Gegen die Wand
Wild, rau und voller Drama
Man kann diesen Film lieben oder hassen, für etwas dazwischen ist kaum Platz. Das Liebesdrama von Fatih Akin zeigt schonungslos ehrlich den kulturellen Zwiespalt zweier Deutschtürken.
Von Julia Deshkin
Sibel (Sibel Kekilli) und Cahit (Birol Ünel) begegnen sich nach ihren gescheiterten Selbstmordversuchen in der Psychiatrie. Er, ein verbitterter Alkoholiker, der keinen Sinn mehr im Leben sieht, fährt eines Nachts mit dem Auto ungebremst gegen eine Wand. Sie hat sich aus Verzweiflung die Pulsadern aufgeschnitten, weil ihre türkische Familie sie nicht das Leben leben lässt, das sie will. Sibel überredet Cahit dazu, mit ihr eine Scheinehe einzugehen, damit ihre Familie Ruhe gibt und sie sich endlich austoben kann. Als sich zwischen den beiden doch so etwas wie Liebe anbahnt, nimmt die Geschichte eine folgenschwere Wendung.
Gegen die Wand sorgte 2004 in Deutschland für Gesprächsstoff, und das gleich auf mehreren Ebenen. Die derben Sprüche, die unverblümte Gewalt und Sex-szenen, bei denen nichts ausgelassen wird, sind das eine. Das andere, wesentlich heiklere Thema, ist die Tatsache, dass Regisseur Fatih Akin in diesem preisgekrönten Streifen schonungslos ehrlich die kulturelle Zerrissenheit von Deutschtürken darstellt. Etwas, das es bis dato in der deutschen Filmwelt in der Form nicht gegeben hat. Doch was genau ist damit gemeint – kulturelle Zerrissenheit? Schon die Dialoge der Schauspieler sind eine Mischung aus Deutsch und Türkisch. Die Protagonisten bewegen sich wie selbstverständlich zwischen zwei Sprachen, Kulturen, ja eigentlich Welten, die mit einander verschmelzen, obwohl sie doch so unterschiedlich sind. Ähnlich wie die Leben der beiden Hauptdarsteller, die trotz ihrer gleichen Herkunft kaum unterschiedlicher sein könnten.
Zwei Welten, eine Geschichte
Sibel und Cahit sind als Kinder von türkischen Gastarbeitern in einer recht weltoffenen Gesellschaft in Deutschland aufgewachsen. Während Cahit mit seinen türkischen Wurzeln nichts mehr am Hut hat, wurde Sibel traditionell türkisch erzogen. Sie respektiert ihre Familie, doch ihr Durst nach Freiheit und Selbstbestimmtheit ist so groß, dass sie zu allem bereit ist. Ihr Vater hätte sich zwar eine bessere Partie für seine Tochter gewünscht, doch immerhin ist Cahit Türke, also willigt er in die Ehe ein. Für Sibel beginnt endlich das Leben, nach dem sie sich so lange gesehnt hat: Sie lässt sich den Bauchnabel piercen, tanzt die Nächte durch und schläft mit Männern, die ihr gefallen. Cahit, der von einem Tag in den anderen gelebt und sich um nichts und niemanden gekümmert hat, lässt sich von Sibels Lebenslust, wenn auch nur unterbewusst, anstecken und verliebt sich in sie.Konsequenzen nach dem Film
Als ihre Scheinehe durch einen tragischen Unfall auffliegt, muss Sibel fliehen. Ihr Bruder, der ihr einst die Nase gebrochen hat, nur weil sie mit einem Jungen Händchen gehalten hat, jagt ihr wutentbrannt die Straße hinterher. Sie hat mit ihren öffentlich gewordenen Affären die Familienehre, die in traditionellen türkischen Familien einen hohen Stellenwert hat, beschmutzt – Sibel ist klar, dass ihr Vater sie verstoßen hat und sie nicht mehr zurück kann.Sibel Kekilli, die Schauspielerin, die Sibel verkörpert, ist selbst die Tochter von türkischen Einwanderern, die mit rund 1,48 Millionen Menschen in Deutschland die größte Migrantengruppe bilden. In späteren Interviews verriet sie, dass sie wegen ihrer Rolle in Gegen die Wand vor allem von ihren Landsleuten übel beschimpft und sogar bedroht worden ist.
Fatih Akin erklärte einst, dass er beim Schreiben von Gegen die Wand drei Blickwinkel bedienen wollte: den deutschen, den deutsch-türkischen und den türkischen. Vielleicht ist gerade dieser breite Blickwinkel, der alle Zuschauer in irgendeiner Weise emotional berührt, das Erfolgsgeheimnis des Films. Bei der Berlinale 2004, einem der wichtigsten Filmfestivals neben Cannes und Venedig, wurde Gegen die Wand mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Es war damals der erste deutsche Film nach 18 Jahren, der die Auszeichnung gewonnen hat.
autorin
© Julia Deshkin Julia Deshkin hat als Redakteurin für verschiedene Tageszeitungen in Deutschland gearbeitet. Ihr journalistisches Engagement für die Umweltinitiative „Filme für die Erde“ hat ihr Interesse an Filmen abseits des Mainstreams geweckt.