Lexika
Erinnerungen an den Brockhaus
Wer der heute über 40-Jährigen kann sich nicht mehr an die schweren Buchbände im elterlichen Bücherregal erinnern: Lexika wie der „Brockhaus“ waren der Inbegriff von Bildung und Wissen schlechthin – bis das Internet und Wikipedia das Ende einer Ära einläuteten.
Von Matthias Bischoff
Mein Großvater liebte Kreuzworträtsel. Er selbst hatte nur die TV-Zeitschrift Hörzu abonniert, aber alle, die von seiner Leidenschaft wussten, brachten ihm ausgelesene Zeitschriften mit oder trennten die Rätselseiten fein säuberlich aus den Heften. Und ich freute mich auf die Ferien, wenn wir zusammen auf dem Sofa saßen, auf dem Tisch vor uns ein Atlas und natürlich ein Lexikon.
Mein Großvater war Automechaniker, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, ein mehrbändiges Lexikon ins Regal zu stellen. Seine Bücher, darunter auch ein dickes, einbändiges Nachschlagewerk mit schwarz-weißen Abbildungen, war namenlos und stammte wie fast die gesamte sehr überschaubare Bibliothek meiner Großeltern vom Buchclub, in dem sie wie Millionen Deutsche in den 1950er- und 1960er-Jahren Mitglied waren und vierteljährlich ein Buch erhielten, meist Bestseller zu einem günstigen Preis. Das einbändige Nachschlagewerk stand abgegriffen und mit einem Plastikschoner versehen noch immer im Regal, als die Wohnung nach dem Tod meines Großvaters aufgelöst wurde.
Damit sich die Wissensbegierigen auch eine bildliche Vorstellung machen konnten, war der Brockhaus voll von anschaulichen Illustrationen. Hier eine Abbildung eines Krokodils aus der Ausgabe von 1908.
| Foto (Detail): © picture alliance/imageBROKE/Karl F. Schöfmann
„Schlag doch mal im Brockhaus nach!“
Es gab wohl kaum einen Haushalt in Deutschland, in dem es nicht wenigstens ein Lexikon gab – neben der Bibel, die auch bei kaum jemandem fehlte. Ein mehrbändiges Lexikon besaßen nicht viele, und wer fünf, zehn oder gar zwanzig gewichtige Bände im Wohnzimmer stehen hatte, wies sich damit als Bildungsbürger*in aus, zumeist Akademiker*in, gewiss auch manche Neureiche. Bei einem Schulfreund, der im freistehenden Einfamilienhaus aufwuchs, sah ich meinen ersten „Brockhaus“. Er stand im Teak-Bücherschrank neben dem Klavier, und wenn ich nachmittags zum Spielen kam, lag wie selbstverständlich so ein Wälzer auf dem Tisch neben den Hausaufgaben.
Zum Brockhaus sagte man nicht einfach „Lexikon“. Alle anderen Nachschlagewerke wurden so bezeichnet, niemand sagte „schlag doch mal im Knaurs nach!“ oder „das steht bestimmt im Mayer“. Aber ähnlich wie „der Duden“ galt „der Brockhaus“ als Referenz, war nicht einfach nur ein Lexikon, sondern DAS Lexikon, quasi der Mercedes unter den Enzyklopädien. Er war das deutsche Pendant zu den großen Enzyklopädien der europäischen Nachbarn. Die französische Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers gilt als Ursprung des enzyklopädischen Gedankens. Ihre 35 Bände erschienen unter der Herausgeberschaft von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert zwischen 1751 und 1780. Die rund 70.000 Artikel wurden von den führenden Gelehrten der Zeit verfasst. Auch der einige Jahre später erschienenen Encyclopædia Britannica (ab 1768) liegt die Überzeugung des Zeitalters der Aufklärung zugrunde, das gesamte menschliche Wissen sei in möglichst großer Breite zusammengefasst und für jeden verständlich darstellbar. Bis in die frühen Jahre des 21. Jahrhunderts galt die Britannica in der gesamten englischsprachigen Welt als Grundpfeiler des Wissens – und der Werbespruch „When in doubt, look it up. The sum of human knowledge“ (zu Deutsch etwa: „Im Zweifelsfall schau es nach. Das gesamte Wissen der Menschheit.“) wurde von niemandem angezweifelt.
