Viktor Hilgemann: Einleitung
Der Wert von Übersetzungen
Von Viktor Hilgemann
Leute, die immer im Original lesen. Menschen, die sich aus Prinzip deutsche oder englische Originale von Büchern bestellen, die gerade in schwedischer Übersetzung aktuell sind. Die einen nahezu sportlichen Ehrgeiz entwickelt haben, eine Kunstform daraus gemacht haben, bei der Weihnachtsfeier mit forschendem Interesse den Freund des Kollegen zu verhören, wie er den neuen Daniel Kehlmann fand. „Also ich hab ihn ja grad auf deutsch gelesen. Fantastische Sprache, ganz viel Tiefe. Schwer zu übersetzen. Wie bei Verfilmungen halt: Man ist doch immer enttäuscht, wenn man vorher das Buch gelesen hat. Aber natürlich großartig, dass es so auch Menschen lesen können, die das Original nicht verstehen.“
Ja, solche Leute gibt es.
Kann sein, dass ich auch lange so einer war.
Den echten Wert von Übersetzungen, oder besser: ihren eigenen Wert, habe ich auch erst erkannt, als ich durch Studium und Arbeit selbst in die Verlagswelt kam. Einerseits eine große Erleichterung. Und andererseits eine Schande, jahrelang so viele wunderbare (Mit-)Autorenschaften von Übersetzer*innen ignoriert zu haben.
Inzwischen weiß ich es besser und habe größten Respekt vor deren sprachkünstlerischen sowie handwerklichen Leistungen. Dörte Hansens Mittagstunde in schwedischer Übersetzung von Anna Hörmander Plewka, Pieke Biermanns deutsche Übersetzung von Oreo (Fran Ross), Frank Heiberts Übersetzung von Zazie in der Metro (Raymond Queneau) und Miriam Mandelkows Neuübersetzungen von James Baldwin gehören für mich zu den großen Leseerlebnissen der letzten Jahre.
Ein persönlicher Favorit ist auch ein kleiner Band (auf Schwedisch herausgegeben von Ellerströms, leider nicht mehr lieferbar) von Rose Ausländer (Drömmen har öppna ögon), die ich tatsächlich erst auf Schwedisch für mich entdeckt habe. Einige der Übersetzungen treffen und berühren mich auf eine Art, die das deutsche Original nicht vermag – richtig erklären kann ich es nicht.
Der Name Ausländer klingt in diesem Zusammenhang fast programmatisch und ihr Werk zeigt eine weitere brandaktuelle Dimension von Übersetzungen: das Übersetzen im Sinne von Vermittlung zwischen verschiedenen Identitäten, Zugehörigkeiten, verschiedenen Kulturen und Perspektiven, verschiedenen Wahrheiten. Haben wir nicht alle einen ständigen Bedarf, (Kon)texte zu übersetzen und übersetzt zu bekommen – jetzt mehr als je zuvor?
Ich glaube, Literarturübersetzungen spielen dabei eine Rolle und tragen Verantwortung. Sie zeigen und reproduzieren gesellschaftliche Entwicklungen genau wie andere literarische und künstlerische Äußerungen, und genau wie diese sind die Grundlagen der Übersetzungspraxis immer wieder Gegenstand von Diskussion und Neuverhandlung. Eine solche Neuverhandlung existiert als Begriff und Diskurs seit den 1980er Jahren und wird derzeit mit neuer Vehemenz diskutiert: Postkolonialismus und die Ambition, das koloniale Erbe in unserer Welt, unserer Sprache, und damit auch Literaturübersetzungen, aufzuarbeiten.
Dieses Schwerpunktthema ist mein Versuch, einige (von vielen) relevanten Aspekten zu Übersetzungen, Übersetzerhandwerk und Buchhandel zu sammeln und damit hoffentlich Interesse und Freude am Lesen von Literaturübersetzungen zu fördern.