Deutscher Buchpreis 2023
Bildungsroman über einen Gamer

Buchpreisgewinner Tonio Schachinger präsentiert seinen Roman „Echtzeitalter”.
Tonio Schachinger gewinnt den Deutschen Buchpreis 2023 für seinen Roman „Echtzeitalter”. | Foto (Detail): © picture alliance / EPA | RONALD WITTEK

Dass Tonio Schachinger den Deutschen Buchpreis erhält, ist eine sehr gute Entscheidung. Sein Roman „Echtzeitalter” ist erzählerisch reif, unterhaltsam und voller Esprit. Ein Kommentar.

Tonio Schachingers Roman Echtzeitalter hat den Deutschen Buchpreis erhalten, und nicht nur der junge, erst 31-jährige Schriftsteller ist zu beglückwünschen, sondern auch die Jury. Sie hat ein Werk gewürdigt, das sich letztlich wenig um den Zeitgeist schert, dafür erzählerisch reif, unterhaltsam und ausnehmend humorvoll ist. Schachinger hat jenen Witz im alten Doppelsinn, der die scharfe Beobachtung, den Esprit, die gedankenreiche Paradoxie einschließt. 

Till heißt der pubertierende Held dieses fast 400-seitigen Coming-of-Age-Romans. Er besucht das österreichische Marianum, ein Elitegymnasium mit noch prächtigen, etwas aus der Zeit gefallenen Scheusalen als Lehrer. Deutsche Literatur unterrichtet Dolinar, der die Schüler mit sadistischer Lust, mit der munteren Verbreitung von Angst und Schrecken, mit elenden Strafarbeiten zur Lektüre von Klassikern anregt. Sein pädagogisches Credo: „Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.”

Zerrbild des Autoritären

Der altvertraute Konflikt zwischen Schülerinnen und Schülern, die sich für das Chaos der ersten Liebe und ansonsten vor allem für Computerspiele interessieren, und einer reaktionären Lehrerschaft wirkt auf den ersten Blick zwar etwas verbraucht, aber er hat eine Funktion: Schachinger feiert gerade im Zerrbild des Autoritären seine literarischen Bildungsroman-Vorgänger. Nichts dürfte dem Gamer Till mit seiner Vorliebe für Age of Empires zwar ferner liegen als Der Nachsommer von Adalbert Stifter. Schachinger hingegen weiß sehr genau, dass er sich mit seinem referenzfreudigen Werk in die bürgerliche Literaturtradition einschreibt. 

Das Computerspielen des Heranwachsenden ist jener Rückzugsort, den einst die Literatur bereitstellte, in seinem glühenden Kern handelt Echtzeitalter aber von der guten alten Herzensbildung: von Lebensprüfungen wie der Konfrontation mit dem Sterben des Vaters, von der ersten schrecklich-schönen Liebe, die in ordentliche Bahnen gelenkt werden muss, vom Verhältnis zur Mutter, das von lustig-traurigen Missverständnissen geprägt ist. Der Junge wächst in eine Erwachsenenwelt hinein, die noch mit Befremden beschaut wird, aber er lernt hinzu: „Alle Menschen müssen irgendwann Urlaub machen, alle Katzen bekommen irgendwann eine Augeninfektion, und alle Menschen schlafen offenbar irgendwann mit ihren Arbeitskollegen.” Dass der Roman zuversichtlich endet, überrascht vielleicht am meisten, dies widerspricht ein wenig den Erwartungen an zeitgenössische Literatur, die ja so häufig möglichst krass und irgendwie echt sein will, aber es entspricht voll und ganz der Gattung, die Schachinger wieder aufleben lässt.

Im Frühjahr traf ich den Schriftsteller in Wien, um ihn für das Literaturmagazin der ZEIT zu porträtieren. Wir sprachen ein wenig über Humor, der doch innerhalb des deutschsprachigen Raums vor allem in Österreich beheimatet sei, und Schachinger stimmte sehr fröhlich ein: „In Österreich gibt es natürlich wahnsinnig lustige Leute, dafür sind die alle inkompetent.” Wenn das stimmt, dann wäre Tonio Schachinger eine große Ausnahme.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman
Hamburg: Rowohlt, 2023. 368 S.
ISBN: 978-3-498-00317-3
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