Nina Thielicke
Wer spricht? Postkolonialismus und Literaturübersetzung
Lotta hat Geburtstag. Ihre Familie kommt morgens mit einer „Torte und Lichtern“ in ihr Zimmer. Lichter? Das schwedische „ljus“ kann „Licht“ und „Kerze“ bedeuten. Eine nachlässige Übertragung von Astrid Lindgrens Visst kan Lotta cykla (dt.: Na klar, Lotta kann Rad fahren), die sich jedoch leicht erklärt und niemandem wehtut. Aber wie verhält es sich, wenn in Pippi in Taka-Tuka-Land (1948) der „N*könig" auftaucht? Kann eine sprachlich richtige Übersetzung moralisch falsch sein? Inwiefern muss sich eine heutige Übersetzung zu einem rassistischen Denkmuster, wie es mit dem N-Wort reproduziert wird, positionieren?
Von Nina Thielicke
Wer spricht? Das Sprechen der Autor*innen wird beim Literaturübersetzen in andere Sprachen übertragen – mit der Stimme der übersetzenden Person. Wieviel eigene Stimme haben Übersetzer*innen, wenn die Sprache des Originals bewusst oder unbewusst koloniales Erbe transportiert, wo können oder sollten sie eingreifen, und was ist schon Zensur? Die Übersetzungsentscheidungen sind nicht einfach: Viele Begriffe haben unterschiedliche kulturell-historische Konnotationen, wie etwa „race“ und „Rasse“. Für sprachliche Besonderheiten wie Dialekt oder Slang muss eine Entsprechung gefunden werden (etwa andere Soziolekte oder eine Kunstsprache, anstelle von nord- oder süddeutschem Dialekt für afroamerikanisches Englisch wie z.B. in früheren Mark Twain-Übersetzungen), und schon kleine sprachliche Unterscheidungen können größere politische Dimensionen markieren (z.B. „Flüchtlinge“ vs. „Geflüchtete“).
Literaturübersetzer*innen agieren im Schatten der Autor*innen, die sie übersetzen – und doch tragen sie viel Verantwortung: Nicht nur soll das Werk inhaltlich möglichst treu (oder „loyal“) gegenüber dem Original in die Zielsprache gebracht, auch stilistische Besonderheiten müssen abgebildet werden. Zugleich wird erwartet, dass eine gute Übersetzung kulturelle Unterschiede sichtbar macht und vermittelt, ohne zu fremd oder angepasst zu klingen. Im Kontext der aktuellen Debatten über gerechte, inklusive und diskriminierungsarme Sprache sitzen Übersetzer*innen häufig zwischen den Stühlen: Zu den Stimmen des Originals und der eigenen Sprache kommt die Mit-Sprache des Verlags.
Selten waren Übersetzer*innen so sichtbar und medial präsent wie 2021, als die Übersetzungen zu Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb ausgiebig diskutiert wurden. Im Vordergrund stand meist die Frage „Wer darf was?“ – „darf“ eine weiße Dichterin das Buch einer jungen afroamerikanischen Autorin übersetzen? Nach heftigen Kontroversen, die von den Social Media ausgingen (ursprünglich formuliert als verpasste Chance, eine Person of Colour zu verpflichten), zog sich die niederländische Übersetzerin Marie Lucas Rijneveld aus dem Übersetzungsauftrag zurück; dem katalanischen Übersetzer Victor Obiols wurde der Auftrag vom Verlag wieder entzogen. Zielführender als spaltende identitätspolitische Debatten ist es, mit der Frage „Wer spricht?“ an das Thema heranzugehen – und zu differenzieren: Wer spricht aus einem Text, aus welcher Perspektive, aus welchem Kontext, aus welcher Zeit, was ist zwischen den Zeilen zu lesen, welche Erfahrungswelt spricht aus einer Figur, und: Wieviel Weltgeschichte erzählt manchmal ein einzelnes Wort?
Der Titel von Reni Eddo-Lodges Buch Why I’m No Longer Talking to White People About Race wurde 2019 in der Übersetzung von Anette Grube zu Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche. Dass die Entscheidung für den Begriff der „Hautfarbe“ anstelle von „Race“ fiel, wurde von einigen kritisiert, von anderen wiederum gelobt. Und als der mit dem Booker Preis gekürte Bestseller Girl, Woman, Other von Bernadine Evaristo im Deutschen den Titel Mädchen, Frau etc. erhielt, gab es Unverständnis für die Verwendung von „etc.“ als Entsprechung für „Other“ (auch wenn die Übersetzerin Tanja Handels sich den Titel von der Autorin hatte freigeben lassen – und auch sonst viel Lob erhielt). Zwei Beispiele für eine Debatte, die – in Zeiten von Cancel Culture – hitzig geführt wird.
Sprache ändert sich, das hat sie schon immer getan. Und mit ihr wandelt sich das Denken. Die postkolonialen Diskurse zu Sprache als Instrument der Macht und Mittel der Ermächtigung führen zu einer anderen Wahrnehmung der Herkunft und Bedeutung bestimmter Wörter, zu einer Sensibilisierung für sprachliche Diskriminierung durch sexistische oder kolonialistische und rassistische Begriffe – und zu alternativen sprachlichen Ansätzen.
