Prolog
von Ahmed Ibrahim Abushouk
„Sudan Retold“ ist in mancher Hinsicht mit dem sudanesischen Roman „Zeins Hochzeit“ vergleichbar, den sein Verfasser at-Tayyib Saleh mit Begebenheiten und Traditionen vom Land bereicherte; in anderer Hinsicht mit „Die Sehnsucht des Derwisch“ von Hammour Ziyada, einem neueren sudanesischen Roman, dessen Handlung überwiegend in der türkischen und mahdischen Periode des Sudan angesiedelt ist.In „Sudan Retold“ zeigen Künstler*innen, Zeichner*innenn, Historiker*innen und Laien durch Zeichnungen und erklärende Texte die Beziehung von Geschichte, Kunst und Literatur auf. Es geht ihnen dabei in erster Linie nicht um historische Details, sondern um ein Begreifen historischer Zusammenhänge anhand künstlerischer Darstellung. Das Buch ist dreisprachig (Arabisch, Englisch, Deutsch) und ermöglicht so einer breiten Masse an Sudan-Interessierten, durch Lesen, Sehen und Verstehen einen Einblick in die sudanesische Geschichte. Sie können mit diesem Buch einen Blick hinter den Zaun historischer Dokumente und sudanesischer Geschichtsbücher werfen.
„Sudan Retold“ beginnt mit der Steinzeit, die der Künstler AlMigdad Aldikhaiiry in vier abstrakten Gemälden darstellt, in denen die besondere Bedeutung des Nils schon für die Menschen der damaligen Zeit hervortritt. Diese jagten, hielten Vieh und betrieben Landwirtschaft, wo immer dies im Sudan möglich war.
Sara Alamin Badawi behandelt dagegen die meroitische Zeit mit einem Gemälde einer „Kandake“-Königin. Die meroitischen Herrscherinnen waren berühmt für ihre Kriegskünste, weswegen die Künstlerin ihr Werk mit „Die Superheldin Candik“ betitelt. Ihre Königin hat schwarze nubische Gesichtszüge, dicke Lippen und Zöpfe, die ihr über die Schulter hängen. Ihre Stirn, ihre Ohren, ihr Hals und ihre Glieder sind mit Goldschmuck verziert.
Die christliche Periode des Sudan ist mit sechs suggestiven Bildern der Künstlerin Dar Alnaim Mubarak vertreten, die die Stadt Faras darstellen. Die dortige Kirchenarchitektur und ihre imaginären Frauenbildnisse sind Teil des vergangenen christlichen Erbes des Sudan.
Es folgen künstlerische Bearbeitungen der islamischen Zeit, so die Charaktere aus dem ersten Sultanat von Sannar, welches die meisten ethnischen Gruppen am sudanesischen Nil unter der Herrschaft der Fundsch vereinte. Hazim Alhussain illustriert Aspekte der türkisch-ägyptischen Herrschaft über den Sudan (1821–1881) mit einem pharaonischen Bild, das auf den tyrannischen Charakter dieser Phase verweist. Malaz AbdAllah Osman und Mawadda Kamil dagegen steuern drastische Bilder von der Tötung von General Gordon 1885 vor den Kampfverbänden der Hikm-Dariya in Khartum bei. Damit ist die Phase des Mahdi (1881–1898) im Buch abgedeckt, aber noch einmal steht der Pharao sinnbildlich für die Periode des Kondominiums (1898–1956), der ägyptisch-britischen Herrschaft über den Sudan, gegen die sich ein hartnäckiger nationaler Widerstand entwickelte.
Wael Al Sanosi wirft ein Schlaglicht auf die Kämpfe des Rebellen Faqih Abdullah Al-Suheini, während Sadig Gasim Mukhayer und Yasir Faiz zwei Aquarelle zur Revolte der „Weißen Flagge“ beisteuern, deren Anführer vor Gericht gestellt wurden. Die hypothetische Frage im Beitext lautet, ob ein Sieg des damaligen Aufstandes und damit die Erlangung der Unabhängigkeit nicht die Abspaltung des Südsudan im Jahr 2011 verhindert hätte. Schließlich stammte der Anführer der Revolte Ali Abdullatif aus dem Süden, so die beiden Künstler.
Am Ende dieser historischen Zeitschiene steht der Name John Garang auf schwarzem Grund – eine Arbeit des Bildhauers Mohamed Dardiri, der die Unabhängigkeit seines Landes und alle darauffolgenden demokratischen und militärischen Regierungen selbst erlebt hat, bis der Sudan am 30. Januar 1989 von einem Militärputsch überrollt wurde. John Garang de Mobior kommt Dardiri hier in den Sinn, der Gründer der „Volksarmee zur Befreiung des Sudan unter dem Banner von Gleichheit und Gerechtigkeit“. Gleichwohl rühmte die politische Propaganda in Khartum den Krieg gegen den Süden, verherrlichte seine Märtyrer*innen, kriminalisierte die Südsudanes*innen und zeichnete ein Zerrbild von Garang. Dardiri entlarvte diese Propaganda, als er über elektronische Medien den wahren Charakter von John Garang als den eines tapferen Kämpfers kennenlernte und Zugang zu seiner nationalen Mission der Einheit fand, die er in poetischen, sprachgewaltigen Versen besang. In diesem Zusammenhang entstand Dardiris in Schwarz gehaltene Grafik als Ehrung seines ‚Helden‘ John Garang, den auch George W. Bush, der damalige Präsident der USA, in den Friedensverhandlungen von 2005 als einen ehrlichen Partner bezeichnet hatte.