Das Weltwissen im Regal
Sein Name ist in aller Munde, aber wie sah er eigentlich aus, der Vater aller Lexika? Gestatten: Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823). | Foto (Detail): © picture alliance / akg-images Im deutschen Sprachraum war es zunächst das von Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke herausgegebene Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten, das die Enzyklopädie-Idee umsetzte, seine sechs Bände erschienen zwischen 1796 und 1806. 1808 trat dann aber Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) auf den Plan, der auf der Leipziger Buchmesse das Verlagsrecht und die Vorräte des Löbel-Franke-Lexikons aufkaufte und weitere Bände in Auftrag gab. Bis 1811 gelang es Brockhaus, die nur 2.000 Exemplare der ersten Auflage des Konversationslexikons zu verkaufen. Als F. A. Brockhaus 1823 starb, hatte er nicht nur zahlreiche Universitätsprofessoren als inhaltliche Zulieferer gewonnen, sondern auch das Geschäftsmodell andauernder Supplement-Bände etabliert. Denn womit die ersten Enzyklopädisten nicht gerechnet hatten, war die explosionsartige Entwicklung der Wissenschaften. Das Lexikon, das einen Ist-Zustand abbilden sollte, bedurfte der andauernden Überarbeitung. Viele Artikel mussten deshalb von Auflage zu Auflage neu geschrieben, umgeschrieben oder revidiert werden. In allen europäischen Ländern entstanden Fachverlage, die das gebündelte Wissen und seine Verbreitung in Buchform zur Geschäftsgrundlage machten. Wichtigste Voraussetzung für den Verkaufserfolg war das absolute Vertrauen in die Korrektheit der Informationen. „Der Brockhaus“, wie das maßgebliche deutsche Nachschlagewerk seit der 17. Auflage kurz genannt wurde, stand genau für diese Seriosität. Jede*r, der sich die Investition in die vielen Bände leistete, konnte dies mit dem guten Gefühl tun, für viele Jahre, ja ein ganzes Leben das verfügbare Weltwissen im Regal stehen zu haben.
Das Ende einer Ära
Mein erstes Lexikon bekam ich, wie viele andere in den 1950er- und 1960er-Jahren Geborenen, zur Konfirmation. Natürlich kamen die zehn in Kunstleder gebundenen Bände nicht von Brockhaus, trotzdem war ich stolz darauf und stellte sie ganz oben ins Regal. Nun gehörte ich, als erster Gymnasiast in der Familie, schon fast zur bildungsbürgerlichen Welt. Das Lexikon war neben dem Duden notwendiges Nachschlagewerk für zahlreiche Referate und Hausarbeiten, zugleich war es aber auch ein Symbol für gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung, an den der große Teil der nicht-akademischen Bevölkerung fest glaubte. Noch 1980 machten nur 17 Prozent eines Jahrgangs das Abitur.
Der Brockhaus auf dem Weg in ein neues Zeitalter: 1985 war das Nachschlagewerk erstmals auch als CD-ROM zu erhalten.
| Foto (Detail): © picture alliance/Wolfgang Weihs
Nie hätte ich geglaubt, dass ein halbes Menschenleben später von dieser festgefügten Welt nichts mehr übrig sein würde. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaufte ich mir Nachschlagewerke auf CD-ROM, die ich im Schuber ins Regal stellte. Wissen sollte man anfassen können, es war nicht fluide, auch wenn selbst mir klar war, dass mittlerweile der Zeitraum, in dem ein Lexikon veraltete, lächerlich kurz war. Und dann gab es da ein neues Wissensmedium namens Wikipedia, das alle Bücher unnötig macht und das enzyklopädische Ideal im digitalen Zeitalter fortsetzt. Es existiert lediglich online, wird von einer großen Community getragen und permanent fortentwickelt. Liest man dort einen Artikel, findet man den Hinweis über die letzte Überarbeitung, oft liegt sie nur ein paar Wochen oder Monate zurück.
Gut 200 Jahre lang währte die Epoche der Enzyklopädien auf Papier. Sie haben für Millionen Menschen den Horizont erweitert, sie haben Maßstäbe gesetzt und den abendländischen Glaubensspruch „Wissen ist Macht“ manifestiert. Sie waren das kiloschwere Symbol einer an Bildung durch Bücher glaubenden Gesellschaft, und dadurch natürlich immer auch ein wenig Statussymbol. Am 30. Juni 2014 wurde der Vertrieb der gedruckten Brockhaus-Enzyklopädie eingestellt, die letzte Druckversion der Encyclopædia Britannica erschien bereits 2010.