (*1983) oder „Prinzenbad“ von Ozan Zakariya Keskinkılıç (*1989), um nur einige Beispiele zu nennen. Doch auch hier ließe sich erkennen, wie tief bei aller Skepsis letztlich doch das Vertrauen in die Möglichkeiten lyrischen Sprechens reicht.


Zitierte Bände:

Anna Bers: Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache: Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anna Bers Stuttgart (Reclam) 2020

Sirka Elspaß: ich föhne mir meine wimpern. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022

Lisa Goldschmidt: Ursprünge. Nettetal (Elif Verlag) 2023

Ricarda Kiel: Tante Alles. Gedichte. München (hochroth Verlag) 2022

Monika Rinck: zum fernbleiben der umarmung. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2007
 

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