Für Übersetzer*innen ist dieses Bewusstsein Teil ihres Berufes – kann doch auch Literaturübersetzung als eine einzige kulturelle Aneignung empfunden werden. Zu ihrer Arbeit gehört auch, einzelne Wörter auf die Frage „Wer spricht?“ hin zu untersuchen – was bedeutet ein Begriff wie „farbig“, wieso wird er abgelehnt, und von wem? Den (historischen) Kontext kennen, ihn imitieren können, viel lesen und recherchieren: das gehört zu diesem Beruf dazu, ebenso wie das Wissen darum, dass jeder Status Quo ständig neu hinterfragt werden muss.
Übersetzer*innen müssen entscheiden, ob sie den Begriff „Zigeuner“ oder das N-Wort in der Zielsprache stehenlassen können (was in historischen Romanen, bei einer Selbstbenennung oder in der direkten Rede vielleicht leichter fällt), oder ob sie eine der Bezeichnungen bevorzugen, die von den Vertreter*innen der zugehörigen Gruppen selbst vorgeschlagen werden („Sinti und Roma“/„Sinti*zze und Roma*nja“ oder Gruppennamen). Sie prüfen mitunter, ob sie die im Angloamerikanischen verbreitetere Großschreibung des Adjektivs „Schwarz“ als Bezeichnung von Hautfarbe auch im Deutschen übernehmen sollten: Die einen stützen sich auf die grammatikalische Begründung, dass im Englischen im Gegensatz zum Deutschen auch Adjektive zur Religionszugehörigkeit („Jewish“) großgeschrieben werden (und also die Großschreibung von „Schwarz“ nur auf Englisch angebracht sei), die anderen übernehmen die Großschreibung als politisch motivierte Selbstbezeichnung zur Infragestellung der Konstruktion von Überlegenheit.
Viele der fraglichen Bezeichnungen tragen – nicht immer erkennbar – eine Geschichte von kolonialer Macht oder Gewalt mit sich, während sie gleichzeitig eine „single story“ vermitteln – und damit vereinfachen, verzerren und verharmlosen: „Single story“ ist ein Begriff der Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, den sie in ihrem TED-Talk „The danger of a single story“ am Beispiel von „Afrika” erklärt: “The single story creates stereotypes, and the problem with stereotypes is not that they are not true, but that they are incomplete. They make one story become the only story”. Von Machtverhältnissen hänge es ab, wie solche „Geschichten“ erzählt werden, und von wem. Wer spricht?
Zweisprachige Ausgaben, Nachwörter, Fußnoten und Neuübersetzungen sind Möglichkeiten, die Entscheidungen bei der Übertragung transparent zu machen und zu erläutern – oder sich zu distanzieren. Einige Verlage, aber auch Autor*innen setzen auf das sogenannte Sensitivity Reading, bei dem durch externe Personen Texte auf potenziell diskriminierende Sprache untersucht werden. Bücher und ihre Übersetzungen werden zum Teil nachbearbeitet – ein Beispiel ist die Bearbeitung von Ralph Ellisons Der unsichtbare Mann durch Hans-Christian Oeser, oder die Neuauflage von Astrid Lindgrens Pippi in Taka-Tuka-Land, für die der Oetinger Verlag den „N*könig“ zum „Südseekönig“ werden ließ.
Auf Portalen wie Tralalit, Babelwerk, macht.sprache (mit „Text-Checker“) oder in den Journalen des TOLEDO-Programms werden Entscheidungen von Literaturübersetzer*innen geteilt, diskutiert, kritisiert, überarbeitet und so transparenter und sichtbarer. Wie bei allen Künsten ist dabei die Förderung von Austausch, Vernetzung, Fortbildung und Unterstützung durch öffentliche Institutionen und Mittelgeber nötig.
Nicht alle Lösungsansätze auf dem Weg zu einer Dekolonisierung der Sprache sind einfach, elegant oder beständig. Doch statt in das wohlfeile „Was darf man denn überhaupt noch sagen?“ einzustimmen, wäre es wiederum sinnvoller zu fragen: „Wer spricht (aus den neuen Wörtern)?“ Die Änderungsvorschläge kommen in der Regel nicht „von oben“, sondern von den Communities oder Betroffenen, die bei ihrer Benennung mitreden möchten. Der sensible und bewusste Umgang mit Worten ist Voraussetzung nicht nur für verantwortungsvolle Übersetzungen, sondern generell für eine verantwortungsvolle Sprache jeder/s Einzelne*n – hin zu einer gemeinsamen Sprache, weg vom kolonialen „Barbarentum“. Übrigens: Der Begriff „Barbar“ war, bevor er als abwertende Bezeichnung für fremde Kulturen verwendet wurde, im antiken Griechenland eine Bezeichnung für Menschen, die kein Griechisch sprachen. Womit wieder die Übersetzer*innen ins Spiel kommen.