Der chronologische Durchlauf von der Steinzeit bis zur Globalisierung (der ‚dritten‘ Kolonialisierung in Gestalt eines ‚neuen Pharaos‘) gestattet einen Einblick in die Vielgestaltigkeit der sudanesischen Geschichte, die den sudanesischen Charakter im Guten wie im Schlechten geformt und die verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten hervorgebracht hat. Die Regierungen seit der Unabhängigkeit waren jedoch unfähig, mit dieser Vielfalt umzugehen und sie in den Dienst einer attraktiven Einheit des Landes zu stellen. Das Ergebnis war die Abspaltung des Südsudan vom Norden im Jahr 2011.
Die zweite Dimension, der das Interesse der an diesem Buch Beteiligten gilt, schlägt sich in jenen Bildern nieder, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der sudanesischen Identität beschäftigen. Ein Zitat von Mansour Khalid fasst es zusammen: „Die Sudanes*innen sind keine Nation im anthropologischen oder genealogischen Sinn, aber politisch sind sie ein Volk, dessen Bestandteile sich in einem bestimmten geografischen Raum und historischen Rahmen vermischt haben, ohne dabei ihre Besonderheiten aufzugeben.“ Beleg dafür ist das Gemälde der Künstlerin Alaa Satir im Comic-Stil, in dem sie ebenjene Vielfalt regionaler und sprachlicher Art in Wort und Bild festhält und in dem das arabische Marhaba („Hallo“) in Dutzenden Sprachen und Dialekten daherkommt. Auch die über tausend Porträtfotografien von Ahmad Abushakeema aus allen Landesteilen des Sudan bilden diese Pluralität ab.
Die Herausgeber*innen dieses Buches verweisen auch auf die Bedeutung der sudanesischen Eisenbahn, die die britische Kolonialmacht gebaut hatte und die die kulturell unterschiedlich geprägten Landesteile enger aneinanderband. Verdeutlicht wird dies mit einer Karte der nord-südlich und ost-westlich verlaufenden Bahnstrecken des Sudan. Im Hintergrund der Landkarte erscheint ein volkstümliches Gedicht, das die Sehnsucht nach dem Reisen durch die verschiedenen Landesteile zum Ausdruck bringt. Ähnlich romantisch ist der Liebesbrief eines bahnreisenden Ehemannes an seine Frau und ihre Antwort darauf.
Nicht weniger bedeutsam als die Eisenbahn waren für die Kommunikation im Sudan die parallel dazu aufgebauten Telefonleitungen. Ein verschriftlichtes historisches Telefongespräch zeigt einerseits die Bedeutung des Telefons für die Kommunikation zwischen den Generationen, andererseits dokumentiert es einen Augenzeugenbericht von dem Angriff auf Aba Island im Jahr 1970 unter Präsident Numeiri (1969–1985).
Ein drittes Motiv in „Sudan Retold“ besteht in eingestreuten Aufnahmen von sudanesischen Frauen, die von der Fotografin Enas Ismail und ihrem Kollegen Yasir Abuagla stammen. Sie zeigen betagte Frauen aus dem Süden und dem Westen des Sudan mit leichtem künstlerischem Make-Up in ihren jeweiligen lokalen Traditionen. Sie verweisen zudem, zusätzlich zur „Superheldin Candik“, auf die Rolle von Frauen im öffentlichen Leben des Sudan. Rayan Nasir zeigt uns zudem ihre Sicht auf die weibliche Ästhetik des Sudan in einem Zeitraum von hundert Jahren (1910–2010). Die von ihr dargestellten Frauen besitzen eine natürliche Schönheit, und ihre Eleganz verbindet Vergangenheit und Gegenwart unter dem Einfluss kultureller und zeitgenössischer Faktoren.
Viertens geht es in diesem Buch auch um den sufischen Islam des Sudan, zumal in den Bildern von Idris Wad al-Arbab, Sheikh Ismail, Thair Barti Al Muslimi (Abu Daleeq) und Al Joker Sheikh Salman Zaghrat. Letzterer war in seiner Jugend dem sudanesischen Bier „Marisa“ zugetan, schwor dem Alkohol aber schließlich ab und wandte sich als Mystiker dem Volk zu. Es ist nicht zuletzt dem Sufismus zu verdanken, dass Toleranz, Bescheidenheit und Menschenfreundlichkeit ein Teil des sudanesischen Charakters sind.
Ich möchte den Herausgeber*innen und Macher*innen dieses Buches von ganzem Herzen gratulieren. Mit „Sudan Retold“ haben sie einen besonderen Beitrag zur ‚Khartumer Schule‘ geleistet, die von Ibrahim El Salahi, Ahmed Shibrain und Kamala Ishaq begründet wurde. Der vorliegende Band präsentiert bedeutsame künstlerische Arbeiten, die in besonderer Weise das Gewissen der sudanesischen Revolution ansprechen, die im Dezember 2018 begonnen hat. Es ist ein Aufstand für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung – ja für ein anderes Leben, denn die herkömmliche Lebensweise steht den Ambitionen unserer aufbegehrenden Jugend entgegen.